Der Traum im Traum
Erhaben stand
der Himmel über der Erde; ein Regenbogen hob sich, wie der Ring der
Ewigkeit, über den Morgen - ein gebrochenes Gewitter zog über
Wetterstangen mit einem müden Donnern unter die farbige Edenpforte in
Osten - und die Abendsonne scheuete, wie hinter Tränen, mit einem milden
Lichte dem Gewitter nach, und ihre Blicke ruhten am Triumphbogen der
Natur... Ich spielte mit meinem Entzücken und schloß überfüllt die Augen
zu und sah nichts mehr als die Sonne, die warm und lodernd durch die
Augenlider drang, und hörte nichts mehr als das weichende Donnern. - -
Da fiel endlich der Nebel des Schlafs auf meine Seele und überdeckte mit
seinem grauen Gewölke den Frühling; aber bald zogen sich Lichtstreife
durch den Nebel, dann bunte Schönheitlinien, und zuletzt war der ganze
Schlaf um mich mit den hellen Bildern des Traums übermalt.
Mir träumte, ich stehe in der zweiten Welt: um mich war eine dunkelgrüne
Aue, die in der Ferne in hellere Blumen überging und in hochrote Wälder
und in durchsichtige Berge voll Goldadern - hinter den kristallenen
Gebirgen loderte Morgenrot, von perlenden Regenbogen umhangen - auf den
glimmenden Waldungen lagen statt der Tautropfen niedergefallene Sonnen,
und um die Blumen hingen, wie fliegender Sommer, Nebelsterne... Zuweilen
schwankten die Auen, aber nicht von Zephyrn, sondern von Seelen, die sie
mit unsichtbaren Flügeln bestreiften. - - Ich war der zweiten Welt
unsichtbar; unsere Hülle ist dort nur ein kleiner Leichenschleier, nur
eine nicht ganz gefallene Nebelflocke.
Am Ufer der zweiten Welt ruhte die Heilige Jungfrau neben ihrem Sohne
und schauete auf unsere Erde herab, die unten auf dem Totenmeere schwamm
mit ihrem engen
Frühling, klein und hinabgesenkt und nur vom Widerschein eines
Widerscheins düster beschienen und jeder Welle nachirrend. Da machte die
Sehnsucht nach der alten geliebten Erde Mariens zarte Seele weicher, und
sie sagte mit schimmernden Augen: »O Sohn, mein Herz schmachtet weinend
nach meinen teuern Menschen - ziehe die Erde herauf, damit ich den
geliebten Geschwistern wieder nah in das Auge blicken kann; ach, ich
werde weinen, wenn ich lebendige sehe.«
Christus sagte: »Die Erde ist ein Traum voll Träume; du mußt
entschlafen, damit dir die Träume erscheinen können.«
Maria antwortete: »Ich will gern entschlafen, damit ich die Menschen
träume.« -
Christus sagte: »Was soll dir der Traum zeigen?«
»O, die Liebe der Menschen zeig' er mir, Geliebter, wenn sie sich wieder
finden nach einer schmerzlichen Trennung« - - und indem sie es sagte,
stand der Todesengel hinter ihr, und sie sank mit zufallenden Augen an
seine kalte Brust zurück - und die kleine Erde stieg erschüttert herauf,
aber sie wurde kleiner und bleicher, je näher sie kam.
Der Wolkenhimmel der Erde spaltete sich, und der zerrissene Nebel
entblößte die kleine Nacht auf ihr; denn aus einem stummen Bache
schimmerten einige Sterne der zweiten Welt zurück; die Kinder schliefen
sanft auf der zitternden Erde und lächelten alle, weil ihnen im
Schlummer Maria in mütterlicher Gestalt erschien. - - Aber in dieser
Nacht stand eine Unglückliche - in ihrer Brust waren keine Klagen mehr,
nur noch Seufzer - und ihr Auge hatte alles verloren, sogar die Tränen.
Du Arme! blicke nicht nach Abend an das überflorte Trauerhaus - blicke
nie mehr nach Morgen auf den Gottesacker, an das Totenhaus! Wende nur
heute dein geschwollenes Auge ab vom Totenhause, wo dich eine schöne
Leiche zerrüttet, die unverschlossen im Nachtwind steht, damit sie
früher erwache als im Grabe! - Aber nein, Beraubte, blicke nur hin auf
deinen Geliebten, eh' er zerfällt, und fülle dich mit dem ewigen Schmerz
... Da jetzt ein Echo im Gottesacker zu reden anfing, das die sanften
Klaggesänge des Trauerhauses nachstammelte: o, da riß dieses gedämpfte
Nachsingen, wie von Toten, das ganze Herz der Gebeugten auseinander, und
alle unzähligen Tränen flossen wieder durch das wunde Auge, und sie rief
außer sich: »Rufst du mich, du Stummer, mit deinem kalten Munde? O
Geliebter, redest du noch einmal deine Verlassene an? - Ach sprich, nur
zum letzten Male, nur heute!... Nein, drüben ists ganz stumm - nur die
Gräber tönen nach - aber die armen Überdeckten liegen taub darunter, und
die zerbrochne Brust gibt keinen Ton.«
Aber wie schauderte sie, als das Trauerlied aufhörte und der Nachhall
der Gräber
allein fortsprach! - Und ihr Leben wankte, als das Echo näher ging, als
ein Toter aus der Nacht trat und die bleiche Hand ausstreckte und ihre
nahm und sagte: »Warum weinest du, Geliebte! wo waren wir so lange? -
Mir träumte, ich hätte dich verloren.« - Und sie hatten sich nicht
verloren. - Aus Mariens geschlossenem Auge drang eine Freudenträne, und
eh' ihr Sohn den Tropfen weggenommen, war die Erde wieder zurückgesunken
mit den beiden neuen Beglückten.
