Pierluigi Collina: "Meine Regeln des Spiels"
"Wenn es uns nicht gelingt, die Werte des Miteinanders und der gegenseitigen Achtung mit neuem Leben zu erfüllen, sieht die Zukunft des Fußballs sehr düster aus. Und leider nicht nur die des Fußballs."
(Pierluigi Collina)
In Zeiten, wo jeder selbsternannte
"Star" mindestens ein Buch auf den Markt zu bringen sich auserkoren sieht, und
die Medien unglaubliche Kampagnen durchziehen, sodass diese absurden
(Auto-)biografien rasenden Absatz finden mögen, tut es gut, Pierluigi Collina
ein wenig über die Schulter schauen zu können. Dieser Mann, der bekannteste
Fußballschiedsrichter der Welt, welcher verdientermaßen fünfmal zum weltbesten
Schiedsrichter gewählt wurde und ist, konzentriert sich darauf, über seine
Erfahrungen als Schiedsrichter zu schreiben und gibt über sein Intimleben
überhaupt nichts preis.
Der Schiedsrichter ist ein "liebenswertes"
Hassobjekt vieler geneigter Fußballplatzbesucher. Collina tut alles, um die Vorurteile,
welche schnell gegen den Unparteiischen gebildet werden, durch sehr viel
Hintergrundinformation über Leben und Streben der Schiedsrichter zu entkräften.
Das erste Kapitel stellt den Höhepunkt in der Karriere von Collina dar. Er
leitete bekanntermaßen das WM-Finale 2003, in der die dem Gegner in allen
Belangen weit überlegenen Brasilianer der deutschen Nationalmannschaft deren
Grenzen aufzeigten. Es ist freilich für den Autor bedauerlich, dass er bei der
nächsten Weltmeisterschaft, die fälschlicherweise in Deutschland ausgetragen
werden wird, aufgrund seines für Schiedsrichter zu hohen Alters nicht mehr dabei
sein kann. Er wusste also während des WM-Finales, dass dies sein letztes
geleitetes Spiel einer Weltmeisterschaft sein würde. Sein Plädoyer für das
Aufheben der Altersbeschränkung für Schiedsrichter ist absolut berechtigt, da es
ja nicht sein kann, die bestausgebildeten "Pfeifenmänner" nur deswegen
auszuschließen, weil sie ein gewisses Alter erreicht haben. Entscheidend sollten
die Leistung am Feld sowie die konditionellen Werte sein.
Das
verrückteste Spiel, welches Collina leiten durfte, ist mit Sicherheit vielen
österreichischen Fernsehzuschauern bestens in Erinnerung. Es handelt sich um das
CL-Finale des Jahres 1999 zwischen Manchester United und Bayern München. Aus der
Sicht eines Schiedsrichters war es für ihn ein gutes Finale, da in 90 Minuten
nicht allzu viel passierte. Er hatte das Spiel sozusagen "im Griff". Die Bayern
waren schon früh in Führung gegangen, hatten - wie in solchen Fällen immer -
nach dem Führungstreffer das Spiel kontrolliert, und die Mannen von Manchester
anrennen lassen, während sie auf Konter lauerten, die sich zwangsläufig ergaben.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass zwei dieser Konter an Lattenkreuz und Stange
endeten. 90 Minuten waren vorbei, und Collina freute sich innerlich darüber,
dass alles so ruhig verlaufen war. Die Bayern führten, und die verzweifelten
Manchester-Angriffe führten zu keinem nennenswerten Erfolg. Nunmehr kamen aber
die aufregendsten drei Minuten Nachspielzeit, die es je in einem so wichtigen
Finale in Europa gegeben hatte. Collina zeigte seinem Assistenten die
Nachspielzeit an, und nur wenige Sekunden danach kam es zu einem Eckball für
Manchester.
