Herbert Kraft: "Musil"
"Handle,
so gut du kannst und so schlecht du musst, und bleibe dir dabei der
Fehlergrenzen deines Handelns bewusst!"(Dr. Robert Edler von Musil; Imperativ)
Es wäre unvermessen zu
behaupten, Herbert Kraft hätte einfach nur eine Biografie
schreiben wollen. Und er hat es auch nicht getan. Wer sich eine
übersichtlich strukturierte und bis ins intimste Detail
untergliederte Einführung in Leben und Werk des
großen österreichischen Schriftstellers, Robert
Musil (1880 bis 1942), erwartet, wird in seiner Erwartung
enttäuscht sein. Kraft ist wohl nicht der Mann, dem es beliebt,
irgendwo aufgestöberte Faktenhaufen sklavisch auseinanderzuklauben, um daraus ein praktisches Nachschlagwerk zur
alltäglichen Handhabe zu fabrizieren.
Eines von vielen zudem,
deren Vielzahl irgendwann zum Überfluss verkommen mag. Weder
eine Chronologie des Menschen Musil, noch ein Verzeichnis seines Werkes
sind in diesem Buch beiläufig zu erheischen, die Kapitel
benennen sich auszugsweise als "Pornographien", "Schwerverwundetenzug",
"Tanz im Freien", "Chemin privé" oder "Über die
Dummheit" und vermitteln als solche nicht die ansonsten aus anderen
Biografien vertraute Orientierung zeitlicher Linearität. Der
mechanisch gestimmte Takt geht ab, die Lesart von der Geburt
über den Lebenshöhepunkt bis zum Tod. Was sich hinter
den demonstrativ angeführten Titeln
verbirgt, ist eine gleichermaßen einfühlende wie
stimmungsvolle
Annäherung
an Musils Welt, an die Besonderheiten seines sperrigen
Charakters wie an die Untiefen seines literarischen Werkes. Man merkt
schon nach wenigen Seiten: die Passion des Schreibens, sie ist beiden
eine Leidenschaft. Dem Schriftsteller wie seinem Biografen.
Poesie mag dem Schönheitsempfinden eine Wonne sein, doch umso
mehr begeistert sie, wenn sie überdies das nimmersatte
Informationsbedürfnis des Bildungshungrigen labt. Auch dieser
Grundvoraussetzung zu einer jeden passablen Biografie wird Kraft
gerecht. Nicht, dass er den Leser zu diesem Behufe eine Zeittafel vor
Augen hält und ihn mit gelehrtem Faktenwissen zur Bibliografie
füttert, gar mästet, viel eher ist es ein Sickern,
ein sich Versenken in das Wesen einer schönen Seele, die ihr
Leben lang einsam und nur allzu menschlich war. Letztlich wird man
nicht nur um vieles Wissenswerte bereichert sein, sondern auch die
Ahnung einer Atmosphäre erfahren haben, die jene einer Welt
von gestern ist.
Mit einfühlsamer Sprache skizziert Herbert Kraft die tieferen
Dimensionen des Robert Musil, welcher lebte unter dem Joch einer
großen Idee: der Arbeit an dem großen Roman, dessen
Titel schlussendlich "Der Mann ohne Eigenschaften" ward. Ein
übrigens unvollendeter Roman, nicht geschaffen aus dem Geiste
einer überquellenden Fantasie, sondern abgeschrieben aus dem
Leben von Martha und Robert Musil.
Musil war nicht mit naturgegebener Genialität begnadet und
stand auch keineswegs als der große Denker über den
Dingen. Genial war an ihm lediglich der eiserne Wille zur
Überwindung seiner Mittelmäßigkeit; ein
Wille, welcher der Nachwelt letzthin ein fulminantes
schriftstellerisches Vermächtnis hinterlassen sollte. Ohne
falschen Respekt vor der geheiligten Ikone österreichischen
Literaturschaffens beschreibt Herbert Kraft den kleinen Mann, der Musil
auch körperlich war, in allen seinen Schwächen und
Skurrilitäten. Musil hasste demnach Geselligkeiten, war ein
unerfreulicher Gast, der sich mit Anderen nur zu dem Zwecke traf, um
sie hernach für längere Zeit nicht mehr treffen zu
müssen. Zwischenmenschlichkeiten waren ihm eine
Lästigkeit. Bei Kraft liest sich dies so: "Wie der Mann in der
Erzählung Tonka hat Musil nie Zeit für Freunde
gehabt, wohl auch keinen Geschmack an ihnen oder keinen Reiz
für sie: er war belastet von seinen Ideen". Und so
führte er ein Leben wie hinter verhangenen Fenstern. Musil war
unmusikalisch, ein lausiger Tänzer, unterlag wiederholt den
Tücken der Orthografie, erkrampfte seine Texte, litt unter
krankhaften Geldsorgen, hasste die Brotberufe seiner frühen
Jahre, war nicht so lebenstüchtig, zumindest jedoch durch das
praktische Leben über Gebühr gefordert und genervt,
taumelte in die Kriegsbegeisterung des Jahres 1914, verfasste
peinlichpatriotische Aufsätze über Schönheit
und Brüderlichkeit des kriegerischen Geistes, pries Heldentod
und Deutschtum, wurde doch noch klüger, um
schließlich mit bewundernswerter Courage eine erbarmungslose
Anklage gegen die Nationalsozialisten und ihre Schergen, wie
überhaupt gegen den Ungeist jener Zeit, zu verfassen, welche
er dann auch bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in
Österreich, im März 1937, in Form eines Vortrags
verlas und im selben Jahr mit dem Titel "Über die Dummheit"
publizierte. 1938 emigrierte das Ehepaar Musil sodann in die Schweiz;
Musils Bücher wurden vom NS-Regime verboten.
