Momme Brodersen: "Walter Benjamin"
Der linke Außenseiter
Zur Suhrkamp-Reihe 'Basis Biographien' entsteht nach und nach eine
Hörbuch-Reihe bei Hoffmann und Campe. Brodersens
Ausführungen zu Benjamin werden hier nun von drei Sprechern
dargeboten, wodurch ein ebenso informatives wie abwechslungsreiches
Hörerlebnis entstanden ist. Entsprechend dem
Hörbuch-Reihentitel 'Leben Werk Wirkung' ist die erste CD dem
Leben, die zweite CD Werk und Wirkung gewidmet. Walter Benjamin
(1892-1940) war Philosoph und Gesellschaftstheoretiker,
Literaturkritiker und Übersetzer - somit in der Hauptsache
politisch und literarisch denkend. Das vorliegende Projekt teilt
Benjamins Leben in 6 Perioden ein.
Die 1. Phase (1892-1912) umfasst Kindheit und Jugend in Berlin: seine
wohlhabende Familie gehörte dem assimilierten Judentum an, er
engagiert sich (bis zu deren späterer Aufspaltung) in der
Jugendbewegung, wo er auch seinen Freund, den Autor C.F. Heinle
kennenlernt. In der Schülerzeitung hat er seit 1910 seine
ersten Veröffentlichungen, zunächst Gedichte, dann
Aufsätze. Zu seiner Cousine Gertrud Kolmar hatte er eine
langjährige geistige Beziehung. In persönlicher
Initiative eignete er sich Kenntnisse über die moderne
Literatur an.
Die 2. Phase (1912-1919) kennzeichnet sein Studium im Zeichen des
Ersten Weltkriegs:
Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in
Freiburg, Berlin und München. Der Freitod Heinles im Jahr 1914
ist für Benjamin ein tiefer Schock. Mit dem Beginn des Ersten
Weltkriegs beginnt eine Periode öffentlichen "beredten
Schweigens". Er lernt 1915 Gershom Scholem kennen, mit dem er
lebenslang befreundet sein wird. Er bekommt Kontakt zu
Rilke
und
George.
1917 heiratet Benjamin und zieht nach Bern, um nicht zum
Militär einberufen zu werden. Hier lernt er Ernst Bloch und
Hugo Ball kennen und promoviert über das Thema 'Der Begriff
der Kunstkritik in der deutschen Romantik'.
Die 3. Phase (1920-1923) zeigt ihn in Berlin, wo er sich als freier
Schriftsteller und Publizist etabliert und in verschiedenen Magazinen
veröffentlicht. Sein Versuch, eine eigene Zeitschrift
herauszugeben, scheitert. Er unternimmt erste Übersetzungen
zu
Baudelaire, obwohl es u.a. von George bereits
Übersetzungen
gab - und bekommt Kontakt
zu
Hugo von Hofmannsthal, der in seinen 'Neuen Deutschen Heften'
Benjamins Aufsatz zu den 'Wahlverwandtschaften'
veröffentlichte. Mit Beginn des Rundfunks in Deutschland
entwickelt Benjamin auch seine 'Radiotheorie' und verfasst
Hörstücke.
Die 4. Phase (1924-1932) umfasst Benjamins Versuch, sich in
Frankfurt/Main zu habilitieren. Er lernt hier Adorno, Horkheimer und
Kracauer kennen, hat allerdings mit seiner Habilitationsschrift
'Ursprung des deutschen Trauerspiels' keinen Erfolg, in der Presse wird
das Werk jedoch aufmerksam besprochen. In Paris beginnt er (mit seinem
Freund Hessel)
Proust
zu übersetzen, was bei ihm so etwas wie "innere
Vergiftungserscheinungen" bewirkte. Er interessiert sich für
den Kommunismus, reist auch nach Moskau, bewahrt sich aber sein, wie er
es nennt "linkes Außenseitertum". Im sozialdemokratischen
Organ 'Die Gesellschaft' publiziert er wichtige kulturwissenschaftliche
Essays. Er verfolgt zusammen mit
Brecht
publizistische Pläne und arbeitet seit 1927
regelmäßig auch für den Rundfunk. Sein
Schreiben entwickelt sich in eine Vielfalt von Genres, wobei er auch
viele Reisen unternimmt. Seine Erinnerungen 'Eine Berliner Kindheit' -
eine Art Großstadt-Topografie - werden erst zehn Jahre nach
Benjamins Tod gesammelt veröffentlicht. "Immer radikal,
niemals konsequent" teilt Benjamin sein Motto in einem Brief seinem
Freund Scholem mit.
Die 5. Phase (1933-1936) zwingt Benjamin nach Paris ins Exil. Hier
verfasst er Aufsätze unter dem Titel 'Deutsche Menschen'
über Autoren der humanistischen Tradition als indirekten
Protest gegen die
Nationalsozialisten.