Der Ball segelt herein, wird von einem Bayern-Verteidiger
etwas unglücklich aus dem Strafraum geschlagen; Giggs kommt zum Ball, haut
volley auf das Leder, und Sheringham kommt völlig unbedrängt zu einer
Verlängerung dieses Schusses, die ins Ziel führt. Ausgleich! Für Collina eine
keineswegs "gewünschte" Situation, da er sich auf mögliche 30 Minuten
Verlängerung gefasst machen muss. Für einen Schiedsrichter ist es freilich eine
zusätzliche psychische und physische Belastung, ein Spiel bis in die
Verlängerung zu leiten, keine Frage. Während also der Rezensent über diesen
Ausgleich jubelte, hatte Collina keinen Grund zu "jubeln". Doch glücklicherweise
musste der Unparteiische keine Überstunden machen: Fünfundvierzig Sekunden vor
Ende des Spiels nämlich lenkt Kuffour einen Ball zur Ecke. Beckham schießt den
Ball hoch in den Strafraum, Sheringham erwischt ihn mit dem Kopf, verlängert
weiter zu Solskjaer, der zwei Meter vor dem Tor stehend problemlos einnetzen
kann. Ein unglaubliches Gebrüll der Fans von Manchester geht durchs Stadion, das
wohl kein interessierter Zuschauer vergessen haben wird. Auch vor den
Fernsehschirmen muss es sich ganz schön abgespielt haben; ich bin mir sicher,
dass mein Jubelschrei nicht der einzige in österreichischen und deutschen
Haushalten (mit Ausnahme von Bayern) war. Die Spieler von Manchester jubeln im
Siegesrausch, während die Bayern-Spieler fast besinnungslos auf dem Boden
herumkugeln. Doch das Spiel ist noch nicht zu Ende. Also ermuntert Collina
Effenberg, (der übrigens im Unterschied zu Collina als Autor ähnlich gut
geeignet ist wie Otto Wanz zum Bodybuilder) gibt ihm einen Klaps, versucht dann,
den weinenden Kuffour hochzuziehen, und schließlich kann wieder angepfiffen
werden. Nur wenige Sekunden später ist das Spiel zu Ende und nicht nur Collina
ist der Meinung, dass aus diesem so lange Zeit normalen Spiel das Finale des
Jahrhunderts wurde.
Collina lässt den Leser nicht nur an diesen
glänzenden, unvergessenen Spielen aus seiner Sicht teilhaben, sondern gibt
Einblick in den Beruf des Schiedsrichters, der weit über das hinausgeht, was die
Tätigkeit am Spielfeld betrifft. Angefangen von der Entscheidung, Schiedsrichter
zu werden und sich zur Ausbildung zu entschließen, über die ersten Spiele in
unteren Klassen bis hin zum
Konditionstraining
reicht die Palette der Informationen. Alles angereichert durch die persönlichen
Erfahrungen, die Collina im Laufe seines Lebens als Schiedsrichter machen
durfte. Äußerst wichtig ist es etwa darauf hinzuweisen, dass auch ein
Schiedsrichter ein Vorbereitungsprogramm zu durchlaufen, viele
Trainingseinheiten während der Woche zu absolvieren und mehrere Meetings im
Laufe des Jahres einzuhalten hat. Die Schiedsrichter sind, darauf ist der
ausgebildete Finanzberater auch stolz, eine Gemeinschaft von Menschen, die sehr
viel zusammen unternimmt und große Verantwortung füreinander hat. So ist es für
altgediente Schiris selbstverständlich, dem Nachwuchs mit Rat und Tat zur Seite
zu stehen. Gewisse konditionelle Werte müssen erbracht werden, um als
Schiedsrichter überhaupt zugelassen zu werden. In Italien verhält es sich so,
dass die Kriterien in den letzten Jahren nochmals verschärft wurden, was aber
nichts daran ändert, dass jeder der regelkundigen Spielleiter des Fußballs
konditionelle Werte weit über der gewollten Norm erbringt.
Collina
bereitet sich als gewissenhafter im Zeichen des Wassermanns geborener Mensch
darauf vor, ein Spiel zu leiten. Er trifft üblicherweise eineinhalb Stunden vor
dem Spiel auf dem Platz ein und führt gewisse Rituale durch, die ihn beruhigen.
Die Besichtigung des Platzes ist wesentlich, ebenso die Überprüfung der
Ausrüstung und notwendigen Utensilien. Außerdem macht er kurz vor dem Spiel,
ähnlich wie die Spieler, ein Aufwärmprogramm von etwa 20 Minuten. Nach dem Spiel
fährt er nicht sofort nach Hause, sondern bespricht seine Leistung mit dem
Schiedsrichterbeobachter. Es wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,
dass in Italien in Tageszeitungen nicht nur die Spieler benotet werden, sondern
ebenso der Schiedsrichter. Und zwar nicht oberflächlich, sondern fundiert. Er
wird, sozusagen, in die "Mangel" genommen, und falsche Entscheidungen können ihn
somit noch tagelang verfolgen. Da kann er es freilich nicht erwarten, auf das
nächste zu leitende Spiel zu warten, sodass er seinen Fehler wieder ausmerzen
kann. Sollte der Fehler jedoch besonders schwerwiegend gewesen sein, ist es
leicht möglich, dass dem Spielleiter eine "Ruhepause" verordnet wird, bis sich
die Wogen geglättet haben.
