Liebe oder wie der Mensch sein Glück findet

Herr Drewermann; in einem Ihrer Bücher fand ich einen Satz, der mir auffiel, sodass ich ihn mir aufgeschrieben habe: Es gibt nur zwei Dinge, über die es sich nachzudenken lohnt. Die Liebe und der Tod.

DREWERMANN: Es gibt für das Selbstwertgefühl keine tiefere Kränkung, als dem Tode zu begegnen. Wir Menschen sind die einzigen Lebewesen, die wissen, das uns jeder Nagel, den wir in die Wand schlagen, durch seine Konsistenz höchstwahrscheinlich überdauern wird. Wir sind haltlose Geschöpfe und wir sind die einzigen Wesen, die nicht nur sterben werden, sondern mit dem Tode leben müssen. Gegen dieses ständige Untergrundgefühl der Beliebigkeit, der Zufälligkeit, der Hinfälligkeit gibt es nur einen einzigen wesentlichen Trost; das ist die Liebe. Es muss uns nicht geben, aber unter den Augen eines Menschen, der uns liebt, spüren wir, das es uns doch geben muss. Wechsel im Gefühl der Berechtigung ist ein Empfinden, das wir sein sollen, und wir können für jemanden das Dasein, den wir schon deshalb brauchen, mit uns selber einverstanden zu werden. Einen nur zu lieben ist so wie unter dem Deich zu leben; vor dem Deich liegt ein Unendliches an Bedrohungen, an Gefahren, Stürme, Hochwasser, auch an Sehnsucht, Lust am Abenteuer; aber hinter der Deichkrone ist diese kleine Parzelle, die uns Grund unter den Füßen gibt; die uns Trost, Schutz und Halt gewährt. Das ist die Liebe. Wir brauchen den Anderen, um zu entdecken, wer wir selber sind. Gefühle, die wir sonst verbinden würden mit Scham, mit Unfertigkeit, mit Bedürftigkeit, mit Kritik heben sich auf in der Liebe des Anderen, der genau das möchte: Da ist etwas, wo ich ihn ergänzen kann; wo ich mit ihm sein kann; das wir gemeinsam das leben, das wir nur als Menschen einander zu schenken vermögen. Darum ist die Liebe der wichtigste Trost gegen den Tod.

In der Liebe im alten Testament gibt es ein Stück Weltliteratur, das die Überschrift trägt: Das Hohelied Salomos. Da handelt es sich ja um Wechselgespräche zwischen ihm und ihr, zwischen zwei Liebenden, und da fand ich ein Stück, in dem es auch um diese beiden Begriffe geht: Liebe und Tod. Zitat:
Er sagt zu ihr: Verzaubert hast du mich, Schwester Braut, verzaubert mit dem Blick deiner Augen. Und dann antwortet sie: Ich gehöre meinem Geliebten und nach mir geht sein Verlangen. Lege mich wie ein Siegel an dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm, denn stark wie der Tod ist die Liebe.