Der selbst schriftstellernde neue Tyrann,
Adolf
Hitler, dessen Buch "Mein Kampf" Ende 1937 die Auflage von
3.447.000 Stück erreicht hatte, konnte den ergrauten
Altösterreicher nicht mehr betören. "Bücher
werden, als ließen sie sich so entgiften, zur Erde
geschleudert", beklagte Musil in aller Öffentlichkeit und
erinnerte solcherart an die Bücherverbrennung vom 10. Mai
1933. Seine Kritik an der "ebenso schamverletzenden wie gewaltigen
Dummheit", die nicht nur auf Geistesschwäche sondern auch auf
Charakterlosigkeit zurückzuführen sei, scheute nicht
die scharfen Worte. Freiheit und Vernunft als Wahrzeichen der
Menschenwürde kämen allmählich
außer Kurs. Am psychischen Gemütszustand des
Nationalsozialismus beobachtete Musil eine "soziale Imitation geistiger
Defekte" und eine Rechtsauffassung, die unter Gerechtigkeit allein die
Bestrafung des Anderen verstand. Herbert Kraft verschweigt nicht, dass
der selbige zornige Warner vor dem "unterem Mittelstand des Geistes und
der Seele" in der amtlichen "Wiener Zeitung" vom 21. Mai 1933 einen
Aufruf "Hinein in die vaterländische Front" verfasste, den er
mit "Heil Österreich! Heil Dollfuß, dem
Führer!" beschloss. Jedoch aus Ängstlichkeit, weniger
aus Überzeugung, sei Musil der austrofaschistischen
"Vaterländischen Front" beigetreten, deren erster
"Führer und Feldherr", Bundeskanzler Dollfuß, den
"Feldruf" des Prinzen
Eugen übernommen hatte: "Österreich
über alles, wenn es nur will!"
Musils Romanerstling "Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß",
von ihm selbst noch als mangelhaft kritisiert, wurde zum Kultbuch der
Jugend, sein unfertig gebliebener Lebensroman "Der Mann ohne
Eigenschaften" gilt heute als literarisches Charakteristikum des
Österreichers und wird gerade von hiesigen Spitzenpolitikern
- so von einem ehemaligen Bundeskanzler - mit auffälliger
Regelmäßigkeit als ihr bevorzugtes Werk der
Literaturgeschichte ausgewiesen. Als ob es dem Politiker einen Zugang
zum besseren Verständnis des österreichischen
Wahlbürgers offerieren würde.
Herbert Kraft
lässt Leben und Schaffen des großen Schriftstellers
Robert Musil vor das innere Auge des Lesers treten, in poetischen
Grautönen gemalt, fern, wie durch einen eisigen Nebel hindurch
gesehen, distanziert, wie der Dichter sein Leben lang war. Ein
sinnliches Buch, das sich selbst genießt, gelehrt, kraftvoll,
welches zuweilen ob des unwiederbringlich Verflossenen etwas
melancholisch getönt scheint und dessen Focus es ist, den
Menschen Musil aus seinem Werk und sein Werk über sein Leben
begreiflich zu machen.
(Tasso; 10/2003)
Herbert Kraft: "Musil"
Zsolnay, 2003. 370 Seiten.
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Leseprobe:
Anders und Leona
Es ist Sonntag. Anders erwartet Leona, eine
Varietésängerin. Sie machen zuerst einen Fußmarsch,
drei bis sechs Stunden, für Anders Luft, Bewegung,
Aussetzen der Gedanken, danach kommt das Vergnügen.
Und weil an ihm die Seele hängt, hat er sich die Idylle mit
Leona im Makartstil ausgedacht: Rot-blau-braune Teppiche und
Portièren, ein wie mit Mehl angerührtes Licht,
Wedel aus Pfauenfedern und Schilfkolben, Möbel mit tausend
gedrehten Säulchen und Zacken. Das war eine
Spießbürgersinnlichkeit, die auf dem Maskenball
Sultan und Suleika spielte. Man weiß sehr wohl,
dass alles durch und durch feig und verlogen ist, aber wie
käme man sonst an genügend Sexualität.