Collina schreibt ausführlich darüber, dass
kein Schiedsrichter der Welt "fehlerlos" sei. Das ist eine Unmöglichkeit, welche
die Zuschauer eines Spiels freilich oft außer Rand und Band bringen kann. Er
muss sich in gewissen Situationen, wo er nicht auf Ballhöhe ist bzw. die
Situation nicht zur Gänze einschätzen kann, auf den Schiedsrichterassistenten
verlassen, der übrigens mit ihm durch die "Fahne" elektronisch verbunden ist.
Somit kann der Assistent den Schiedsrichter sofort informieren, insofern er
etwas Entscheidendes beobachten konnte. Der Buchtitel "Meine Regeln des Spiels"
kommt hierbei zum Tragen. Denn der Schiedsrichter hat gewisse Möglichkeiten, die
er in speziellen Fällen ausspielen kann. Eine dieser Möglichkeiten ist es etwa,
ein gegebenes Tor zu annullieren, insofern das Spiel noch nicht fortgesetzt
wurde. Dies hat Collina im Laufe eines Spiels der "Seria A" Italiens getan, und
die Spieler haben es ihm zum Teil sogar gedankt, da die Annullierung des Tores
wegen Abseits richtig war! Der Schiedsrichter hat auch die "Macht", einen
Assistenten zu "overrulen", insofern er sich sicher ist, dass dies seine
Richtigkeit hat. Davon konnte ich mich erst vor kurzem bei einem Spiel meiner
Lieblingsmannschaft überzeugen. Es ist natürlich eine "brenzlige" Entscheidung,
einem wild mit der Fahne eine Abseitsstellung anzeigenden
Schiedsrichterassistenten zu deuten, dass alles in Ordnung sei. Andererseits ist
es natürlich klar, dass Collina wie jeder andere Schiedsrichter schon
Fehlentscheidungen getroffen hat, die spielentscheidend waren. Der Zuschauer hat
hierbei oft einen besseren Standort, was ihn dazu veranlasst, Beschimpfungen
sondergleichen gegen die "Pfeife" auszustoßen. Allerdings ist es auch möglich,
den Unparteiischen höflich auf den Fehler aufmerksam zu machen. Als jahrelanger
Fußballfan ist mir dies alles schon untergekommen. Der Schiedsrichter kann also
Fehler machen, und es heißt nicht, dass jener Unparteiische der Beste sei, der
am wenigsten Fehler macht. Denn einen Fehler zu machen heißt gleichzeitig auch,
in das Spiel einzugreifen. Englische Schiedsrichter bevorzugen es ja allgemein,
ein Spiel laufen zu lassen, und also nicht zu "verpfeifen". Das führt allerdings
dazu, dass so manche Ruppigkeit (und somit Regelverstoß) ungeahndet bleibt.
Collina kennt die Regeln des Spiels ganz genau, kann aber in bestimmten Momenten
"eigene Regeln" aufstellen, insofern dies den Gegebenheiten angemessen ist. In
punkto Fehler ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass aufgrund der Zeitlupe jede
Kleinigkeit ins Bild gebracht werden kann. Allerdings verfolgen mindestens zwölf
Kameras das Spiel, während der Schiedsrichter nur zwei Augen hat. Also,
irgendwie klar, dass es unmöglich ist, jeden Regelverstoß sogleich zu sehen und
zu ahnden.
Collina beschreibt dankenswerterweise auch sein persönliches
Verhältnis zum Fußball. Viele Fußballfans lassen diesen Punkt in Bezug auf den
Schiedsrichter gern außen vor. Tatsache ist, dass nur ein Mensch Schiedsrichter
sein will, der ein großes
Interesse
für Fußball hat.
Im Falle von Collina hat er schon früh selbst
Fußball zu spielen begonnen. Während seiner gesamten Kindheit und Jugend war das
runde Leder sein Ein und Alles. Er spielte u. a. später auch in einer
Studentenmannschaft. Irgendwann fragte ihn dann ein Freund, ob er denn einen
Schiedsrichterlehrgang absolvieren wolle. So begann die Karriere des Mannes mit
der Glatze. Für alle, die es noch nicht wissen: Collina hat aufgrund einer
Erkrankung seine Haare verloren. Wenn sich jetzt so mancher Spieler eine Glatze
oder Kurzhaarfrisur zulegt, hat dies mit der "Mode", die für manche Collina
möglicherweise präsentiert, nichts zu tun.