DREWERMANN: Es ist ein wunderbares hebräisches Wort: Lege mich wie ein Siegel an das Herz. Es soll auch heißen: Du prägst mich mit deinem ganzen Wesen, sodass ich dich nie mehr vergessen werde, und es gibt keinen Herzschlag, der nicht atmen würde in deiner Zärtlichkeit, und wir sind uns einander so nah, das es uns nie mehr auseinanderreißen wird. Ich entsinne mich an dieser Stelle, das ich einen langen Diskurs einmal hatte mit einem Moraltheologen, der sagte: Die Liebe ist stark wie der Tod, aber nicht stärker. Er wollte damit sagen: Auch die Liebe ist vergänglich. Das ist Teil des Realismus, den wir anerkennen sollen. Und ich sagte: Nein, die Liebe meint es genau so nicht. Die Liebe soll den Menschen trösten gegen die Nacht, die jederzeit wie zynisch die Energie besitzt, Menschen, die für eine Ewigkeit füreinander geschaffen zu sein sich fühlen, auseinander zu reißen. Der nächste Satz an dieser Stelle lautet nämlich: Die Schiene Wasser löschen sie nicht aus. Der Hebräer denkt nämlich immer in Parallellismen. Die Liebe ist stark wie der Tod soll heißen: Sie ist so unerschütterlich, wie die stärkste Macht, die man sich denken kann. Sie setzt sich gegen den Tod. Da ist ein Gefühl, das durch keinen Zynismus der Welt, nicht einmal durch den Tod, aus den Herzen der Menschen zu reißen ist. Dies wunderschöne Bild von der Schwester Braut stammt aus dem alten Ägypten; es hat ursprünglich mit Geschwisterehe zu tun; ist aber hier ganz und gar seelisch gemeint. Irgendwie besteht die Liebe in dem Empfinden, in dem anderen jemand zu begegnen, dem man schon immer gekannt hat. Wie wenn er im gleichen Elternhaus oder die Straße gegenüber auf die Welt gekommen wäre. Alle Liebenden werden miteinander Gespräche führen darüber, wie es doch schön gewesen wäre, wenn man sich in Kindertagen schon begegnet wäre; man hätte gespielt miteinander schon mit fünf oder sechs Jahren; und man schenkt sich einander den Ring der Liebe, wenn man dieses Gefühl hat: Man wird zurückbegleitet in die Kindheit, und fängt im Leben mit dem anderen noch einmal von vorne an. Aber es erneuert sich alles auf einer höheren Stufe, regeneriert sich; die Bibel kann auch nur sagen: Die Entdeckung der Liebe ist, wie wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang geschlafen hätte: Adam im Paradiese; und er schlägt zum ersten Mal die Augen auf in dem Gefühl: Jetzt sieht er etwas wesentliches, das ihn von innen her vollkommen durchpulst; das geschieht unter den Augen des anderen, die wie ein Zauber sind, wie eine Magie. Biochemiker rätseln noch immer herum, was da wirklich passiert: Ob da PEA ausgeschüttet wird... Die Wahrheit ist: Ein Mensch wird auf das Rührigste von innen her begabt, und er fühlt alles Eigene wie ein Geschenk für den Anderen, und man wird es nicht mehr los.

Aber obwohl doch jeder zu glauben meint, was Liebe ist. Wenn man ihn fragt, was denn das Wesen der Liebe sei; dann fällt die Antwort doch schwer...

DREWERMANN: Man kann die Liebe nicht fixieren. Die christliche Literatur vor allem wird sie sehr stark in den Altruismus hineingehoben; wird idealisiert als ein Fühlen nur für den Anderen, und für mich in der Psychotherapie macht das einen sehr wesentlichen Unterschied. Drewermann: Als Psychotherapeut glaube ich etwas zu tun, das Liebe vorbereiten kann. Aber es setzt voraus, das ich den Anderen nicht für mich selber will. Das ich nicht einen Anspruch an ihn habe, wo er mir nützen muss, nur um mich als Person selber zu finden. In der Liebe ist genau dies der Fall: Sie lebt von der wechselseitigen Ergänzungsbedürftigkeit. Die Liebe kann auch nur sagen: Sie ist in gewisser Weise ein unverschämtes Glück. Die Kultur etwa zwingt uns, das wir ständig mit Masken herumlaufen, das wir bis in die Kleidervorschriften uns nicht entblößen; das wir nicht das Gesicht verlieren, nicht im Hemd dastehen... In der Liebe suchen wir förmlich eine Zone, wo Schamgefühl sich aufhebt; wo das, was sonst als sehr kritisch erlebt wird, förmlich gesucht wird. Man hat mit einem Mal das Empfinden: Man kann sich dem anderen ganz zeigen, und kehrt zurück in ein vollkommen unschuldiges Paradies, wie wenn man sich als Kinder noch einmal bei der Hand nehmen könnte, und man ginge jetzt in eine unbekannte Welt gemeinsam hinein. Die größte Furcht ist es deswegen, dies alles könnte auseinanderbrechen; man könnte den Anderen verlieren. Der Tod könnte wiederkehren oder irgendetwas im Leben könnte passieren, das diese wunderbare Harmonie zersprengen würde.

Um den Anderen verlieren zu können, die Angst vor dem Verlust, muss man den Anderen erst mal finden. Ich habe hier vor mir liegen diese wunderbare bekannte Erzählung "Der kleine Prinz" von Exupery. Da gibt es die Stelle, wo der kleine Prinz den kleinen Fuchs trifft, und der Prinz möchte mit dem Fuchs spielen, aber das Füchslein sagt: "Das geht noch nicht, denn ich bin ja noch nicht gezähmt." Und der kleine Prinz fragt dann: "Was bedeutet zähmen?" "Zähmen", sagt der Fuchs. "Es bedeutet, sich vertraut machen. Noch bin ich für dich ein Fuchs, der 100.000 Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt und ich werde für dich einzig sein in der Welt."

