Helmut Pfotenhauer, Sabine Schneider: "Nicht völlig Wachen und nicht ganz im Traum"
Die Halbschlaflieder in der Literatur
Wachdelirium
"Die
Halbschlafbilder als Literatur - das ist das Thema dieses Buches. (...) Von
einem inneren Sehen ist da die Rede, das weder wacher Gedanke ist noch
Symbolsprache des Traumes" - so lesen wir es in der Einleitung. Verwiesen wird
dabei auf E.A. Poes Begeisterung und Verzweiflung zugleich über diese Visionen
in Bruchteilen von Sekunden, die nicht nur überraschend auftreten, sondern sich
auch der Verwortung zu entziehen scheinen. Für
Kafka sind diese Bilder aus dem
Zwischenzustand aus Schlafen und Wachen eine Qual. Sprachlich ist das Erfassen
solcher Schwellenbilder zweifelsohne eine poetogene Herausforderung - aber auch
Wissenschaften wie Psychoanalyse oder Semiotik befassen sich mit diesem
Phänomen. Es geht dabei auch um das Ausloten der Grenzen von Zeichensystemen
bildlicher bzw. sprachlicher Provenienz.
U.a. hat sich auch
H. v.
Hofmannsthal mit diesem Zwischenstadium beschäftigt, welches im Chandos-Brief
als "verworren" bezeichnet wird. Bei Jean Paul heißen diese Eindrücke
"Empfindbilder" - später nennt man sie fantastische Gesichtserscheinungen oder
hypnagoge Bilder des Halbschlafs, die sich durch die Einheit von detaillierter
Nähe und Verschwimmen in der Ferne charakterisieren lassen. Im übrigen findet
sich im 8. Kapitel des 2. Teils von Goethes "Wahlverwandtschaften" ein locus
classicus solcher Bilder im Halbschlaf. Pfotenhauer erläutert etwa auch am
Beispiel von Jean Pauls "Hesperus" diese "Poesie des Grenzenlosen", die
"Zeichenwelt des Dazwischen."
Goethe sprach ja von einem "krankhaften
Sehen" mit einem "falschen Organ", wenn er E.T.A. Hoffmanns Schreibweise
kritisierte - dabei wird eben der Blick im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt!
Hoffmann selbst nannte dies ein "Sehen von innen", was Goethe schlichtweg als
"Delirium" abqualifizierte. Man könnte freilich Goethes Ressentiments gegenüber
den Romantikern verstehen, wenn man Äußerungen von Tieck liest wie: "Sobald ich
die Augen zumachte, war mir als schwämme ich auf einem Strom, als löste sich
mein Kopf ab."
Momente der entgrenzenden Visionen, ein
intensiv-schauriges Außersichsein bis zum verwirrenden Identitätswechsel - dies
sind quasi auch Erkundungen überbordender Imaginationsprozesse. Die Muse küsst
den Künstler in Trance - oder er erfährt einen kunstreligiösen Gnadenakt -
Adrenalin - Endorphine - Orgasmus. Es ist eine meta-physische, eine emotional
überreizte Verfassung des Künstlers, die einem Wahn gleichen mag. Das
ästhetische Delirium zeigt dem euphorischen Künstler Bilder, die er niemals mit
seinen beschränkten materiellen Mitteln umsetzen kann - auch wenn dies etwa bei
E.T.A. Hoffmanns "Elixiere des Teufels" mit am heftigsten versucht wird.
Hoffmann verfolgt sein Konzept des "wirklich Schauens", und er stellt sich die
Aufgabe, seine hypnagogen Bilder für den Leser ein Gutteil zu entwirren.
Schneider spricht hier von einer "Poetik des Konfusen, aber Klaren." Und bei
Pfotenhauer heißt es: "Ein Schauen höherer Ordnung stellt die Gemeinschaft von
bildlicher und literarischer Imagination her." (Nüchterner lässt sich wohl kaum
über einen Rauschzustand parlieren?!).
Das Interessante in all den
vorliegenden Untersuchungen scheint das "Übergängliche" (Pfotenhauer) zu sein,
worin sich eine cognitio clara et confusa offenbart. Indem der
vorliegende Band neben der Analyse literarischer Manifestationen ebenso
wissenschaftliche Erkenntnisversuche (Geistersehen, Magnetismus,
Psychoanalyse
etc.) vorstellt und diskutiert, finden wir hier zahlreiche Querverbindungen und
Anregungen zum Verständnis bzw. zur Interpretation etlicher Werke von Autoren um
1800 und 1900 - bzw. die Einsicht darein, weswegen unserem Verständnis Grenzen
gesetzt sind. Die Materie ist äußerst komplex - doch eine geduldige Lektüre
dieses Buches kann nur empfohlen werden. Das Wachdelirium ist wahrscheinlich der
inspirative Geschehnisraum, in dem uns die Ästhetik von allen Zwängen und Regeln
befreit.
(KS; 03/2006)
Helmut Pfotenhauer, Sabine Schneider: "Nicht
völlig Wachen und nicht ganz im Traum"
Königshausen & Neumann, 2006.
165 Seiten.
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Helmut Pfotenhauer ist seit 1987
Lehrstuhlinhaber für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität
Würzburg. Er hat Bücher geschrieben u. a. über Benjamin,
Nietzsche, Literarische
Anthropologie, Klassik und Klassizismus um 1800, Sprachbilder in der Literatur
des 18. und 19. Jahrhunderts, dazu zahlreiche Aufsätze zur Literatur, Ästhetik
und den Wissenschaften.
Sabine Schneider ist seit 2005 Lehrstuhlinhaberin für
Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Sie habilitierte sich 2004
in Würzburg mit einem Buch über die Verheißung der Bilder für die Literatur um
1900.