Jedenfalls besuchte er schon
in frühester Kindheit Spiele von Bologna und ist bis heute Fan geblieben. Auf
der anderen Seite hat er ebenso zu Basketball einen intensiven Bezug. Fußball
hat aber selbstverständlich die höhere Wertigkeit. Als junger Schiedsrichter
genoss er es besonders, zu den Spielen seiner Mannschaft gratis gehen zu können.
Ein Privileg, das Schiedsrichtern zukommt. Die berührendste Episode des Buches
hat mit Collinas aktiver Fußball"karriere" zu tun. Einer seiner Champions war
ein Spieler, mit dem er gemeinsam in der schon angesprochenen
Studentenmannschaft gespielt hat. Sein Name war Luca Borghi. Er war einer seiner
besten Freunde und starb schon früh wegen einer Krebserkrankung. Collina ist
davon überzeugt, dass sein Freund das WM-Finale 2002 von "dort oben" verfolgt
hat. Dies hat er nach Ende dieses Spiels dadurch bekräftigt, dass er eine Geste
gen Himmel richtete. Neben seinem besonderen Champion ist David Beckham der
Lieblingsspieler von Collina, wobei er dies nicht näher begründet.
Wie
mit dieser Rezension angedeutet werden will, handelt es sich bei diesem Buch um
ein ungeheuer informatives Werk, das einen glänzenden Einblick in die Welt der
Schiedsrichter vermittelt. Umso notwendiger erscheint es, zum Abschluss einen
kleinen Kritikpunkt anzubringen. Collina schreibt voller Stolz davon, dass er
sein Abitur "glänzend" absolviert habe, als Student "ausgezeichnet" gewesen sei,
als Schiedsrichter einer der wenigen "Auserwählten" ist, der sich dies auch
verdient. Es wäre im Sinne der Sache dienlich gewesen, hätte er sich ein wenig
in Bescheidenheit geübt. Wir Fußballfans wissen alle, dass dieser Mann ein
besonders aufmerksamer und regelkundiger Schiedsrichter ist. Nicht zu Unrecht
hat er es zu seinen "Ehren" gebracht. Aber warum schlachtet er dieses Bild
dadurch aus, dass er auf Leistungen hinweist, die kaum einen Leser
interessieren, und eine gewisse Überheblichkeit offenbaren? Wenn er etwa meint,
dass von 25.000 Schiedsrichtern
in Italien nur 35!!! in den obersten beiden
Leistungsklassen des italienischen Fußballs Spiele leiten dürfen, und es jeder
ausgezeichnete Schiedsrichter früher oder später schafft, dorthin zu gelangen
(wo nunmehr also Collina selbst seit Jahren ist), dann diskreditiert dies die
Leistungsfähigkeit einer Vielzahl von Schiedsrichtern, ohne dass dies
möglicherweise in seinem Interesse ist. Denn auf der anderen Seite beschreibt
Collina ja die vielen Entbehrungen, die gerade Schiedsrichter zu tragen haben,
welche in unteren Leistungsklassen beschäftigt sind. Vom Zeitaufwand her gibt es
hier nämlich nur diesbezüglich Unterschiede, da "höhere" Schiedsrichter auch
internationale Begegnungen zu leiten haben. Und Collina gibt ja immerhin zu,
dass er für seinen "Zweitjob" überdurchschnittlich gut bezahlt ist. Es wäre dem
Buch sehr zugute gekommen, hätte sich Collina diese Bemerkungen zu seinen
"ausgezeichneten" Leistungen verkniffen. Er mag darauf stolz sein, das bleibt
ihm unbenommen. Aber es wirft insbesondere auf jene Schiedsrichter ein
schlechtes Licht, die sich Jahr für Jahr auf irgendwelchen Provinzplätzen damit
abplagen, ihrer Leidenschaft zu frönen.
Abgesehen von diesem kleinen
Makel ist dieses Buch als besonders gelungen einzustufen. Es ist freilich kein
Meisterwerk in literarischem Sinne; jedoch offenbart es Dinge, die auf diese
Weise nirgends anders beschrieben wurden und somit eine Lücke füllen, von der
nicht nur Schiedsrichter, sondern ebenso Fans und Spieler profitieren können.
"Schiedsrichter sind auch nur Menschen", könnte der Untertitel des Buches heißen
...
(Jürgen Heimlich; 12/2003)
Pierluigi Collina:
"Meine Regeln des Spiels"
(Originaltitel "Le regole del
gioco")
Übersetzt aus dem Italienischen von Bruno Genzler.
Mit einem
Vorwort von Rainer Moritz.
Hoffmann & Campe, 2003. 224 Seiten.
ISBN
3-455-09398-1.
ca. EUR 17,90.
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