Streifzüge durch die zeitgenössische Literatur anderer Länder |
|
Portugal |
(von Thomas Strobl) |
Diesmal führen uns
unsere Streifzüge an den westlichsten Rand des europäischen Festlands,
ins Land der edlen
Weine und melancholischen Fados, ins Land einer großen und für das
mitteleuropäische Auge zunächst wohl exotisch wirkenden Kultur; nicht
zuletzt wegen der seltsamen Wege, die die lateinische Sprache hier
gegangen ist und der vorherrschenden Architektur aus früheren
Jahrhunderten fühlte ich mich bei meinem ersten Lissabonbesuch anno 1986
gleichsam aus der Zeit herausgenommen.
Kelten, Römer, Westgoten, Mauren
sind im Laufe der Jahrhunderte ins Land gezogen, haben Herrschaft
errichtet und Spuren hinterlassen, seit Mitte des 13. Jahrhunderts, mit
dem Fall der letzten Maurenbastionen auf der Halbinsel, kann man von
einem eigenständigen, unabhängigen portugiesischen Staatsgebilde
sprechen. Eine katalanische Bekannte von mir hat einmal behauptet, dass
die Portugiesen während der doch gut 500 Jahre währenden
Maurenherrschaft insgesamt ganze zehn Fremdwörter aus dem Arabischen
übernommen haben, und obwohl ich das für eine Unterstellung halte, ist
in der Tat ein gewisser, wohl durch die isolierte Lage bedingter
Konservativismus unübersehbar, schulterlanges Haar bei Männern gilt
bereits als Anzeichen revolutionärer Gesinnung.
Doch gibt es dazu in der portugiesischen Seele eine Art Gegenpol: in
seinem knapp fünfzig Seiten langen Buch "Die Geschichte von der
unbekannten Insel" gibt José Saramago dem portugiesischen Mythos
schlechthin, dem des Seefahrers, den einzig die Sehnsucht nach dem
Unbekannten die Segel hissen heißt, eine neue Deutung. Sei es nun aus
solchen oder vielleicht auch manchmal weniger idealistischen Motiven,
seit frühesten Zeiten haben sich Portugiesen auf den Ozean hinausgewagt
und dabei nicht nur Fische gefangen oder Völker unterjocht, sondern sich
auch Eigenschaften wie Toleranz, weise Höflichkeit und eine ziemlich
universale Sicht des Homo sapiens zu eigen gemacht. Heute wird
Portugiesisch in so unterschiedlichen Teilen der Erde wie Brasilien,
Angola, Mozambique, Macao und Osttimor
gesprochen, wer kennt übrigens eine andere Sprache, in der "das Kind",
portugiesisch "a criança", weiblich ist?
Beides, criança und Kind (denn mit der deutschen Großmutter war auch die
Sprache ins Haus gekommen), war vor 50 Jahren António Lobo Antunes,
heute strahlt sein Stern weit über die Grenzen des portugiesischen
Literaturhimmels hinaus. 1942 in Lissabon in eine wohlhabende
Ärztefamilie hineingeboren, schützte ihn diese Herkunft nicht vor dem
Schicksalsschlag, von dem Salazarregime in die portugiesische Kolonie
Angola abkommandiert zu werden um dort als Militärarzt dem Vaterland zu
dienen. Im Nachhinein betrachtet keine gute Idee des Regimes,
verschaffte es dem jungen Mann doch so die Gelegenheit, zwei Jahre lang
die Grausamkeiten der portugiesischen Soldaten, die Sinnlosigkeit des
Kriegs (Lobo Antunes: "Man ist immer zu jung für den Krieg")
und die Lügenpropaganda der Diktatur aus nächster Nähe zu erfahren und
derart zu einem erbitterten Gegner der herrschenden Oberschicht und
einem unbestechlichen Chronisten jener Zeit, im speziellen des
Angolaabenteuers, zu werden.
Auch Lobo Antunes' Roman, gleichzeitig der zweite Teil einer geplanten
Trilogie über Macht und Machtmissbrauch, führt den Leser nach Angola - "Portugals
strahlende Größe", eine Größe, die die portugiesische
Nationalhymne den Bürger aufruft wieder zu errichten, und von der der
erzählte Koloniealltag ungefähr 180 Grad entfernt war.
Nach der Unabhängigwerdung Angolas ist die Portugiesin Isilda in Afrika
in ihrem Landhaus geblieben, ihre Kinder, Carlos, Ruiz und Clarisse sind
nach Portugal zurückgekehrt, soweit man das bei in Afrika Geborenen
sagen kann. 24. Dezember 1995 - Carlos, der seine Geschwister seit 15
Jahren nicht mehr gesehen hat, und das, obwohl alle in der Umgebung von
Lissabon leben, hat sie für den Weihnachtsabend zu sich eingeladen.
