Leseprobe:
(...) Wenn die ehernen Zungen der Glocken zur Mette riefen, begann für die
Clagenfurther das Weihnachtsfest erst wirklich.
Am Christtag selbst erwarteten sie alle den Tag der Bescherung.
Es ging hoch her in allen Häusern. Da bot man dann alles auf, was Speisekammer
und Keller hergaben. Auf den Tisch kamen knusprig gebratene Kapaune und Truthähne,
Schweinsbraten und gebackene Fische, dazu Gemüse, besonders Kraut und Rüben.
Die Leckerbissen aber waren Kletzenbrot, Reindling, Buchteln und Krapfen. Aber
auch an Wein und Bier würde es nicht mangeln. Für alles war gesorgt.
Denn zur Weihnacht wollte man alles vergessen und nur an schöne,
vergnügliche Dinge denken. Die Clagenfurther verstanden es meisterhaft, jeden
Gedanken an die Glöcknerin zu verdrängen in dieser Nacht.
Die Heilige Nacht war etwas Besonderes, und so gaben sie sich
friedlich und angstfrei, auch wenn andere Geschichten sie bedrückten. Dem Herzen
wuchsen Flügel in dieser Zeit. Schöne, weiße Schwingen, die es leicht machten,
abzuheben. Niemand konnte sich dieser weihevollen Stimmung entziehen. Ein seltsamer
Ernst hielt die Menschen gebunden.
Man erzählte gar wundersame und geheimnisvolle Dinge von der
Weihnacht.
So wurde erzählt, die Toten freuten sich auf den Heiligen
Abend, um den Gräbern zu entsteigen und an den festlich gedeckten Tischen, die
für sie gerichtet waren, Platz zu nehmen.
Drei Brotlaibe aus
Roggenmehl übereinandergelegt und mit einem großen, weißen Tuch zugedeckt,
das war ihr Mahl. Auf die Brote wurde das Kreuz gestellt, und an jeder Tischecke
standen drei bis vier Teller übereinander, die mit verschiedenen Getreidearten
gefüllt waren. Denn es hieß, die armen Seelen würden von dem Brot essen und
der Heilige Geist von den verschiedenen Getreidearten nehmen in dem Verhältnis,
wie sie im kommenden Jahr gut gedeihen würden. Ein Nachtlicht brannte dabei.
Durch die Speisen sollten die Geister beschwichtigt werden.
Die Geister der Verstorbenen waren es auch, die in dieser
Nacht dem Kirchhof enteilten, um nach dem mitternächtlichen Gottesdienst der
Menschen ihrer eigenen Geistermette beizuwohnen. Wer aber mutig genug war, in
der zwölften Stunde im Friedhof unter dem Kreuze zu stehen, der konnte diejenigen
sehen, die im Laufe des Jahres sterben würden.
Kein Wunder daher, dass sich diese Zeit mehr als jede andere
für die Erforschung
der Zukunft eignete. Übel abzuwehren, sich Segen zu sichern und auf
die Zukunft zu hoffen, ja, sie sogar in Erfahrung zu bringen, das war schon
verlockend.
Jünglinge und Mädchen konnten Braut und Bräutigam, die ihnen
bestimmt waren, sehen, wenn sie, vom Heiligen Abend an, drei Nächte durchwachten.
In der vierten erschien ihnen dann das ersehnte Bild.
In der Christnacht geschah es auch, dass die Haustiere mit
menschlichen Stimmen redeten. Sie erzählten sich von den Ereignissen, die sich
im folgenden Jahr abspielen würden. Überall reichte man am Heiligen Abend dem
Stallvieh frische Streu, damit es zu Weihnachten ein weiches, warmes Lager habe.
Und das Brunnenwasser verwandelte sich in dieser wunderreichen
Nacht in Wein.
Das Brot aber, das man zur Christmette mittrug, erhielt die
Weihe. Und es besaß besondere Heilkraft, die sich an Mensch und Tier erwies.
Da waren schon einige Körblein dabei, voll mit weihebdürftigem, frischgebackenem
Brot. Zu dieser Stunde, in der mitternächtlichen Jesuitenkirche, als der Gesang
und das weiche Orgelspiel
von Pater Christopherus den Kirchenraum erfüllten wie eine Klangwolke, so flauschig
und mild.
aus:
"Die Glöcknerin" von Johanna König.
Roman. Hermagoras Mohorjeva, 2000.
178 Seiten. ISBN 3-85013-712-0.