DREWERMANN: Es ist das wunderbare Gefühl, das man das Bedürfnis spürt, sich dem anderen zu öffnen, ihm sein Leben zu erzählen, den Hintergrund der eigenen Gefühle ihm anzuvertrauen, und dadurch gewinnt der andere und man selber in seinen Augen ein Gesicht. Es formt sich eine immer stärkere Individualität heraus. Nur die Diktatur wird die Liebe deswegen fürchten, weil sie den Menschen dahin bringt, das seine Seele Flügel bekommt. Es ist ein Gespür für den Wert, den man als Individuum besitzt. Und gerade das tauscht sich aus. Natürlich ist an jeder Stelle ein wenig Scham dabei. Wird der Andere noch mitgehen? Er wird ja nicht Grund haben, es abzuwehren. Er wird eher erschrocken sein über das, was man ihm jetzt mitteilt. Und drum schildert es Exupery ganz richtig. Es ist, wie wenn man ein wildes Tier langsam einfängt, langsam an sich gewöhnt. Durch sehr vorsichtige Bewegungen einen Raum schafft, in dem er sich selber nicht bedroht fühlt. In diesem Sinne ist Lieben-Lernen ständiger Angstabbau. Es öffnet sich der Korridor, den man bisher um sich gezogen hat, wie hinter einer Bastion, hinter einem Burgwall. Man lässt den Anderen ein bis in den Intimbereich.
Das setzt voraus, das man seine Gegenwelt wie etwas Glückseliges erlebt. Genau das Gegenteil von "Ich muss dich fürchten" ist - Ich lade dich ein, ich sehne mich nach deiner Nähe. In der Liebe wird die ganze Zeit zu einem ständigen Schwingen zwischen Erwartungen und Erfüllungen. Drum, sagt Exupery ganz richtig, braucht die Liebe ihre Zeiten. Wenn du sagst, du kommst um drei Uhr, fange ich an, mich um ein Uhr auf dich zu freuen. Man verabredet bestimmte Riten, bestimmte festgesetzte Zonen, bestimmte Zeiten. Immer wieder ist Liebe ein Ventil ins Eigene; ein formieren der eigenen Person, und dann eine Rückkehr zum Anderen, um sich wechselseitig wieder zum Geschenk zu machen.

Und doch wissen wir alle, das ich jetzt nennen möchte: Das Nachlassen, das Abklingen der Gefühle, und aus dieser Phase eine Gewöhnung, aus dieser Situation sogar Gewöhnlichkeit werden kann. Die Frage ist: Wie lange bleibt Liebe?

DREWERMANN: Die Schwierigkeit ist, das Menschen sich aneinander gewöhnen können, und sodass das Unerhörte der Liebe am Ende aus lauter Vertrautheit zum Gewöhnlichen wird. Man verliert die Neugier am Anderen. Man beginnt den Anderen einzuordnen in fertige Vorstellungen. Man macht sich von ihm ein fertiges Bild. Und dann gibt es nichts Unbekanntes mehr. Man legt den Anderen fest auf die Vorstellungen, die man von ihm hat. Entweder gibt es dann eine Menge an Auseinandersetzung, der Andere wehrt sich gegen diese Festlegung, oder er fügt sich viel zu brav darin ein; dann verliert die Wechselseitigkeit ihre Spannung. Mir scheint, das dieser Prozess besonders naheliegend werden kann, wenn man gegen die untergründige Angst, sich zu verlieren, sich so stark aneinander klammert, das sich die Unterschiede einfach wegschleifen. Man sucht eine Geborgenheit in völliger Identität. Du bist genau wie ich, und das wird nicht gehen, denn der Andere ist in allem immer ganz anders auch. Man sucht das Verwandte in ihm, die Schwester Braut, aber man darf nie vergessen, das der Andere schon als Frau, schon als Mann die selben Dinge, noch einmal anders, komplementär im günstigsten Fall, erlebt haben wird. Und dieses andere am Anderen muss immer wieder vorantreiben zur Neugier, zum Suchverhalten.

