Peter Atkins: "Galileos Finger"
Die zehn großen Ideen der Naturwissenschaft
Von
der Faszination moderner Naturwissenschaft
Nur ein einziger Finger, der Mittelfinger seiner rechten Hand, ist der
Nachwelt von Galileos Körper erhalten geblieben, eine
symbolträchtige Reliquie, ein Zauberstab, den Peter Atkins
hier virtuos handhabt, um seinen Lesern die zehn großen Ideen
der Naturwissenschaft, wie er es nennt, aufzuzeigen.
Unwillkürlich denkt man an die zehn Gebote Gottes aus der
Bibel, und ich bin während der Lektüre des
Buches den Eindruck nie ganz los geworden, dass Peter Atkins von einer
Wissenschaftsgläubigkeit durchdrungen ist, die schon beinahe
pseudo-religiöse Züge trägt. Anstatt von
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen spricht er beispielsweise von
Wahrheiten, und an anderer Stelle schwelgt er in "der tiefen Freude
jener Erleuchtung, wie sie nur die Naturwissenschaft schenken kann."
Aber auch diejenigen, die diese Ansicht nicht teilen mögen,
werden nicht umhin können, dem Autor zu attestieren, dass er
mit seinen "Zehn großen Ideen der Naturwissenschaft" ein
großartiges Buch vorgelegt hat.
Unter einer großen Idee versteht Peter Atkins "ein einfaches
Konzept von erheblicher Reichweite", wie er es formuliert. Sein Buch
beschäftigt sich also mehr mit konzeptgelenkter als mit
anwendungsorientierter Naturwissenschaft. Und den
symbolträchtigen Finger Galileos wählte er, weil er
mit dem Wirken Galileos die Geburtsstunde der modernen
Naturwissenschaft sieht. Die zehn großen Ideen bei Peter
Atkins sind 1) Evolution, 2) DNA, die Verschlüsselung unseres
Erbguts, 3) Energie, 4) Entropie, der unabwendbare Sturz unserer
materiellen Welt in das Chaos, 5) Atome, 6) Symmetrie, 7) Quanten, wo
es um Teilchen und Wellenfunktion geht, 8) Kosmologie, 9) Raumzeit und
10) Arithmetik, die dem Menschen die Grenzen seines Verstandes aufzeigt.
In diese zehn Kapitel ist also das Buch gegliedert, wobei es nicht
zwingend notwendig ist, sie in der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen,
obwohl dies sicher zum Verständnis des bisweilen doch recht
schwierigen Stoffes beitragen wird. Peter Atkins' Vorgehensweise ist
eine chronologisch ausgerichtete. Er verfolgt jede dieser zehn
großen Ideen von ihrem Ursprung bis zum heutigen
Erkenntnisstand, von den philosophischen Anfängen bei den
alten Griechen und anderen Kulturvölkern bis hinein in die
modernen Laboratorien und Denkschmieden unserer Zeit. "Galileos Finger"
ist demnach nicht nur ein Kompendium vielfältigen Wissens, ein
naturwissenschaftliches Lehr- und Lesebuch und zugleich
Nachschlagewerk, es vermittelt dem Leser auch Wissenschaftsgeschichte
und führt ihn nebenbei in die naturwissenschaftliche Denkweise
ein. Dabei stellt der Verfasser immer wieder die umfassende Bedeutung
der Abstraktion heraus, als deren Apotheose er die Mathematik ansieht.
Peter Atkins verfügt in erstaunlich hohem Maße
über die bewundernswerte Gabe, auch schwierigste Sachverhalte
verständlich darzustellen. Dennoch wird es der Leser nicht
immer einfach haben bei der Lektüre dieses Buches, und mit
einem naturwissenschaftlichen Basiswissen sollte er schon ausgestattet
sein, um den Gedanken des Autors einigermaßen folgen zu
können. Peter Atkins schreibt dazu in seinem Kapitel über Quanten:
"Ich bin mir der Spitzfindigkeit der Argumentation sehr bewusst und
habe mein Bestes getan, sie so transparent wie möglich zu
machen. Wenn die Sache zu schwierig wird, zögern Sie nicht,
zum nächsten Kapitel überzuspringen."
Peter Atkins ist aber nicht nur einer, der komplizierteste Sachverhalte
verständlich machen kann, er ist nebenbei auch noch ein
großartiger Erzähler, der den Leser fesselt durch
seinen brillanten Stil, durch seine gelungenen Formulierungen, durch
seine klug gewählten Beispiele, um Zusammenhänge zu
veranschaulichen. Selbst wenn man einmal nicht mehr durchblickt, was
bei diesem teilweise außerordentlich komplizierten Stoff
schon vorkommen kann, liest man unwillkürlich weiter, so sehr
versteht es Peter Atkins, das Interesse des Lesers in der Spur zu
halten. Sein schriftstellerisches Vermögen ist sicher nicht
das geringste seiner Talente.
"Wohin zeigt Galileis Finger, wenn er in die Zukunft des Verstehens
weist?" fragt Peter Atkins in seinem Epilog, der sich den zehn
Hauptkapiteln anschließt. Er gesteht zunächst einmal
ein, dass jedes Jahrhundert von den durch den Fortschritt
ausgebleichten Knochen früherer Überzeugungen
übersät ist, meint aber, dass die Vorzeichen heute
ganz andere sind. Aber das haben frühere Generationen
ebenfalls geglaubt. Abstraktion lautet auch in diesem Zusammenhang
wieder das Zauberwort. Der Verfasser glaubt, dass eine finale Theorie, die
alles umfasst und erklärt - falls solch eine Theorie jemals
aufgestellt werden sollte - die Welt vollkommen abstrakt darstellen
wird. Das aber würde bedeuten, dass wir über ein
Weltmodell verfügen, das wir nicht einmal verstehen
können. Der Ursprung des Universums und die Natur des Bewusstseins
sind für Peter Atkins die zentralen Probleme, die die
Naturwissenschaft noch zu lösen haben wird, neben Milliarden
oder gar Billionen zweitrangiger Probleme. Aber wer weiß, an
welche heute noch ungeahnten Probleme Galileos Finger
demnächst noch rühren wird. Man darf gespannt sein.
Und das Naturwissenschaft nicht nur trocken und schwierig, sondern auch
ungemein spannend sein kann, das demonstriert uns Peter Atkins durch
sein Buch auf eindrucksvolle Weise.
(Werner Fletcher; 09/2006)
Peter
Atkins: "Galileos Finger"
(Originaltitel "Galileo's Finger: The Ten Great Ideas of Science")
Aus dem Englischen von Klaus Kochmann.
Klett-Cotta, 2006. 528 Seiten.
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Peter Atkins, geboren 1940, ist Professor der Chemie und Fellow des Lincoln College an der Universität Oxford.