In deutschen Organen kann er
unter Pseudonym sogar noch bis 1935 publizieren. Er bekommt Kontakt zu
surrealistischen Künstlerkreisen. Finanziell
unterstützt wird er u.a. von
Hannah Arendt und dem von Max
Horkheimer geleiteten Institut für Sozialforschung. Wichtige
Arbeiten dieser Zeit sind seine Auseinandersetzung mit George, sein
Fragment gebliebenes 'Passagen-Werk' (eine Art Urgeschichte der
Moderne) sowie der Aufsatz 'Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit', was den Beginn einer materialistischen
Kunsttheorie markiert. Eine Zeitlang lebt er bei Brecht im
dänischen Exil, durch dessen Einsatz er auch in der Moskauer
Exilzeitschrift 'Das Wort' publizieren konnte.
In der 6. Phase (1937-1940) wird Benjamin für drei Monate mit
anderen deutschen Flüchtlingen als missverstandene sogenannte
5. Kolonne Hitlers in einem französischen Sammellager bei
Nevers interniert. Nach Auflösung dieses
Missverständnisses und seiner Freilassung flüchtet er
nach Südfrankreich, wo er den vergeblichen Versuch unternimmt,
nach Spanien zu gelangen. Da er seine Auslieferung an die Deutschen
durch spanische Zöllner befürchtet, nimmt er sich in
der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 mit einer
Überdosis Morphium das Leben. Ein Abschiedsbrief an Adorno
bezeugt dies. Benjamins Grab befindet sich im spanischen Grenzort Port
Bou. Es gibt auch Spekulationen darüber, ob er wirklich dort
begraben liegt oder ob er nicht womöglich ermordet wurde.
Benjamins philosophische Ausgangspunkte waren Studien Kants, der
deutschen Romantik
und der jüdischen Religiosität. Er
verspürte eine emphatische Verbindung zur Sprache und wollte
der Naturwissenschaft eine metaphysische Erkenntnisebene dazugewinnen.
Von der Sprachphilosophie gelangte er über die
Ästhetik und Literaturkritik zu einer antiidealistischen
Denkweise, die ihn etwa auch Ernst Bloch nahebrachte. Durch seine
Freundschaft mit Adorno und Brecht nahm er Positionen des dialektischen
Materialismus auf, indem er vom Intellektuellen eine eindeutige
gesellschaftliche Position abverlangte. Sein als Hauptwerk geplantes
Buch 'Das Passagen-Werk', eine Geschichtsphilosophie des 19.
Jahrhunderts, blieb allerdings unvollendet, weil sie unter den
ungünstigen politischen Gegebenheiten litt.
Für Benjamin existieren keine ewigen Wahrheiten - denn die
Wahrheit ist
für ihn "an einen Zeitkern, welcher im Erkannten
und Erkennenden zugleich steckt, gebunden." Allein in der Kunst gelangt
Wahrheit zur Erscheinung, daher hat Benjamin sich der Philosophie immer
wieder von ästhetischen und kunstsoziologischen Perspektiven
her genähert. In der modernen Kunst seit Baudelaire
konstatiert Benjamin den Verfall des Auratischen (vgl. Surrealismus,
Episches Theater, Film) - durch diese materialistische
Entmythologisierung übernimmt die Kunst auch eine wesentliche
Funktion im gesellschaftlichen Emanzipationsprozess. In seiner
Geschichtsphilosophie fordert er eine Symbiose aus historischem
Materialismus und Theologie. Fernab vom Fortschrittsglauben denkt
Benjamin an all das, was "verraten, unterdrückt und vergessen"
wurde. In seiner Schrift 'Goethes Wahlverwandtschaften' sagt er dazu:
"Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben."
Die Schreibweise Benjamins ist traktatmäßig und
fragmentarisch angelegt - freiwillig, unfreiwillig - Skizzen,
Aphorismen - "Passagen" mit überraschenden Durchblicken, worin
sein Freund Ernst Bloch eine "surrealistische Denkart" entdeckte, eine
"Revueform der Philosophie" - es gebe da eine "Fülle von
Verkopplungen (...) von brütenden Mythen und dem exaktesten
Alltag" (zit. Bloch). Benjamin hatte einen Blick fürs
Allegorische, dieses bot ihm ein "Bild der erstarrten Unruhe" (zit.
Benjamin, 'Zentralpark'). In Benjamins dialektischer Erkenntnistheorie
sollten subjektives Erkennen und objektives Sein zur Deckung kommen,
denn die "Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein"
(vgl. 'Ursprung des deutschen Trauerspiels'). Stets bewegen wir uns in
unserer Anschauung zwischen "Bruchstück und
Totalität" (ebd.). Im Spätwerk Benjamins erscheint
die konkrete Utopie, welche die Subjekt-Objekt-Entfremdung der
warenproduzierenden Gesellschaft erst schockhaft erlebbar macht, um sie
dann aufzuheben in der revolutionären Aktion.