Auf einmal stieg ein Funke aus der Erde herauf, und eine fliegende Seele
zitterte vor der zweiten Welt, als ob sie zögere hinaufzugehen. Christus
hob die entfallene Erdkugel wieder auf, und das Körpergewebe, aus dem
die Seele geflogen war, lag noch mit allen Wundenmalen eines zu langen
Lebens auf der Erde. Neben dem gefallnen Laube des Geistes stand ein
Greis, der die Leiche anredete: »Ich bin so alt wie du; warum soll ich
denn erst nach dir sterben, du treues, gutes Weib? jeden Morgen, jeden
Abend werd' ich nachrechnen, wie tief dein Grab, wie tief deine Gestalt
eingefallen ist, ehe meine neben dich sinkt... Oh! wie bin ich allein!
jetzo hört mich nichts mehr; und sie nicht; - aber morgen will ich ihr
und ihren treuen Händen und ihren grauen Haaren mit einem solchen
Schmerz nachsehen, daß er mein schwaches Leben schließt. - - O du
Allgütiger, schließ es lieber heute, ohne den großen Schmerz!« - - Warum
legt sich noch im Alter, wo der Mensch schon so gebückt und müde ist,
noch auf den untersten Stufen der Gruft das Gespenst des Kummers so
schwer auf ihn und drückt das Haupt, in welchem schon alle Jahre ihre
Dornen gelassen haben, mit einem neuen Schauder hinunter?
Aber Christus schickte den Todesengel mit der kalten Hand nicht: sondern
blickte selber dem verlassenen Greis, der so nahe an ihm war, mit einer
solchen lächelnden Sonnenwärme in das Herz, daß sich die reife Frucht
ablösete - und wie eine Flamme brach sein Geist aus dem geöffneten
Herzen - und begegnete über der zweiten Welt seiner geliebten Seele -
und in stillen, alten Umfassungen zitterten beide verknüpft ins Elysium
nieder, wo sich keine endigt. - - Maria reichte ihnen liebend die beiden
Hände und sagte traum- und freudetrunken: »Selige! nun bleibt ihr
beisammen.«
Über die arme Erde bäumte sich jetzt eine rote Dampfsäule und
umklammerte sie und verhüllte ein lautes Schlachtfeld. Endlich quoll der
Rauch auseinander über zwei blutigen Menschen, die einander in den
verwundeten Armen lagen. Es waren zwei erhabne Freunde, die einander
alles aufgeopfert hatten und sich zuerst, aber ihr Vaterland nicht.
»Lege deine Wunde an meine, Geliebter! - Nun können wir uns wieder
versöhnen; du hast ja mich dem Vaterlande geopfert und ich dich. - Gib
mir dein Herz wieder, eh' es sich verblutet. - Ach, wir können nur
miteinander sterben!« - Und jeder gab sein wundes Herz dem andern hin -
aber der Tod wich vor ihrem Glanze zurück, und der Eisberg, womit er den
Menschen erdrückt, zerfloß auf ihren warmen Herzen; die Erde behielt
zwei Menschen, die über sie als Berge aufsteigen und ihr Ströme und
Arzneien und hohe Aussichten geben, und denen die niedrige Erde nichts
zuschickt als - Wolken.
Maria winkte träumend ihrem Sohne, weil nur er solche Herzen fassen,
tragen und beschirmen könne.
- Aber warum lächelst du auf einmal so selig, wie eine freudige Mutter,
Maria? - Etwan, weil deine liebe Erde, immer höher aufgezogen, mit ihren
Frühlingblumen über das Ufer der zweiten Welt hereinwanket? - weil
liegende Nachtigallen sich mit heißbrütenden Herzen auf kühle Auen
drücken? - weil die Sturmwolken zu Regenbogen aufblühen? - weil deine
unvergeßliche Erde so glücklich ist im Putze des Frühlings, im Glanze
seiner Blumen,
im Freudengeschrei seiner Sänger? - Nein, darum allein nicht; du
lächelst so selig, weil du eine Mutter siehst und ihr Kind. Ist es nicht
eine Mutter, die jetzo sich bückt und die Arme weit aufschließet und mit
entzückter Stimme ruft: »Mein Kind, komm wieder an mein Herz!« - Ist es
nicht ihr Kind, das unschuldig im brausenden Tempel des Frühlings neben
seinem lehrenden Genius steht, und das der lächelnden Gestalt zuläuft,
und das, so früh beglückt und an das warme Herz voll Mutterliebe
gezogen, ihre Laute nicht versteht: »Du gutes Kind, wie freust du mich!
Bist du denn glücklich? liebst du mich denn? O sieh mich an, du Teurer,
und lächle immerfort!«...
Maria wurde von der schönen Entzückung aufgeweckt, und sie fiel sanft
erbebend um ihren eignen Sohn und sagte weinend: »Ach, nur eine Mutter
kann lieben, nur eine Mutter« - und die Erde sank mit der Mutter, die am
Herzen des Kindes blieb, wieder in den irdischen Äther hinab...
Und auch mich erweckte die Entzückung; aber nichts war verschwunden als
das Gewitter: denn die Mutter, die im Traum das kindliche Herz an ihres
gedrückt, lag noch auf der Erde in der schönen Umarmung - und sie lieset
diesen Traum und verzeiht vielleicht dem Träumer die Wahrheit.
(aus dem "Siebenkäs" von Jean
Paul)
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