Wolfram Siebeck: "Die Kaffeehäuser von Wien"

Eine Melange aus Mythos und Schmäh


"Wahrlich:
Wer Genügen kennt am Genügenden
wird ständig genug haben."
(Lao-tse; aus dem Tao-Tê -King)

Ein weiterer Streich Wolfram Siebecks in Buchform (zuvor verarztete er die Wiener Beisln)

Wiener Kaffeehäuser bieten in gleichem Ausmaß Raum und Intimität, die Möglichkeit, in Gesellschaft für sich zu sein, teilzunehmen oder sich zurückzuziehen. Die Atmosphäre lebt von/mit der Illusion der Zeitlosigkeit: Ob originalgetreu erhalten, vorgetäuscht schmutzig oder von künstlicher Trostlosigkeit geprägt; mit der mitunter etwas übersteigert und geziert wirkenden Distanziertheit eines "Außerwienerischen" saß der berufsmäßige Testesser aus deutschen Landen im Jahr der "Schwarze-Witwen-Morde" unter Aufbietung all seiner Abwehrkräfte in Wiener Kaffeehäusern, scheute dabei offenbar weder Kosten noch Mühen und las stapelweise lokale Printmedien, aus denen denn auch wiederholt zitiert wird (Motto: "Fang den Schmäh!"). Die so gewonnenen Erkenntnisse liegen seit 1996 in Gestalt des hier besprochenen Buchs vor; eine Aktualisierung wäre mittlerweile angeraten.

Dass ein hypersensibler Profiverkoster sich bisweilen höchst missvergnügt über (vermeintlich) typische Wiener Um- und Zustände auslässt, uns dennoch fortgesetzt seiner Zuneigung versichert, dass sich ebendieser Restaurantkritiker (von Forschergeist beseelt?) den Strapazen einer Expedition durch 36 Kaffeehäuser aussetzt und dabei noch die Anstrengung auf sich nimmt, seine Beobachtungen in 36 fingierten Briefen an eine ebensolche "verehrte Freundin" zu Papier zu bringen, ist  - ja, was ist es? Amüsant, informativ, tourismusfördernd? Vielleicht.
Herr Siebeck beschreibt also sechsunddreißigmal Lage, Ausstattung und Publikum in "Die Kaffeehäuser von Wien", darüberhinaus bietet das Buch: Ein Vorwort, eine knappe Darstellung der Geschichte der Kaffeehäuser, einen Stadtplan, auf dem in bewährter Schatzkarten-Manier die 36 thematisierten Lokale eingezeichnet sind, Bewertungen für das jeweilige gastronomische Angebot sowie die Quantität der angebotenen Zeitungen, einen Epilog (überraschender Tenor: Wehmütige Sehnsucht nach Wien!?) und ein Begriffslexikon, das lokale Bedeutungen von "Billard" über "Hangerl" bis "Tschecherl" und "Zuträger" erläutert.

Dass Rot und Schwarz, fahles Licht aus seltsam anmutenden Beleuchtungskörpern, speisewagenartig angeordnete Tische-Bänke-Ensembles nebst Kleiderständern und Zeitungshaltern gemeinhin die Optik von Kaffeehäusern bestimmen, ist in/an Wien so besonders nicht. Dass ein triebhaft Suchender sich nur im Ausnahmefall gestattet, seine kostbare Gegenwart als solche wahrzunehmen, ist allein dessen Problem. Dass man sich, eine gehörige Portion Anstrengung vorausgesetzt, überall fremd fühlen kann, ebenfalls. Das Dasein als Restaurantkritiker: Ein hartes Los? Möglicherweise. Linderung widerfuhr Herrn Siebeck jedenfalls in Gestalt zahlreicher Kaffeevariationen!

Gesamtbeurteilung: Brauchbarer Kaffeehausführer.

(Felix Grabuschnig; 05/2001)


Wolfram Siebeck: " Die Kaffeehäuser von Wien. Eine Melange aus Mythos und Schmäh"
Wilhelm Heyne Verlag, 1996. 240 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen