Christian Dickinger: "Franz Joseph I."
Die Entmythisierung

"Ich sehe die schiefe Ebene, auf der wir abwärts gleiten, stehe den Dingen sehr nahe, kann aber in keiner Weise etwas thun, darf nicht einmal laut reden, das sagen, was ich fühle und glaube. Unser Kaiser hat keinen Freund, Sein Charakter, Sein Wesen lassen dies nicht zu. Er steht verlassen auf Seiner Höhe, mit Seinen Dienern spricht Er über die Berufsgeschäfte jedes Einzelnen, doch ein Gespräch vermeidet er ängstlich, darum weiß Er wenig über das Denken und fühlen der Leute, über die Ansichten und Meinungen des Volkes ... Er glaubt, wir sind jetzt in einer der glücklichsten Epochen Österreichs, offiziell sagt man es Ihm, in den Zeitungen liest Er nur die roth bezeichneten Stellen, und so ist Er getrennt von jedem rein menschlichen Verkehr, von jedem unpartheiischen, wirklich gesinnungstüchtigen Ratschlag."

(1881; aus einer Klage des 23-jährigen Kronprinzen Rudolf über seinen der Wirklichkeit entfremdeten kaiserlichen Vater Franz Joseph)


Jahr für Jahr pilgert eine Schar unverdrossener Habsburgnostalgiker zwecks Abhaltung feierlicher Huldigungsrituale an die Person des längst verblichenen Imperators zur Kaiservilla nach Bad Ischl, wo jener so inbrünstig gehuldigte Kaiser Franz Joseph I. über dreiundachtzig Jahre lang seine Sommerresidenz hatte. Von diesem herrschaftlichen Sommersitz ausgehend zog der Hocharistokrat eine Blutspur durch den eigens für seine Jagdleidenschaft hoch gehaltenen Wildbestand des Umlands, womit auch schon der Kosmos seiner menschlichen Leidenschaften zur Gänze abgehandelt wäre, denn als Privatmensch war der Kaiser gar kümmerlich geartet, eigentlich kaum existent.

Franz Joseph erlegte so "zum Zeitvertreib" im Laufe seines langen Lebens (18.8.1830 - 21.11.1916) rund 55.000 Stück Wild, was den Verdacht nahe legt, dass dem Schießwütigen seine armen Opfer geradezu vor die Flinte getrieben wurden. Doch war diese "Massenschießerei" für hochwohlgeborene Mitglieder des Hauses Habsburg nicht gerade unüblich, und Franz Joseph tat folglich nichts Anderes, als eben seinem hohen Stande entsprach und - so meinte man - geziemte. So brachte es - um einen familieninternen Vergleich zu ziehen - Erzherzog Franz Ferdinand in seiner wesentlich kürzeren Lebensspanne (1863-1914) auf weit über 270.000 Stück erlegtes Wild.
(Allein am Hubertustag 1911 erle(di)gte der Thronfolger 1.200 Tiere!)

Wie schon angemerkt, war die Kaiservilla beliebtester Ausgangspunkt für diese sonderbare waidmännische Auffassung von männlichen Angehörigen der Habsburgerfamilie, was freilich die Freunde des Hauses Habsburg in unseren Tagen nicht davon abhält, ausgerechnet in und um Bad Ischl einem wahrlich schon peinigenden Kaiserkult zu frönen. Für diese unverbesserlichen Knechte einer sklavischen Gesinnung hat Christian Dickinger sein jüngstes Habsburg-Buch nun wohl ganz gewiss nicht geschrieben, denn der Autor, welcher schon mit seinen Büchern "Habsburgs schwarze Schafe" und "Ha-Ha-Habsburg" der ehemaligen Herrscherfamilie wenig Respekt zollte, nimmt sich auch diesmal kein Blatt vor den Mund und geht mit der eingebildeten biologischen Elite von Gottes Gnaden hart ins Gericht.

Eine Fülle penibel recherchierter historischer Befunde zeichnet das beschämende Bild eines entmenschten Herrschers, der, besessen von dynastischem Prestigedenken, sein Volk in ebenso aussichtslose wie sinnlose - doch um so verlustreichere - Kriege gegen Preußen und Frankreich hetzte, dessen blindwütige Balkanpolitik zu einer unversöhnlichen Feindschaft mit dem im Sinne des Panslawinismus agierenden zaristischen Russland führte und welcher seiner weit verzweigten Familie als gestrenger Patriarch vorstand, was für deren Angehörige vor allem dynastische Disziplinierung bedeutete. Die gnadenlose Rigorosität des habsburgerischen "Hausgesetzes" sollte schließlich die Begabtesten unter den Habsburgern zum Austritt aus dem Erzhaus bewegen. So erklärte Erzherzog Johann Salvator (Johann Orth) im Oktober 1889 brieflich seinen Austritt, da er zu stolz wäre "um als bezahlter Nichtstuer" und "fürstlicher Müßiggänger" zu leben. 1902 folgte Erzherzog Leopold Ferdinand Salvator (Leopold Wölfling) dem Vorbild seines Onkels, ehelichte wenige Jahre später eine ehemalige Prostituierte und brachte sein bürgerliches Berufsleben u. a. als Gemischtwarenhändler, Inserateneintreiber und Würstelverkäufer zu.

