Joseph Roth: "Die Kapuzinergruft"


Dieser Roman stellt gleichsam die Fortsetzung von dem als Roths Hauptwerk geltenden Roman "Radetzkymarsch" dar. Wieder steht die Familie Trotta im Vordergrund, diesmal ein Franz Ferdinand von Trotta, ein Großneffe des Helden von Solferino (bei jener Schlacht dem jungen Kaiser Franz Joseph das Leben rettend), der rückblickend sein Leben erzählt, beginnend mit den letzten Monaten der seligen k. und k. Monarchie und endend mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1938. Auch wenn Roth zu diesem Zeitpunkt sein baldiges Ende vielleicht noch nicht ahnte, handelt es sich ziemlich exakt um seine eigenen Lebensdaten, und in der Tat hat der Autor vieles von seinen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen in die Figur des Helden, der überdies in der ersten Person erzählt, gelegt. Dass er, der jüdische Journalist, dabei in die Rolle eines Aristokraten und Habsburggünstlings schlüpfte, hat ihn sichtlich inspiriert, indem es ihm Anlass zu Perspektivenwechseln gab und er einige Gemeinsamkeiten mit der aristokratischen Jugend, sofern sie nur über etwas Geld und viel Zeit verfügte, entdeckte. Mit Wohlwollen, aber Schonungslosigkeit wird zunächst ein Sitten- und Stimmungsbild dieser Jugend, der auch Trotta angehört, gezeichnet, ein Bild von jungen Männern, die wenig bis nichts arbeiteten, den Vormittag verschliefen, ihre Zeit vorwiegend in Kaffeehäusern (und niemals in Kirchen, welche gänzlich unmodern geworden waren) zubrachten, ein stark neurotisches Verhältnis zu Frauen und zum Körperlichen an sich hatten, ziemlich arrogant und gelangweilt, kurz, als Teil dekadenter waren, als man es dieser historischen Endfase insgesamt wohl zurecht nachsagt. "Der Tod kreuzte schon seine knochigen Hände über den Kelchen, aus denen wir tranken" lautet eine mehrmalige Formulierung, allein die wenigsten bemerken es, der Großteil der Soldaten rückt in jenem Sommer 1914 ein, als gelte es, eine Feldübung zu absolvieren. In der berühmt-berüchtigten 1. Weltkriegseuforie der meisten Wiener, die von Karl Kraus in so grausamer Komik verewigt wurde, sieht Roth vor allem das Leichtfertige und Verwöhnte. Dass Trotta die Euforie seiner Kameraden nicht teilt, hat er nicht zuletzt zweien seiner Freunde abseits von der Wiener Schickeria zu verdanken, durch den Umgang mit welchen sich der Held ein bisschen Erdennähe zurückgewonnen hat: seinem Vetter aus dem nichtgeadelten slowenischen Trotta-Zweig Branco Trotta und einem jüdischen Fiaker aus Galizien. Zwar weiß Franz Ferdinand noch immer nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll, doch beantragt er seine Versetzung an die russische Front um, wenn schon, mit seinen Freunden niederer Herkunft und nicht "mit Walzertänzern" zu fallen. Und eine weitere, allerdings deutlich konventionellere Entscheidung wird durch die Nähe des Todes und die solchermaßen begünstigte Beschränkung auf das Wesentliche bewirkt - Trotta heiratet kurz vor seinem Aufbruch an die Front noch schnell seine Herzensdame, die Tochter eines Industriellen. Und das Leben meint es gut mit Trotta, er gerät bald in russische Kriegsgefangenschaft, verbringt den gesamten Krieg in Sibirien, um exakt am Weihnachtsabend des Jahres 1918 nach Wien zurückzukehren.

War der Ton bisher ein durchaus kritischer, von der Beschreibung sozialer Grenzen überschreitender Freundschaften und einem allgemeinen Lob der österreichisch-ungarisch-slawisch-usw. Vielfalt abgesehen, wird nun klar, was dem Schriftsteller Joseph Roth den Vorwurf der Habsburg-Nostalgie eingebracht hat. Die Erste Republik ist ihm, oder vielmehr seinem Helden nämlich vom ersten Augenblick an zuwider, sodass die Zeit der Monarchie allein durch diesen Kontrast in einem viel freundlicheren Licht erscheint. Die Adelstitel sind abgeschafft, Geld regiert die Welt schlimmer als zuvor, während es gleichzeitig immer weniger wert wird, und der Verfall alter kultureller Werte ist erschreckend. Der heimgekehrte Trotta findet sich in diesem veränderten Wien nicht mehr zurecht, versucht es auch bald gar nicht mehr. In seiner Hoffnungslosigkeit versteigt er sich zu der Aussage, dass aus den Gebeinen seiner gefallenen Kameraden im nächsten Frühling Veilchen wachsen würden, während er und seinesgleichen sogar vom Tod verschmäht worden sind, und tatsächlich muss man sagen, dass das Kind, das er seiner unter die Lesben gegangenen Frau dennoch macht, seine außergewöhnlichste Leistung in der Ersten Republik bedeutet. Die meiste Zeit diskutiert er mit Leidensgefährten, wer Schuld trage an dem Untergang ihrer Welt, und über die Fehler und Unterlassungen des deutschen Staatsvolks fällt manch hartes Wort, wobei er sich für den Ausdruck "Saupreuß", der dem sonst so auf feine Sitten haltenden Trotta einmal entfährt, gleich entschuldigt, dies aber bei seinen Ausfällen gegen Suddetendeutsche und Alpenbewohner, wohl in der Meinung, gegen Landsleute könne man sich mehr herausnehmen, nicht tut. Daneben beobachtet er mit immer skeptischerem Auge die politischen Veränderungen. Den Sozialdemokraten wirft er vor, Österreich zum Bestandteil der deutschen Republik machen zu wollen, warnt angesichts des Kommunismus vor einer Diktatur der absoluten Gerechtigkeit, die Klerikalen beschuldigt er, aus Österreich, welches eigentlich eine Übernation (multinational) sei, eine Nation machen zu wollen (über Dollfuß meint er, es liege in seiner Natur, sich selbst zu begraben), und zu den Nazis sagt er gar nichts, bloß dass er gegen Ende des Romans eine Uniform der neuen Volksregierung zuerst für die eines Klomannes hält, wie überhaupt seine vernichtende Kritik immer in erster Linie eine ästhetisch-kulturelle ist. Abgesehen vom Beobachten und Beurteilen aber verharrt Trotta in völliger Passivität, ein Stilmittel, welches den ungetrübten Blick in die Vergangenheit ermöglichen soll, während die Zukunft von einem noch unbeschriebenen Blatt, dem neugeborenen Sohn verkörpert wird. Denn Joseph Roths Rückwärtsgewandtheit entspringt keinem abgrundtiefen Pessimismus, vielmehr soll sein selbstgesponnener Ariadnefaden in die Vergangenheit dazu dienen, dort das Material für einen Neubeginn oder zumindest eine Erneuerung, sei es im Verwerfen von zu Unrecht Übernommenem, sei es im Entdecken von zu Unrecht Verworfenem, zu finden. Was letzteres betrifft, ist Roth gar nicht weit entfernt von den Passagen über die Modernität Kakaniens in "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil, und damit wären denn abschließend Problematiken angedeutet, die uns auch in der Europäischen Union begleiten bzw. einholen werden.

(fritz; 01/2004)


Joseph Roth: "Die Kapuzinergruft"
DTV 2003
186 Seiten
ca. EUR 8,00.
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