Während er auf sie wartet, kreisen seine Gedanken um die gemeinsame Zeit
in Afrika, ebenso ergeht es seinen Geschwistern, die freilich nicht
daran denken, seine Einladung anzunehmen, ebenso die Gedanken von Isilda
in Afrika, wobei deren erster Monolog im Jahre 1978 einsetzt und ihr
letzter mit dem ihrer Kinder zusammenfällt, 24. Dezember 1995.
Auch heute noch führt Lobo Antunes seinen ursprünglichen Beruf eines
Psychiaters aus und empfängt einmal pro Woche Patienten. Und in der Tat
gibt es große Ähnlichkeiten zwischen der Erzählweise vor seinem
Analytiker und den inneren Monologen bei Antunes. Allerdings wird das
Rohmaterial seiner Psychologenerfahrungen vom Autor einem gründlichen
Destillationsprozess unterzogen. Denn alle vier Romanhelden, so
unterschiedlich sie sonst auch sein mögen, bedienen sich derselben
virtuosen Kunstsprache, in der nichts Verschwommenes oder Überflüssiges,
kein "wie soll ich sagen" enthalten ist, mit dem erstaunlichen Ergebnis,
dass Sprache, Erinnerung und Erlebnis vollständig verschmelzen und
solchermaßen zum Inhalt des Romans werden.
Mit Genauigkeit, Liebe zum Detail und größtmöglichem Realismus (Antunes
betreibt vor dem Schreiben umfangreiche historische Recherchen, wobei er
in Portugals strahlender Größe sicher auch auf Selbsterlebtes
zurückgegriffen hat) geht der Autor auch an das beschriebene Milieu,
Leben und Lebensbedingungen in der einstigen Kolonie Angola, heran,
wobei diese ganze Hölle aus Macht und Sklaverei, Größenwahn und Brutalität,
durch die Selbstverständlichkeit und quasi Naivität, mit der die weißen
Protagonisten in ihrem Denken das Gefüge der Ungerechtigkeiten und
rassischen und sonstigen Vorurteile aufrechterhalten, eine zusätzliche
Dimension der Schärfe gewinnt.
Die andere Seite dieser Münze und in gewissem Sinn Antunes' Hauptthema
ist das menschliche Bewusstsein. Natürlich vermag auch seine
Kunstsprache nicht das Bewusstsein abzubilden, aber oft kommt sie dem
sehr nahe, nicht zuletzt durch ihren Rhythmus. Der Redefluss seiner
Personen wird regelmäßig von Gefühlseinbrüchen unterbrochen,
emotioneller Energie, in Form von assoziierten Bildern oder erinnerten
Zitaten, die zu gegebener Zeit erstmals geäußert oder aufgetaucht quasi
auf immer gespeichert wurden und seitdem bei ähnlichen Gelegenheiten
auftauchen und die Person in ihre Richtung lenken, hier wirkt die
Lektüre wie eine Aufforderung zur Bewusstmachung des eigenen
Bewusstseinsstroms, ohne welche es keine Änderung gibt. Das Depressive
bei Antunes kommt mehr noch als aus den beschriebenen Gesellschafts- und
Rassenhöllen aus der Zwanghaftigkeit und Konsequenz seiner inneren
Monologe, keine Pausen, kontemplative Momente oder schlichtweg
Innehalten erleichtert seine Figuren, und vielleicht kann man diesen
ausnahmsweise unrealistischen Zug bei Antunes als Aufforderung
interpretieren, über die Sprache selbst hinauszugehen, die Weißen (und
gewiss nicht nur die) denken zu viel (und zu oft falsch).
In einem scheinbar deutlich optimistischeren Licht findet sich der Leser
bei Agustina Bessa-Luís. 1922 bei Porto geboren, als Tochter
eines Kinobesitzers und einer Mutter mit spanischem Blut, beginnt sie
früh zu schreiben und schenkt der Welt schon mit 32 ein Meisterwerk.
