Feindbild Schiedsrichter?


Die Wogen gehen oft hoch, wenn der Schiedsrichter eine Entscheidung trifft, die offensichtlich oder möglicherweise falsch ist. Beschimpfungen sind nicht zu überhören, und manchmal kennt der Ärger keine Grenzen. Der Schiedsrichter steht im Rampenlicht, wenn er sich spielentscheidend in Szene setzt. Anlässlich der vom Fußballplatz nicht wegzudenkenden Schiri-Beleidigungen stellt sich die Frage, wie sich das Feindbild vom Schiedsrichter in den Herzen und Seelen der Fans etablierte.

Der Schiedsrichter ist von seiner Funktion her gesehen dazu da, als neutraler Beobachter des Spielgeschehens dann einzugreifen, wenn es dem Regelwerk des Fußballsports bedarf. Nicht immer ist er auf Ballhöhe; manchmal derart langsam, dass er gewisse Geschehnisse kaum wahrnehmen kann, und sich somit auf seine Assistenten verlassen muss. Nur wenige haben soviel Mumm wie Collina, hart durchzugreifen, und als Autoritätsperson respektiert zu werden.

Vermutung Numero 1 ist: Der Schiedsrichter gebärdet sich wie eine Autoritätsperson oder aber spiegelt diese zumindest vor. Für manchen Zuschauer mag es Anmaßung sein, was sich so ein Schiri erlaubt! Er trifft Entscheidungen, die nicht zu fassen sind. In solchen Momenten verliert dieser Mensch an Qualitäten und degradiert sich in den Augen vieler Fans zu einem "Ungustl", der nicht mal grade pinkeln kann. Er wird minimiert in eine "Pfeife", und somit hat er bestenfalls mit einem "Pfeifkonzert" zu rechnen. Doch sei hierzu angemerkt, dass der mittlerweile in verschiedensten Farben gewandete Schiedsrichter keine Autoritätsperson ist. Collina ist da keine Ausnahme. Ein Spielleiter kann keine Autoritätsperson sein, sondern übt vielmehr eine mediatorische Funktion aus. Wenn zwei sich streiten oder aber der eine dem anderen ein Haxl stellt, hat er einzuschreiten und dementsprechende Maßnahmen zu setzen, die im extremsten Fall einem Spieler die Weiterarbeit versagt. Der eine oder andere Zuschauer mag den Schiedsrichter im Sinne von Freud mit der Respektsperson "Vater" gleichsetzen und die Anweisungen dieses Herrn bezweifeln. Es ist eine Rebellion gegen eine "herrschende Person", die eigentlich zum Herrschen keine Berechtigung hat. Ja, und das Interessante daran ist, dass es eine Einbildung des einen oder anderen Zuschauers ist, es mit einer "herrschenden Person" zu tun zu haben. Und wenn der Schiri eine noch so große Pfeife ist, ist er doch ein Mensch, der als Spielleiter zu nichts Höherem berufen ist.

Da springe ich gleich zu Vermutung Numero 2: Dem Schiedsrichter wird es krumm genommen, falsche oder scheinbar falsche Entscheidungen zu treffen. Hier trifft sich der Jäger mit dem Bock. Der Zuschauer will den Bock schießen, welcher tut, was er will und die Konsequenzen nicht bedenkt. Dieser Spielleiter ist zu Fehlern ebenso fähig wie der geneigte Zuschauer. Der Zuschauer identifiziert sich mit einer Mannschaft und da ist es klar, dass Entscheidungen GEGEN diese Mannschaft für das Selbstwertgefühl ehrenrührig sind. Wer die Würde der Mannschaft mit Füßen trifft, verdient einen Linkshaken mitten in die kühl lächelnde Fratze! So schaut's aus, der Herr! Allerdings treffen wir alle falsche Entscheidungen. Täglich. Manche Fehlentscheidungen sind im Kontext des Lebens nicht der Rede wert, und werden das berühmte Radl in Peking nicht umschmeißen. Andere Fehlentscheidungen wiederum können das eigene Leben nachhaltig negativ oder positiv beeinflussen. Das versäumte Flugzeug wird zu einem "Glückssymbol", wenn in den Nachrichten die zertrümmerte Maschine ins Bild rückt. Das Leben ist eine Folge von Irrtümern, aus denen ein Lernprozess resultieren oder aber pure Frustration entstehen kann. Der Schiedsrichter irrt. Und zwar in jedem Spiel mehrfach. Das ist unmöglich auszuschließen, da er ein Mensch ist, der selbstverständlich Fehler begeht. Er wird bemüht sein, möglichst wenige Fehler zu machen; aber wer kann es ihm übel nehmen, manchmal völlig daneben zu liegen?

Eine letzte zu betrachtende Vermutung: Der Schiedsrichter bricht den Willen der Masse.

Hierbei kann auf das wunderbare Buch "Masse und Macht" von Elias Canetti hingewiesen werden. Die Fans einer Mannschaft bilden eine verschworene Gemeinschaft, die es nicht dulden mag, von einem Schiedsrichter gegängelt zu werden. Er richtet sich gegen das positiv demonstrierte Gemeinschaftsgefühl, wenn er in letzter Minute einen Elfer gibt, der nie und nimmer einer sein kann. Die Fans sind besonders zusammengeschweißt, wenn der Schiedsrichter der geliebten Mannschaft nicht nachvollziehbare Entscheidungen GEGEN das Gefühl der einheitlichen Harmonie trifft. Was der Zuschauer insgeheim wünscht, ist jene Harmonie, die sich nur auf dem Fußballplatz ausbreiten kann, und sehr schnell zu einem kratzbürstigen Gegeneinander wird, wenn der Schiedsrichter die Mannschaft verpfeift.

Das Feindbild Schiedsrichter hat die Herzen der Zuschauer längst erobert. Doch gibt es auch ein Gegenbild? Eine der wenigen bekannten Fußball-Schiedsrichterinnen ist Nicole Petignat.

Eine hübsche, zierliche Frau, der man doch nicht böse sein kann, oder? Leider aber doch.

Denn im Falle von Frau Petignat und anderen weiblichen Spielleitern kommt ein neues Prädikat ins Spiel, das manche Zuschauer in böse Monster verwandelt. Es ist diese verfluchte Emanzipation; diese grauenhafte Fratze der Frauengleichberechtigung. Ja, so argumentieren die Herren, wenn 22 Männer nach der Pfeife einer Frau tanzen sollen. Dabei sollen sie ja gar nicht danach tanzen, sondern den Regeln entsprechend am Feld agieren. Gehässigkeiten gegenüber Frauen sind wohl das Letzte, was auf einem Fußballplatz stattfinden mag. Denn in diesem Falle lassen nicht wenige Zuschauer die drei beschriebenen Möglichkeiten des Schiedsrichters als Feinbild nicht gelten: Eine Frau kann nie eine Respektsperson sein. Eine Frau hat NICHT zu entscheiden. Eine Frau kann sich nicht gegen den Willen einer männerdominierten Gemeinschaft verschwören. Doch die Frau hat, das kann ich euch sagen, etwas ganz Besonderes im Köcher: Sie kennt die Männer besser als diese sich selbst.

In diesem Sinne wäre es nur allzu gut, wenn mehr Frauen als bisher die "harten Männer tanzen lassen". Im Laufe der menschlichen Evolution könnte sich dann ja das Gegenbild durchsetzen, und Friedfertigkeit die Seelen der Fans wärmen. Aber wer glaubt schon an Märchen in diesen düsteren Zeiten?


(Jürgen Heimlich)