Was Sie gerade gesagt haben, erinnert mich an ein Zitat, das ich in einem Ihrer vielen Bücher fand. Es heißt: "Der Mensch, den man am meisten liebt, ist gerade so, wie man selber ist, bis auf den einen Punkt, das er in allem ganz anders ist."

DREWERMANN: So spricht in der Bibel Adam, als er die Frau findet. Diesmal ist sie´s, sagt er. In der Bibel wird erzählt, dass die Frau geschaffen wird aus der Rippe des Mannes. Sie ist gewissermaßen ihm vom Herzen weggenommen, damit er seinen Herzenswunsch in der Gestalt des Anderen wiederfindet. Und diese Spannung, das Eigene im Anderen wieder zu finden, damit es zur Ergänzung einer Wunde wird, die sich nur schließen kann durch die Liebe. Das macht die Sehnsucht, das macht das Verlangen, die Zärtlichkeit und die Innigkeit der Liebe aus. Sigmund Freud hat ganz richtig einmal gesagt: Die Liebe hat zu tun auch mit der Angst, die darin liegt, einander verlieren zu können. Er hat gemeint, der Satz "Alle Angst ist Todesangst" lässt sich in dieser Form kaum beweisen; aber das Angst damit zu tun hat, den Anderen verlieren zu können. Womöglich durch den Tod, aber schlimmer noch durch die Zerwürfnisse der Liebe. Das macht im Untergrund ein ständiges Erdbeben möglich.

Das Buch "Zeiten der Liebe" von Ihnen; da heißt der erste Satz: "Nichts, wenn wir die Art unseres Zusammenlebens betrachten, scheint uns soviel Angst zu machen wie die Liebe."