In ihrem Roman "Die Sibylle" geht sie unter dem Namen Germa auf
eigene Spurensuche und begibt sich dazu in den Norden Portugals in eine
alte Welt von Gutsbesitzern und Knechten, Aristokraten und Pächtern, und
natürlich auch in eine des romanischen Clandenkens und
Familienzusammenhalts. Königin dieser Welt ist nach Germas Urteil
eindeutig ihre Tante Quina, die Heldin und Sibylle des Romans. Bessa
Luís wandelt insofern auf den Spuren Thomas Manns, als ihr auch die
Genese einer Familie wichtig ist, wie und unter welchen äußeren
Einflüssen sich verschiedene Familiencharakteristika Metamorfosen
unterziehen, glücklicherweise nicht mit einem Absolutheitsfaktor. Auch
in dem Buch umfasst sie drei Generationen und keineswegs nur in der
direkten Linie der Heldin, sondern dergestalt, dass letztlich die ganze
ländliche Bevölkerung Nordportugals als einzige Großfamilie fungiert. In
diesem Sinne würde es zu weit führen, biografische Einzelheiten der
Heldin anzuführen. Nur soviel sei gesagt, dass es ihr gelingt dem
öffentlichen Druck nach Heirat standzuhalten und inmitten der
Männergesellschaft eine kleine Insel des Matriarchats zu errichten, sie
zeitlebens eine ziemlich eitle Person ist und auf Seite 158 den
Höhepunkt ihrer Geisteskraft erreicht. Zwei Dinge vor allem, innere
Heiterkeit und eine tiefe Menschenkenntnis, zeichnen sie aus und
verschaffen ihr in der Gesellschaft den Ehrenplatz als Sibylle: als
solche schließt sie Geschäfte ab, stiftet Ehen, vermittelt in Rechtsangelegenheiten,
leistet Sterbehilfe, erfährt
metafysische
wie höchst profane Momente und verwirrt, erzieht und erfreut mit ihren
rätselhaften aforistischen Aussprüchen die Menschen ihrer Umgebung, jede
Nuance perfekt an ihren jeweiligen Gesprächspartner oder Zuhörer
anpassend. Diese Menschenkenntnis hat die Autorin übrigens von ihrer
Sibylle geerbt, denn es wird uns in dem Roman ein gewaltiger Reichtum an
tiefenpsychologischen Beobachtungen über die verschiedensten
Menschentypen geliefert.
Und wie stirbt so eine Frau? Germa glaubt über der Gestalt der Toten
eine Aura naiver versteckter Resignation zu erblicken, und mit ihr
selbst in einer ähnlichen Stimmung schließt der Roman - was ist das
Leben? Wohin gehen wir? Wohin können wir gehen?
Da Portugal
eine Metropole hat, die vielleicht die schönste Millionenstadt überhaupt
ist, die aber jedenfalls eine große magische Kraft verströmt, möge es
nicht weiter verwundern, dass zu dem Thema gleich zwei Bücher erwähnt
werden. Und da die Gefahr gegeben ist sich stundenlang an eine einzige
Häuserfassade zu verlieren, möge es auch nicht verwundern, dass José
Cardoso Pires sich in seinem Streifzug durch Lissabon, seinem "Lissabonner
Logbuch", auf relativ renommierte und leicht auffindbare Schätze
beschränkt. Dafür erfährt der Leser, woher die latente Vorliebe der
Lissabonner für Frösche stammt, oder unter welch seltsamen Umständen man
in Lissabon bisweilen zur posthumen Ehre einer Statue gelangt; und
Statuen in Menschengröße befinden sich in Lissabon oft höchst
realistisch (bis zur Farbgebung konnte man sich leider bisher noch nicht
durchringen) beim Spaziergang auf Plätzen oder sitzen als Schriftsteller
neben dir im Kaffeehaus. Wussten Sie übrigens, dass ziemlich im Zentrum
der Stadt, im Rossio, nicht etwa der Portugiesenkönig Pedro der Vierte
(wie es die Aufschrift verheißt) auf die Menschenmenge herabblickt,
sondern der Österreicher
Maximilian
von Mexiko, so als habe er es sich auf dem Rückweg in die Heimat
plötzlich anders überlegt und sich lieber hier, auf halber Strecke,
niedergelassen. Hypothesen beiseite, Tatsache ist, dass der französische
Bildhauer, der den Auftrag erhalten hatte, Dom Pedro in Bronze zu
gießen, nicht eine Sekunde lang an die Erfüllung dieser Aufgabe dachte
und den Portugiesen stattdessen eiskalt den ersten besten Habsburger,
der in seinem Atelier herumstand, schickte.
Auch kein Portugiese im engen Sinn des Wortes ist der Italiener Antonio
Tabucchi. Er selbst drückt es so aus, dass Portugal in seinen
genetischen Code eingeschrieben ist, was man ihm aufs Wort glaubt, liest
man sein "Lissabonner Requiem", nicht nur, weil es der Autor auf
Portugiesisch geschrieben hat. Da Tabucchi so freundlich war, seinem
Requiem eine kurze Einleitung voranzuschicken, sei aus dieser ein Satz
über des Autors Absichten zitiert: "Dieses Requiem ist nicht nur
eine 'Sonate' , sondern auch ein Traum, in dessen Verlauf meine Figur
Lebenden und Toten auf ein und derselben Ebene begegnet: Personen,
Dingen und Orten, die vielleicht eine Grabrede gebraucht hätten, eine
Grabrede, die meine Figur jedoch nur auf ihre Weise halten konnte: in
Form eines Romans."
