Eugen Drewermann: "Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Der Wolf und die sieben Geißlein"
Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet
Ein sagenhaftes Buch, das die Märchen in einem neuen Licht erscheinen lässt, vielen vielleicht aus der Kindheit offen gebliebenen Fragen auf den Grund geht und Deutungen versucht, die durchaus nachvollziehbar erscheinen.
Ich möchte in meiner Rezension auf das Märchen "Hänsel und Gretel" eingehen, das wohl jedem deutschsprachigen Kind bekannt ist und so genial den Wunsch aller Kinder nach Süßigkeiten und als Kontrast bittere Armut darstellt.
Das Schicksal von Hänsel wird wohl nur nachvollziehbar, wenn der Leser bereit ist, sich mit Armut und deren wirklicher Bedeutung auseinanderzusetzen. Hier sprechen wir von dem tatsächlichen Hungern am Rande des Existenzminimums. Dieses Märchen setzt sich auf eindringliche Weise mit dem Albtraum, speziell für jedes Kind, auseinander, arm zu sein. Der Zwiespalt von Mutter und Vater wird aufgegriffen und verdeutlicht, wie verzweifelt ein Mensch sein muss, der verstößt was er liebt, nur weil er keine Möglichkeit sieht, es zu beschützen. Ein Thema welches auch oder gerade heute wieder topaktuell zu sein scheint.
Sehr intensiv wird auch darauf eingegangen, wie beharrlich gerade Hänsel versucht, den Weg zurück aus dem Wald zu seinem Elternhaus zu finden. Die Frage warum Kinder, die verstoßen werden, immer wieder an den Ort ihrer Zurückweisung zurückkehren, wird ausführlich beantwortet. Ein Kapitel ist dem Essen und dem Gegessenwerden gewidmet. So ist erstaunlich, dass ein Kind sich geradezu das Brot vom Mund abspart, um zu seiner Mutter zurückzufinden, die es eigentlich los werden wollte. Also Liebe durch eine Art von Verzicht, durch Hungern zu erreichen. Sehr anschaulich wird in diesem Zusammenhang auf die Problematik der Magersucht eingegangen und auch damit ein Bogen zum Heute gespannt.
Sehr interessant auch die Deutung, dass Hänsel und Gretel als die weiblichen und männlichen Anteile im Hänsel gesehen werden können. So wird beschrieben, dass "Gretel" in dieser Funktion erkennt, dass die Zusammenarbeit mit der "Hexe" (welche die negativen Anteile der Mutter beschreiben soll) ein Ende haben muss, was so interpretiert wird, dass gerade bei der Magersucht irgendwann eine Entscheidung zwischen dem Leben und dem Tod ansteht. Diese Entscheidung wurde im vorliegenden Märchen zugunsten des Lebens getroffen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass Tötungen von Hexen, Riesen, etc. in Märchen niemals den physischen Tod meinen, sondern dass bestimmte ängstigende Vorstellungskomplexe verschwinden.
Die Entwicklung des "Hänsel und Gretel"-Jungen, die sich im Laufe dieses Märchens vollzieht, ermöglicht letztendlich das Getto aus Angst, Unsicherheit und Abhängigkeit zu verlassen, die Ablösung vom Elternhaus zuzulassen und damit die Möglichkeit zu schaffen, der Mutter auf einer Erwachsenenebene zu begegnen.
Eine sehr spannende Deutung, die viele Denkanstöße bietet und trotz aller Dramatik einen positiven Ausgang findet. Nochmals möchte ich am Ende meiner Rezension dieses Buch jedem ans Herz legen, der bereit ist, sich für tiefenpsychologische Deutungen zu öffnen und Parallelen zu erkennen, die durchaus auch schmerzhaft sein mögen.
Eugen Drewermann wurde 1940 geboren, war Priester und Dozent in Paderborn, bis er wegen seiner grundlegenden Kirchenkritik in Konflikt mit der katholischen Amtskirche geriet. Seitdem ist er als Therapeut und Buchautor tätig.
(margarete; 04/2003)
Eugen Drewermann: "Hänsel und Gretel, Aschenputtel,
Der Wolf und die sieben Geißlein.
Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet"
dtv, 2003. 505 Seiten.
ISBN 3-423-35163-2.
ca. EUR 14,50.
Buch bestellen