Zeitlebens machte er sich Gedanken über Ursprung, Wesen und
Funktion der Sprache
sowie über deren historischen Wandel. Er
selbst wollte sich nie an akademische oder publizistische
Gepflogenheiten bei der Abfassung wissenschaftlicher bzw.
geisteswissenschaftlicher Arbeiten halten, weswegen es ohnehin
schwierig einzuschätzen ist, für welche Art Leser er
eigentlich schrieb. Dennoch sollte diese akustische Aufbereitung
neuerlich zu einer Auseinandersetzung mit diesem Autor animieren.
(KS; 01/2007)
Momme Brodersen: "Walter Benjamin"
Hoffmann und Campe, 2006. 2 CDs, Laufzeit 134 Minuten. Mit Begleitheft.
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Buchausgabe:
Suhrkamp, 2005. 158 Seiten.
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Benjamins Denken spürt die Rhythmen auf, in denen
geschichtliche Veränderungen stattfinden. Es gilt hierbei, die
tektonische Kraft, die aufeinanderstoßende Weltalter
erzeugen, in Begriffen und Bildern darzustellen. Diese Aufgabe stellt
sich potenziert im Verhältnis zum Gesetz. Konstituierte dieses
den Maßstab, der alle geschichtliche Veränderung
relativierte, so ist es Kennzeichen der Moderne, dass die Bedingungen
dieses Verhältnisses analysiert, bzw. verworfen oder mit
anderen Vorzeichen gedacht werden. Benjamin geht den Weisen nach, in
denen Ordnungen der Moral und der Politik, der Zeit und der
Wahrnehmung, der Kunst und der Sprache sich unter dem Zeichen der
Moderne in Bezug auf das Gesetz neu konfigurieren. Der Sammelband
widmet sich Benjamins Analysen dieser Konfigurationen. (Wilhelm Fink
Verlag)
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Christian
Emden: "Walter Benjamins Archäologie der Moderne.
Kulturwissenschaft um 1930"
Walter Benjamin - zwischen kritischer Theorie und historischer
Kulturwissenschaft.
Walter Benjamin nimmt in der Tradition kultur- und
sozial-wissenschaftlichen Denkens eine eigentümliche Position
ein. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass seine Arbeiten in die
Endphase der sogenannten "Achsenzeit" der Kulturwissenschaften im
Anschluss an die Krise des Historismus von ca. 1880 bis 1930 fallen. Im
Spannungsfeld zwischen kritischer Theorie und Historismus spiegeln sie
die philosophischen und politischen Problemlagen
kulturwissenschaftlichen Denkens um 1930. (Wilhelm Fink Verlag)
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Burkhardt
Lindner: "Benjamin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung"
Unter Mitarbeit von Thomas Küpper und Timo Skrandies.
Walter Benjamins Werk lebt. Die Radikalität seines Denkens und
die Vielfalt seiner Impulse wirken bis heute in Philosophie,
politischer Theorie, Medien- und Kulturwissenschaft,
Literaturgeschichte und Ästhetik fort. Das
interdisziplinär angelegte "Benjamin-Handbuch" lässt
den Leser eintauchen in Leben, Werk und Rezeption. Systematisch
informiert es über Einzelschriften und Textgruppen und
eröffnet einen konstruktiven Zugang zu den verborgenen
Schätzen der inzwischen abgeschlossenen Edition der
"Gesammelten Schriften". Wer das Werk des facettenreichen
Intellektuellen der Weimarer Republik und des Exils verstehen will,
sollte auf dieses Handbuch zurückgreifen. (Verlag J.B. Metzler)
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Jean-Michel Palmier: "Walter
Benjamin - Leben und Werk"
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Florent Perrier
"Man muss alles lesen, alles studieren" - Michel Foucaults
lakonische Anweisung für erfolgreiches historisches Arbeiten ist selten ernst
genommen und noch seltener verwirklicht worden. Für Jean-Michel Palmier war sie
eine Selbstverständlichkeit. Seine monumentale Studie über Walter Benjamin ist
das Lebenswerk eines Gelehrten, der den zahlreichen Benjamin-Interpretationen
nicht eine neue hinzufügt, sondern schlicht den Schlüssel zum Verständnis
dieses enigmatischen Autors liefert.
Minutiös zeichnet Palmier den philosophischen, politischen und ästhetischen
Denkweg Benjamins nach und beseitigt zahlreiche Missverständnisse und
Klischees, etwa das des "marxistischen Rabbiners", der die Alternative
zwischen historischem Materialismus und Theologie in ein unauflösliches Dilemma
verwandelt. Vor allem aber schließt Palmier die Lücken einer oft
simplifizierenden und immer wieder um dieselben Themen kreisenden Rezeption. Der
Lumpensammler, der Engel und das "bucklicht Männlein" werden so zu
Grundfiguren einer philosophischen Erzählung, die nicht hagiographisch, sondern
systematisch die Komplexität von Benjamins Denken erschließt. Ein Standardwerk.
(Suhrkamp)
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