Seine Figur ist zweifellos in einem hohen Grad Tabucchi selbst und ihre
Begegnungen
mit den Personen, Dingen und Orten sind gespeist aus des Autors Suche
nach seinen eigenen unverheilten Wunden, wobei die Art, wie Tabucchi
persönlichste Erinnerungen und allgemeine Beobachtungen zu einem
einzigen Traumgebilde mischt, von hoher Kunstfertigkeit zeugt. Lissabon
ist ihm dabei nicht nur Kulisse, sondern aktive Helferin, und sein
Grundgefühl für die Stadt - Vertrauen und Liebe - schafft erst die
Voraussetzung für das Gelingen seiner Katharsis. Und da die Atmosfäre
gleichzeitig sehr lateinisch ist, findet man neben sehr lateinischen
Konversationen im Nachhang auch einige Rezepte von Gerichten aus dem
Alentejo, welche allesamt auch in dem Buch gespeist werden.
Wie vielleicht bekannt ist, hat Portugal seit 1998 in der Gestalt von José
Saramago auch einen Literaturnobelpreisträger.
In dem Buch, das ihm diese Ehrung eingebracht hat, deutscher Titel "Die
Stadt der Blinden", ist äußere Blindheit eine Metafer für eine
tiefergehende geistige Blindheit (das Wort "sehen" kann schließlich auch
in einem umfassenderen Sinn, das Wesen der Dinge sehen, verwendet
werden). Wie eine ansteckende Seuche ergreift sie nach und nach alle
Bewohner einer Stadt und sorgt dafür, dass den Erblindeten Schicht für
Schicht ihre falsche, weil nur durch Konvention bedingte, Moral abhanden
kommt. Jedenfalls ist das in dem ganzen gesellschaftlichen
Auflösungsprozess bei weitem die häufigste Folge, denn rund um eine
Frau, die als Einzige ihr Augenlicht nicht einbüßt, formiert sich auch
die positive Gegenkraft.
Wie Lobo Antunes hat auch José Saramago seinen eigenen unverwechselbaren
Stil. Als Grundbausteine seiner Ästhetik dienen Sätze, denen in der doch
recht langen Geschichte, die er erzählt, die Rolle von dramatischen
Kleinsteinheiten zukommt. Zu diesem Zweck schafft sich der Autor eine
neue Syntax - so endet bei einem Dialog innerhalb einer Einheit die Rede
einer Person mit Beistrich, die andere hebt ihrerseits mit
Großbuchstaben an. Vor allem aber im Großen wird Saramagos gewaltiges
dramatisches Talent wirksam und beschert dem Leser eine Vielzahl von
Szenen universeller Aussagekraft. Der Roman besticht ferner durch eine
tiefe, nicht auslotbare Symbolik und eine harmonische Mischung aus
bereits erwähnter Strenge des dramatischen Ablaufs und, einmal heiter
ironisch, dann wieder philosophierend, immer aber eleganten Kommentaren
des Nobelpreisträgers.
Und das Schlusswort gebührt Fernando
Pessoa und mit ihm der portugiesischen Sprache:
Ter um livro para ler
E não o fazer!
Ler é maçada,
Estudar é nada.
O sol doira
Sem literatura.
O rio corre, bem ou mal,
Sem edição original.
Zu Deutsch etwa: Leben, alles andere ist eitel!
Até a proxima!
António Lobo Antunes: "Portugals strahlende Größe" Buch bei amazon.de bestellen |
Agustina
Bessa-Luís: "Die Sibylle" Buch bei amazon.de bestellen |
José Cardoso
Pires: "Lissabonner Logbuch" Buch bei amazon.de bestellen |
Antonio Tabucchi:
"Lissabonner Requiem" Buch bei amazon.de bestellen |
Weitere Rezensionen von Büchern
portugiesischer Autoren:
António
Lobo Antunes: "Was werd ich tun, wenn alles brennt?"
António Lobo Antunes: "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht"
António Lobo Antunes: "Fado Alexandrino"
José Saramago: "Der Doppelgänger"
José Saramago: "Die Stadt der Sehenden"
José Saramago: "Eine Zeit ohne Tod"
José Saramago: "Kleine Erinnerungen"
José Saramago: "Die Reise des Elefanten"
Suche innerhalb von www.sandammeer.at: