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Tauben streiften mit ihren Flügeln die Scheibe des kleinen Guillotinefensters, das vom Sulfat blau beschlagen war; das kupferne Pendel der Uhr schwang in seinem grün und schmutziggolden bemalten Gehäuse; ein Duft nach reifen Früchten schwebte im Raum, und die Bohlen knarrten leicht unter dem Schaukelstuhl. Wie viele Stimmen kreuzten sich in der Fern am Rande der bewässerten Felder, auf den Tennen, auf den kurvigen, lichten Wegen des Berges! Sie aber war allein. In diesen Augenblicken dachte sie nicht an Custódio und bedauerte nicht seine mißratene Natur, die ihn in ein immer zügelloseres Leben stürzte. Sie erduldete fast hingebungsvoll diesen Schmerz, allein zu bleiben, und trotz der enormen Verausgabung ihrer moralischen Energie, ihres grenzenlosen Interesses für die Mitmenschen fühlte sie sich wie ein Schiffskapitän, der alle Schiffbrüchigen in Rettungsbooten eingeschifft sieht und auf der Reling verharrt, während sich unter seinen Füßen in einem reißenden Strudel Abgründe auftun. Dann erbebte sie, von einem abstrakten, namenlosen Schrecken gepackt. Sie fühlte sich wie einen Stein über ein endloses Gelände rollen, immer mit dem hellwachen Bewußtsein des unaufschiebbaren, näher kommenden Endes, einer über sie hereinbrechenden Kraft, eines monströsen Impulses, gegen den ihr Widerstand nicht mehr bedeutete als ein chaotisches Erschrecken. Indem sie sich mühte, gleichsam die Teilstückchen ihrer Geisteskraft zusammenzufassen, die bei fortschreitender Halluzination von ihr ausgingen, versuchte sie sich wiederzuerkennen und abermals ein Individuum mit Nerven, Blut und Gedanken zu werden anstelle einer von Zeit und Raum bedrängten sinnlosen Form. Der Schweiß lief ihr über das Gesicht, ihre Hände krümmten sich, sie empfand eine völlige Willensschwäche und sah und hörte nichts mehr. Mit einem Gedanken, der, wenn er Stimme geworden wäre, eine heftiges Geschrei gewesen wäre, befreite sie sich: ihre Seele stieg aus dieser zusammenhanglosen Panik hervor, und die Furcht ließ ihre Beute fahren. Hätte der Tod ihre Stirn berührt, so hätte er sie kälter gefunden, als wenn er schon von ihr Besitz ergriffen hätte. Sie war heiter und friedlich und sie war ohne Gedanken. Vor ihr erstanden nur ungefähre sanfte Formen, Dinge, von denen sie in der Tiefe wußte, daß sie schön waren, ohne sie zu verstehen. Und eine Zeitlang erlebte sie einen Zustand erfüllten, aber nicht überschwenglichen Glücks. Diese menschliche Glückserfahrung erwuchs ihr nicht aus der Befriedigung ihrer Sinne, der Beherrschung der Wünsche, er Genugtuung wegen einer erfüllten Pflicht oder aus dem dankbaren Lachen für die Gabe des Lebens. Es war der Verzicht auf den Zustand des Menschseins. Es war eine höchste Stufe der Verzweiflung, weil sie nicht durch irgendein Leiden, durch Schmerz oder Sehnsucht vermehrt wurde. Es war, endlich, die Freiheit des Prometheus. (...)
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(aus "Die Sibylle" von Agustina Bessa Luís;
Suhrkamp Verlag)