Für Franz Joseph handelte es sich bei den beiden Familiendissidenten um Schandmale, die für ihn ab dem Zeitpunkt ihrer Verabschiedung nicht mehr unter den Lebenden weilten. Von besonderer Dünkelhaftigkeit zeugt schließlich der jede Pietät vermissende Umgang mit den Leichnamen der beiden Opfer des Attentats von Sarajevo (1914), nämlich den sterblichen Überresten des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Ehegattin, der Gräfin Sophie Chotek (ab 1909 Herzogin von Hohenburg), welche nach Meinung der Kaiserfamilie, wegen ihres doch noch immer allzu minderen Adels, eines Habsburgers nicht würdig war. Die verschämte Inszenierung der Bestattung eines unwürdigen Weibes gleichzeitig mit ihrem Habsburgergatten verkam zur billigen Schmierenkomödie und zeigte einmal mehr, welch kläglicher Ungeist in der Wiener Hofburg herrschte.

Herzlos gegenüber innerfamiliären Verhaltensabweichungen scheiterte der Monarch auch in der intimsten seiner zwischenmenschlichen Beziehungen, nämlich in jener zu seiner Frau, der Kaiserin Elisabeth. Jene Frau, deren anhaltende Popularität bei eingehender Betrachtung ihrer Person unbegreiflich bleiben muss, versuchte sich ihr Lebtag lang als dilettierende Verfasserin von nicht wirklich beachtenswerten Versen und machte es dem eher hölzernen Ehegatten mit ihrem ausgeprägt egozentrischen Gehaben gewiss nicht einfach, einen Zugang zu ihrem vermeintlich frigiden, doch jedenfalls ausgeprägt asexuellen Gemüt zu finden. Er, der erste Bürokrat seines Reiches, zwanghaft pflichtbewusst, und sie, ein weltentrücktes exzentrisches Wesen, welches fern aller höfischer Verpflichtungen das vom eigenen Ich besessene Leben eines Luxusgeschöpfs der Sonderklasse führte, diese doch so Ungleichen hatten nun rein gar nichts gemeinsam, obgleich Franz Joseph über lange Jahre hinweg - zumindest seinem geschriebenem Worte nach - eine aufrichtige Liebe zu seiner schönen Gemahlin zu empfinden meinte, die auszuleben ihm jedoch nicht gestattet schien.

Um die Rolle des Kaisers auszufüllen war dieser Monarch letztlich zu jedem Opfer bereit. Dabei ahnte er schon den nahenden Untergang seiner feudalen Weltordnung, die im längst zur Entfaltung gebrachten Hochkapitalismus kaum noch mehr als ein Relikt aus ferner Vergangenheit war. Schon hatte das demokratische Prinzip seinen absoluten Herrschaftsanspruch auf die tendenzielle Repräsentativrolle einer konstitutionellen Monarchie zurechtgestutzt, doch reagierte der alternde Kaiser - immer noch mit erheblichen Machtbefugnissen ausgestattet - auf die Erosion seiner herrschaftlichen Macht mit apokalyptischer Inbrunst, die Schlimmes erahnen ließ: "Wenn die Monarchie schon untergehen soll, so soll sie wenigstens anständig zu Grunde gehen." Oder: "Wenn wir zu Grunde gehen sollen, wollen wir wenigstens mit Ehren untergehen." Für die Wahrung dieses Ehrbegriffs wurden Millionen so genannter einfacher Menschen mit in den Abgrund gerissen, resümiert Dickinger in trockener Manier. Und was soll man auch noch mehr dazu sagen? Man zeige sich unangenehm berührt und schweige ansonsten zu dieser unfassbaren Anmaßung hoheitlicher Entscheidungswillkür über das Schicksal anvertrauter Menschenmassen, die für einen mehr als zweifelhaften Ehrbegriff ihr Leben auf dem so genannten "Feld der Ehre" lassen durften.

Christian Dickinger schrieb mit diesem Buch über die allzu geheiligte Person des tatsächlich kaum heiligen und schon gar nicht herausragend begabten Kaisers keine herkömmliche Biografie im landläufigen Sinne, sondern eine nach Betrachtungsschwerpunkten untergliederte essayistische Erhellung des Mythos Franz Joseph I., die ob ihrer sachlichen Fundierung glaubwürdig wirkt und als scharfe Kritik dynastischer Egozentrik ganz gewiss nicht den Geist der Polarisierung scheut. Den eingangs erwähnten Habsburgnostalgikern wäre wohl ausgerechnet dieses Schriftwerk zur Lektüre zu empfehlen, um ein wenig Licht in ihr von historischem Unwissen verhangenes Dunkel zu bringen. Allein, diese werden jede sich bietende Irritation ihres bis dato schon unreflektierten Gedenkkultes weiterhin strikt meiden, und so bleibt es dem an kritischer Historie interessierten republikanisch gesinnten Bürger überlassen, sich am eloquenten und rotzfrechen Stil des noch jugendlich unbekümmerten Autors Christian Dickinger zu ergötzen.

(Tasso; 11/2002)


Christian Dickinger: "Franz Joseph I.
Die Entmythisierung"
Ueberreuter, 2002. 224 Seiten.
ISBN 3-8000-3858-7.
ca. EUR 21,90.
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