DREWERMANN: Es ist paradox. Wir sollten nach all dem Gesagten erwarten, das die Kultur die Liebe begrüßen würde als ihre tiefste Kraft; als die Energie der Vermenschlichung. Stattdessen sehen wir die Kultur in aller Regel auf Kriegsfuß mit der Liebe. Die Kirche etwa lehrt, das die Liebe Gott selber sei. Ich weiß nicht, ob sie damit recht hat, (aber wegen der Liebe das tiefste Gefühl für das bekommen, was uns Sinn verleiht, was uns aufrichtet, das scheint mir hier richtig zu sein). Dennoch fürchtet die Kirche die Liebe so, als ob sie der Teufel selber wäre. Wir haben immer Grund einzuschreiten, wenn wir das Glück, das zwei Menschen aneinander haben, mühselig vertragen. Wir wollen immer wieder Menschen vernetzen in größeren Zusammenhängen. Wir haben dann eine Moraltheologie, die erklärt; die Liebe darf eigentlich nur glücklich werden zur Fruchtbarkeit, zur Fortpflanzung. Sexualität in der Ehe soll angeblich immer offen bleiben für die Vermehrung der Menschen. Vielleicht stehen wir in einer Zeit, wo wir zum ersten Mal begreifen, das dieses Denken aus der Steinzeit stammt, die hier nicht nur sich erübrigt, sondern gefährlich wird. Wir sind zum ersten Mal dabei, die Liebe abzukoppeln von allen Zwecken, die über sie hinausgehen. Wir stehen kulturgeschichtlich an einer Schwelle, wo wir begreifen, die Liebe ist ein Wert in sich selber; der geliebte Mensch an unserer Seite ein Selbstzweck in sich. Eine Frau ist nicht da, um Kinder zu gebären. Es ist ein zusätzliches, kostbares Geschenk, aber es muss sich entwickeln dürfen. Insofern begreifen wir zum ersten Mal, das wir der Liebe nicht immer wieder Käfigstäbe in den Weg stellen dürfen; das wir sie in gewissem Sinn entängstigen müssen. Das Paradox der Liebe aber ist gerade, indem sie so tief geht, in unsere Kindheit zurück, in unsere eigene Vergangenheit, wird sie nicht nur die Glücksmomente, das Sehnsuchtsverlangen der Kindheit erneuern, sondern auch die Ängste, die wir als Kinder bereits an der Ungenügendheit unserer eigenen Eltern möglicherweise erlebt haben. Die Mutter war nicht da, wenn wir sie gebraucht hätten, sie war überbelastet in Situationen, für die selber nichts konnte, das Kind aber auch nicht. Der Vater war vielleicht abwesend über lange Zeit, oder die Mutter starb sehr früh. Ich entsinne mich eines Films von österreichischen Psychologen, der mich vor Jahren sehr beeindruckt hat. Er zeigte sieben Monate alte Kinder aus drei verschiedenen Situationen. Kinder, deren Mutter im Kindbett schon gestorben war, und ins Heim gegeben worden waren. Dann Kinder, die sich ganz normal entwickelt hatten, und schließlich Kinder, die man im Alter von zwei, drei Monaten den Eltern hatte wegnehmen müssen. Die Kinder saßen in der gleichen Situation spielend vor Bauklötzen. Die eine Gruppe der Kinder saß da wie apathisch. Die Bauklötzchen hatten keinerlei Aufforderungswert, ihre Welt war völlig leergeräumt. So die Kinder, die ihre Eltern nie hatten kennen lernen können. Andere Kinder spielten mit den Klötzchen, wie man es erwarten könnte. Von Kindern, die einigermaßen glücklich sind. Am Erschütterndsten war die Gruppe der Kinder, die nach etwa zwei, drei Monaten von der Mutter getrennt worden waren. Sie spielten nicht mit den Klötzchen, sie schauten die ganze Zeit auf den Aufnahmeleiter in der Versuchssituation. Sie wollten gewissermaßen prüfen: Wird der jetzt auch weggehen wie meine Mutter? Mit einem Wort; ein Kind wird auch nur irgendeinem Gegenstand im Raume sich erst zuwenden können in einem Vertrauen, das vermittelt wurde von einer anderen Person. Und so lange wird es auf die Suche gehen nach dieser Person, die ihm die ganze Welt öffnet. Das ist bei uns Erwachsenen der Partner unserer Liebe. Er holt alles Vertrauen, aber auch alle Angst aus Kindertagen wieder hervor. Das kann manchmal auch ordentlich grotesk sein. Eine Frau erzählt mir davon, das zu ihrer Überraschung sie geradezu in Panik geraten ist, als ihr Mann sie zum ersten Mal über den Rücken gestreichelt hat. Sie lagen zusammen, sie waren beide sehr zärtlich, und dann kam diese Bewegung. Der Mann verstand natürlich nicht, warum die Frau plötzlich wie versteinert ist, und sie sich von ihm immer mehr zurückzieht. Sie begriff sich auch nicht. Es hat nicht lange gedauert, bis wir merken konnten: Das Gestreichelt-Werden über den Rücken erinnert die Frau an das Geschlagen-Werden auf den Rücken in Kindertagen. Der ganze Rücken war eigentlich die Angriffsfläche, die sich zur Straferziehung bot. Der Mann rührte, indem er zärtlich sein will, an die Schmerzen einer Frau, die man als Kind sich immer wieder vorgenommen hat mit Zensuren, mit Strafangst. Und es geht gar nicht anders: Er kann das Vertrauen der Liebe nur erzeugen, indem er alle Ängste aus Kindertagen wegliebt. Solche Beispiele zeigen, das wir in der Liebe immer wieder den Anderen auch aussuchen, das er uns an der Hand nimmt, und alles noch mal durchgeht, was wir an der Seite von Vater und Mutter damals erlebt haben. Je mehr der Vater damals fehlte, wird eine Frau in ihrem Mann einen Satz dafür suchen, und je nachdem fügt sich große Hoffnung, große Sehnsucht darein, denn man wird von einer Aura von hoher Wertigkeit umgeben, aber auch eine große Enttäuschungsbereitschaft wartet darauf: Wird er wieder weggehen? Wird er wirklich durchhalten? Oder verliere ich ihn? Das Paradoxe an solchen Konstellationen ist, das man mit der alten Angst von früher, die man selber kaum begreift, und die der Andere kaum eine Chance hat, wirklich zu verstehen, die Liebe langsam zerfasern kann.

Was geschieht denn überhaupt dabei: Zwei Menschen glaubten, das sie sich liebten; die sich vielleicht tatsächlich geliebt haben; und bei denen dieses Gefühl plötzlich nachlässt; die Gefühle überhaupt lassen nach; es klingt ab. Und eines Tages stellten sie fest: Die Liebe ist uns abhanden gekommen, und dann kommt vielleicht einer der Partner zu Ihnen in die Sprechstunde und sagt: Wir verstehen uns nicht mehr, oder wir haben uns gar nichts mehr zu sagen...

DREWERMANN: Das Eine ist mir sehr wichtig zu betonen; 1/3 aller Ehen werden heute geschieden, und immer noch sitzen Moraltheologen und Juristen zu Werke, die den Menschen, die genug gelitten haben, und früher Jahrzehnte gekämpft haben um ihre Liebe, dies vorwerfen; als wären sie Freibeuter und Piraten der Gefühle. Ich kenne überhaupt keinen Menschen, dem in der Ehe oder in der Liebe die Beziehung gescheitert ist, und die hätten damit leicht umgehen können. Jeder, der dem anderen die Liebe verspricht, möchte mit ihm glücklich werden, bis das der Tod uns scheidet. Aber dann kann der Tod der Liebe früher eintreten als gedacht. Eine Möglichkeit ist: Man schreibt sich viel zu früh fest. Ehen, die zu früh geschlossen wurden; wie wenn man aus dem Fenster ins Freie springt; das Leben war unglücklich genug. Ein Mädchen von 17 oder 18-; das wollte eigentlich nur weg in eine andere Welt; dann trifft es einen jungen Mann, der ihm einfach dadurch, das er eine Alternative bietet, diese andere Welt zu verkörpern scheint. Liebt einander in diesem Zustand, und die Gefahr, vor lauter Angst jetzt; es muss ja gut gehen; man darf nicht wieder ganz alleine auf der Straße stehen, führt es dahin, das man in dieser Position sich festschreibt, und darauf sich gewissermaßen nicht weiterentwickelt. Oder ein Mädchen, das den Vater zu früh verloren hat, oder den Vater nur von einer Seite kennen gelernt hat, das sie ihn nicht lieben konnte, er war ein Alkoholiker, er war ein Wüstling, er ging fremd oder misshandelte die Mutter, kurz: Sie hat einen älteren Mann kennen gelernt. Als 18-jährige einen 35-jährigen als Vater-Ersatz. Gewusst hat sie es oder nur gehofft, das dies ein Ort ist, wo sie richtig leben kann; dann wird dieser ältere Mann diese junge Frau wahrscheinlich festschreiben in der Form, die er liebenswert findet. Die beiden werden schwerlich begreifen, das die Ehe oder das Zusammen-Sein überhaupt nun eine lange Entwicklung freisetzen wird. Gerade, weil die Liebe so stark ist, wird die Frau auch an Selbstbewusstsein gewinnen; sie wird nicht immer das suchende Mädchen bleiben; sie wird auch irgendwann eine Frau sein mögen. Das ganze Gefüge der Ehe müsst sich ändern zu Gunsten viel stärkerer Partnerschaft. Das Dominanzgefälle müsste aufhören. Nur die Frage ist: Kann der andere Partner diese Entwicklung eigentlich begrüßen; den Hut davor ziehen? Dann kann es plötzlich sein, das man sprachlos wird; der andere hat sich geändert. Für den kämpft man eine Weile noch; dann erlebt man; der andere versteht das nicht; der will die Maßschneiderei nicht länger an sich dulden; dann bricht es auseinander. Also das Eine kann sein; man schreibt den anderen fest; man verliert die Neugier; man arbeitet nur die alten Schemata ab oder man verträgt die Veränderung nicht.

Aber manchmal ist es so, das ein Partner dem anderen, den die Situation dann so gekommen ist, sagt: Du musst dich ändern. Und der Andere sagt zum Anderen: Du musst dich ändern.