Auf solche Weise lebt der Bürger seine Freiheit aus. An seine
Vorstellungen reichen längst nicht alle heran, wie sich in
Leona ein anderes Schönheitsideal ausprägt,
ein abgesetztes, unterworfenes und in die
Sklaverei
verschlepptes. Also erscheint Leonas Gesicht
unzeitgemäß. Das moderne Aussehen war auch durch die
Wiederherstellungschirurgie möglich geworden, die 1916 von
Jacques Joseph an der Berliner Charité begründet
wurde. Seitdem konnten die Gesichtsverletzungen behandelt werden, die
sich viele im Krieg zugezogen hatten, und bald entwickelte sich daraus
eine ästhetische Chirurgie, die das neue Körperbild
definierte.
Leona bleibt, wo sie ist; wer jedoch unten bleibt, kommt selten zu
Verstand: Anders behauptete, in ihrem ausgedehnten
Körper brauche jeder Reiz so lange, bis er das Gehirn
erreiche, dass manchmal erst mitten am Tag ihre Augen zu zergehen
begannen, während sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt
an der Zimmerdecke gerichtet gewesen waren. Oder sie begann
unaufhaltsam über einen Scherz zu lachen, den man am Vortag
gemacht hatte, weil sie ihn jetzt erst entdeckte.
Für Sozialschäden gibt es eben keine Absolution.
Leona gleicht einer Löwin, vom Kürschner
ausgestopft, und sinnlich ist sie unglaublich arbeitsscheu.
Aber wenn sie nicht leistet, was Anders sich vorstellt, bleibt ihm
immerhin die Sehnsucht erhalten. Und er braucht ja den Abstand,
irgendeinen Abstand, sonst würde ihn die Scham
überkommen. Leonas Sehnsucht richtet sich allein auf die
Güter dieser Erde: sie ist gefräßig,
muss sich auf den Tauschhandel Essen gegen Sexualität
einlassen, verlängert ihren Aufenthalt in der Stadt,
indem sie unter immer schlechteren Bedingungen von einem Engagement ins
nächste übergeht. Doch ist sie es
zufrieden, die Benachteiligten sind es immer oder meistens. In der
Begegnung mit Anders erfährt Leona sogar etwas von
zugestandener Individualität, er behandelt sie nicht, wie sie
es gewohnt ist, und Prügel braucht sie jetzt nicht mehr zu
fürchten. Selbstverständlich hat auch Anders seine
Mittel, er lässt jedes Mal zwei große
Körbe, gefüllt mit auserwählten Esswaren und
Leckerbissen, holen; wenn Leona kommt, darf sie hineinsehen,
hineinzugreifen wird ihr verwehrt. Dann haben die
Spaziergänge einen doppelten Zweck: am Abend ist
Leonas Appetit wie neugeboren, und ihr Körper gleicht dort, wo
seine Wollust sitzt, dem einer Jungfrau.
Eine Fahrt aus der Stadt wird immerhin
nötig, damit das Genannte sich in Grenzen halten
lässt. Gewiss bleibt es unschicklich, mit dieser
seelisch verunreinigten Person sich zu zeigen, durch Gottes Natur [
&] ein Schwein an der LeineI zu führen. Anders geht
Ivor oder hinter Leona, fast nie neben ihr und stets schweigend.
Aber was bedeutet das schon gegen den Skandal, wenn sie zusammen auf
der Promenade gesehen würden. Abends im Varieté
singt Leona, süß und leidenschaftlich,
durch den Entzug, ein so entstandenes tierisches Verlangen zur
Besonderheit getrieben. Erst danach bekommt die Löwin zu
fressen. Und zu saufen. Anders trinkt, im Vergleich, nur
mäßig, für ihn braucht es auch das billige Porterbier
nicht zu sein. Bei den sentimentalen Liedern, die Leona bei ihm zu
Hause singt, und den Zoten, die sie von sich gibt, amüsiert er
sich. Denn so etwas regt unheimlich an. Besonders
weil er sich im Falschen, Gezwungenen das Andere vorstellen will, der junge
Idealist.
Wenn es Montag morgen ist, verfrachtet er das Mensch, bis zum
nächsten Sonntag.
Als die Erzählung unter dem Titel Leona
(Aus der Vorarbeit zu einem Roman) erscheint, ist die
Republik drei Jahre alt. Die "Staatsgewalt", das "Recht" geht vom Volke
aus. Vom Volk allerdings nicht, das bekommt die Gewalt, das Unrecht zu
spüren. So ist das Leben in der Republik eingerichtet, in der
Gesellschaft der freien Bürger. Sie haben die Macht und
üben sie aus, wo sie dürfen: privat. Im politischen
Leben hat auch der Bürger wenig zu sagen. Anders
heißt er bloß.
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