DREWERMANN: Das man dem anderen vorwirft, das er ist, wie er ist, nur weil man sich selbst geändert hat... Ich muss hinzufügen, das diese Änderungen oft sehr stürmisch einbrechen können. Viele Menschen sind genötigt, gewissermaßen die zweite Lebenshälfte aufzunehmen, wenn die erste noch lange nicht abgeschlossen ist. Wie viele Frauen kenne ich, die eigentlich gar keine Mädchen sein durften, sondern sie mussten ganz schnell erwachsen werden. Indem sie dann Frauen sein durften, mussten sie schon wieder Mutter sein. Man hat sich selber ständig in der Woge der Entwicklung überholen müssen oder man musste mit 30 einen akademischen Titel haben, einen fertigen Beruf haben; so hat man dann geheiratet, man war Mediziner geworden, man hat alles erreicht und lebt jetzt seinen 10-Stunden-Tag, man lebt wie auf dem Traumpfad miteinander. Das mag gut gegangen sein, sagen wir 20 Jahre; nun gehen aber die Kinder aus dem Haus, und man lernt plötzlich einen anderen Menschen kennen. Der verkörpert plötzlich all das, was in diesem Tempo untergegangen ist, das einfach überlaufen wurde. Man spricht dann in der Psychologie dann gerne von Anima oder Animusliebe. Man meint damit, das man in sich eine männliche oder weibliche Seele trägt, die verloren ging. Und die Person des anderen ist wieder Seelenträger. Solche Beziehungen sind tatsächlich von einer unglaublichen Magie. Man weiß nicht, was geschieht. Es passiert plötzlich der Einbruch von etwas völlig neuem, und das ist jetzt für den Bestand der alten Ehe sehr die Frage, wenn man die Früchte eines ganz anderen Baumes im eigenen Garten eingepflanzt kriegt; ob das überhaupt geht.

Bei dem Thema, das wir anfangs ankündigten, ist die Frage, die Überzeile: Wie der Mensch sein Glück findet... Wenn wir an diesen Anfang zurückwollen und versuchen, eine Antwort zu geben... Wie findet denn der Mensch sein Glück?

DREWERMANN: Das Paradoxe ist, das die Menschheit uns beibringt, wir bräuchten alles mögliche, um glücklich zu sein. Man muss Glück haben ist schon das erste, was soviel ist wie das Leben als Lotteriespiel: Die sechs Richtigen. Oder man müsste bestimmte Dinge sich erwerben; dann, durch das Haben könnte man Glück präsentieren. Wohlstand etwa, Machtbesitz, Titel, die man vorzuzeigen hat. Die Liebe besteht eigentlich darin, all die Dinge für überflüssig zu erklären. Ich kenne viele Frauen, die ihre Männer aufgehört haben zu lieben, weil die Männer ständig darum buhlen, geliebt zu werden. Man hat ihnen beigebracht: Du wirst nur geliebt, wenn du ganz tüchtig bist; in der Schule, im Beruf, in der Firma, wenn du raketenförmig die Karriere abmachst, dann bestaunen und bewundern dich alle. Die Frau fühlt sich terrorisiert. Sie spürt, das ihr Mann dauernd wo anders ist. Er ist überhaupt keine Person; er ist nur eine Funktion und Rollenträger. Er vernichtet die Liebe gerade auf dem Wege, auf dem er sie zu erringen hofft. Er wird am Ende sehr unglücklich bei diesem absurden Bestreben, Glück zu machen. Und die Liebe besteht im Grunde in dem Empfinden, das man überhaupt nichts machen muss. Da zu sein ist unendlich kostbar. Das größte Geschenk ist, miteinander zu leben, buchstäblich. Einander zuzuhören; einander die Worte zu schenken, die bis dahin noch gar nicht sagbar waren, Gefühle zu ermöglichen, die bis dahin wie unterdrückt waren. Für viele Liebende ist es wie eine Offenbarung, das es kein Schamgefühl in diesem Sinne mehr geben muss. Man hat gelernt, das man so nicht sein darf, das nicht tun darf, immer musste man sich schämen; wie man als Mädchen schon aussah, war es nie richtig; wie man als Mann sich äußerte, war es zu blöde. Die Liebe entdeckt wie ein Freispruch für das Alles; das man gerade indem, was scheinbar immer wieder vermieden werden musste, doch sein darf. Die Liebe ist ein Freispruch, eine endgültige Zusage: Du darfst, du kannst, ja in gewissem Sinn, du musst so sein, wie du bist. Das ist das ganze Glück. Es ist soviel, wie wenn die Sonne mit ihren Strahlenfingern über die Gärten geht, und alle Blumenknospen wach küsst. Sie tut nichts mehr, als das sie Wärme schenkt. Das ist die ganze Liebe. Sie weckt das Leben in der ganzen Fülle. Und Glück ist richtig und energisch von innen her. So zu leben, das es stimmt.

 

(Interview mit dem Theologen Eugen Drewermann)