(...)
»Der Türhüter hat also den Mann getäuscht«, sagte K. sofort, von der Geschichte
sehr stark angezogen. »Sei nicht übereilt«, sagte der Geistliche, »übernimm
nicht die fremde Meinung ungeprüft. Ich habe dir die Geschichte im Wortlaut
der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts.« »Es ist aber klar«,
sagte K., »und deine erste Deutung war ganz richtig. Der Türhüter hat die erlösende
Mitteilung erst dann gemacht, als sie dem Manne nicht mehr helfen konnte.« »Er
wurde nicht früher gefragt«, sagte der Geistliche, »bedenke auch, daß er nur
Türhüter war, und als solcher hat er seine Pflicht erfüllt.« »Warum glaubst
du, daß er seine Pflicht erfüllt hat?« fragte K., »er hat sie nicht erfüllt.
Seine Pflicht war es vielleicht, alle Fremden abzuwehren, diesen Mann aber,
für den der Eingang bestimmt war, hätte er einlassen müssen.« »Du hast nicht
genug Achtung vor der Schrift und veränderst die Geschichte«, sagte der Geistliche.
»Die Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetz zwei wichtige Erklärungen
des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: daß er
ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne, und die andere: dieser Eingang
war nur für dich bestimmt. Bestände zwischen diesen beiden Erklärungen ein Widerspruch,
dann hättest du recht, und der Türhüter hätte den Mann getäuscht. Nun besteht
aber kein Widerspruch. Im Gegenteil, die erste Erklärung deutet sogar auf die
zweite hin. Man könnte fast sagen, der Türhüter ging über seine Pflicht hinaus,
indem er dem Mann eine zukünftige Möglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte.
Zu jener Zeit scheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein, den Mann abzuweisen,
und tatsächlich wundern sich viele Erklärer der Schrift darüber, daß der Türhüter
jene Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint die Genauigkeit zu lieben
und wacht streng über sein Amt. Durch viele Jahre verläßt er seinen Posten nicht
und schließt das Tor erst ganz zuletzt, er ist sich der Wichtigkeit seines Dienstes
sehr bewußt, denn er sagt: ›Ich bin mächtig‹, er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten,
denn er sagt: ›Ich bin nur der unterste Türhüter‹, er ist nicht geschwätzig,
denn während der vielen Jahre stellt er nur, wie es heißt, ›teilnahmslose Fragen‹,
er ist nicht bestechlich, denn er sagt über ein Geschenk: ›Ich nehme es nur
an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben‹, er ist, wo es um Pflichterfüllung
geht, weder zu rühren noch zu erbittern, denn es heißt von dem Mann, ›er ermüdet
den Türhüter durch sein Bitten‹, schließlich deutet auch sein Äußeres auf einen
pedantischen Charakter hin, die große Spitznase und der lange, dünne, schwarze,
tartarische Bart. Kann es einen pflichttreueren Türhüter geben? Nun mischen
sich aber in den Türhüter noch andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß
verlangt, sehr günstig sind und welche es immerhin begreiflich machen, daß er
in jener Andeutung einer zukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas hinausgehen
konnte. Es ist nämlich nicht zu leugnen, daß er ein wenig einfältig und im Zusammenhang
damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch seine Äußerungen über seine Macht
und über die Macht
der anderen Türhüter und über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick - ich
sage, wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtig sein mögen, so zeigt doch
die Art, wie er diese Äußerungen vorbringt, daß seine Auffassung durch Einfalt
und Überhebung getrübt ist. Die Erklärer sagen hiezu: ›Richtiges Auffassen einer
Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig
aus.‹ Jedenfalls aber muß man annehmen, daß jene Einfalt und Überhebung, so
geringfügig sie sich vielleicht auch äußern, doch die Bewachung des Eingangs
schwächen, es sind Lücken im Charakter des Türhüters. Hiezu kommt noch, daß
der Türhüter seiner Naturanlage nach freundlich zu sein scheint, er ist durchaus
nicht immer Amtsperson. Gleich in den ersten Augenblicken macht er den Spaß,
daß er den Mann trotz dem ausdrücklich aufrechterhaltenen Verbot
zum Eintritt einlädt, dann schickt er ihn nicht etwa fort, sondern gibt ihm,
wie es heißt, einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.
Die Geduld, mit der er durch alle die Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die
kleinen Verhöre, die Annahme der Geschenke, die Vornehmheit, mit der er es zuläßt,
daß der Mann neben ihm laut den unglücklichen Zufall verflucht, der den Türhüter
hier aufgestellt hat - alles dieses läßt auf Regungen des Mitleids schließen.
Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt. Und schließlich beugt er sich noch
auf einen Wink hin tief zu dem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Frage
zu geben. Nur eine schwache Ungeduld - der Türhüter weiß ja, daß alles zu Ende
ist - spricht sich in den Worten aus: ›Du bist unersättlich.‹ Manche gehen sogar
in dieser Art der Erklärung noch weiter und meinen, die Worte ›Du bist unersättlich‹
drücken eine Art freundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von Herablassung
nicht frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt des Türhüters anders
ab, als du es glaubst.« »Du kennst die Geschichte genauer als ich und längere
Zeit«, sagte K. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte K.: »Du glaubst also,
der Mann wurde nicht getäuscht?« »Mißverstehe mich nicht«, sagte der Geistliche,
»ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber bestehen. Du mußt nicht zuviel
auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind
oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar
eine Meinung, nach welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.« »Das ist
eine weitgehende Meinung«, sagte K. »Wie wird sie begründet?« »Die Begründung«,
antwortete der Geistliche, »geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man sagt,
daß er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg, den er vor
dem Eingang immer wieder abgehen muß. Die Vorstellungen, die er von dem Innern
hat, werden für kindlich gehalten, und man nimmt an, daß er das, wovor er dem
Manne Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja, er fürchtet es mehr als der Mann,
denn dieser will ja nichts anderes als eintreten, selbst als er von den schrecklichen
Türhütern des Innern gehört hat, der Türhüter dagegen will nicht eintreten,
wenigstens erfährt man nichts darüber. Andere sagen zwar, daß er bereits im
Innern gewesen sein muß, denn er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzes
aufgenommen worden, und das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf ist zu
antworten, daß er wohl auch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüter bestellt
worden sein könnte und daß er zumindest tief im Innern nicht gewesen sein dürfte,
da er doch schon den Anblick des dritten Türhüters nicht mehr ertragen kann.
Außerdem aber wird auch nicht berichtet daß er während der vielen Jahre außer
der Bemerkung über die Türhüter irgend etwas von dem Innern erzählt hätte. Es
könnte ihm verboten sein, aber auch vom Verbot hat er nichts erzählt. Aus alledem
schließt man, daß er über das Aussehen und die Bedeutung des Innern nichts weiß
und sich darüber in Täuschung befindet. Aber auch über den Mann vom Lande soll
er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann untergeordnet und weiß
es nicht. Daß er den Mann als einen Untergeordneten behandelt, erkennt man aus
vielem, das dir noch erinnerlich sein dürfte. Daß er ihm aber tatsächlich untergeordnet
ist, soll nach dieser Meinung ebenso deutlich hervorgehen. Vor allem ist der
Freie dem Gebundenen übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann
hingehen, wohin er will, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm verboten, und
überdies nur von einem einzelnen, vom Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel
seitwärts vom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht
dies freiwillig, die Geschichte erzählt von keinem Zwang. Der Türhüter dagegen
ist durch sein Amt an seinen Posten gebunden, er
darf sich nicht auswärts entfernen, allem Anschein nach aber auch nicht in das
Innere gehen, selbst wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des Gesetzes,
dient aber nur für diesen Eingang, also auch nur für diesen Mann, für den dieser
Eingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde ist er ihm untergeordnet.
Es ist anzunehmen, daß er durch viele Jahre, durch ein ganzes Mannesalter gewissermaßen
nur leeren Dienst geleistet hat, denn es wird gesagt, daß ein Mann kommt, also
jemand im Mannesalter, daß also der Türhüter lange warten mußte, ehe sich sein
Zweck erfüllte, und zwar so lange warten mußte, als es dem Mann beliebte, der
doch freiwillig kam. Aber auch das Ende des Dienstes wird durch das Lebensende
des Mannes bestimmt, bis zum Ende also bleibt er ihm untergeordnet. Und immer
wieder wird betont, daß von alledem der Türhüter nichts zu wissen scheint. Daran
wird aber nichts Auffälliges gesehen, denn nach dieser Meinung befindet sich
der Türhüter noch in einer viel schwereren Täuschung, sie betrifft seinen Dienst.
Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt: ›Ich gehe jetzt und schließe
ihn‹, aber am Anfang heißt es, daß das Tor zum Gesetz offensteht wie immer,
steht es aber immer offen, immer, das heißt unabhängig von der Lebensdauer des
Mannes, für den es bestimmt ist, dann wird es auch der Türhüter nicht schließen
können. Darüber gehen die Meinungen auseinander, ob der Türhüter mit der Ankündigung,
daß er das Tor schließen wird, nur eine Antwort geben oder seine Dienstpflicht
betonen oder den Mann noch im letzten Augenblick in Reue
und Trauer setzen will. Darin aber sind viele einig, daß er das Tor nicht wird
schließen können. Sie glauben sogar, daß er, wenigstens am Ende, auch in seinem
Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn dieser sieht den Glanz, der aus dem
Eingang des Gesetzes bricht, während der Türhüter als solcher wohl mit dem Rücken
zum Eingang steht und auch durch keine Äußerung zeigt, daß er eine Veränderung
bemerkt hätte.« »Das ist gut begründet«, sagte K., der einzelne Stellen aus
der Erklärung des Geistlichen halblaut für sich wiederholt hatte. »Es ist gut
begründet, und ich glaube nun auch, daß der Türhüter getäuscht ist. Dadurch
bin ich aber von meiner früheren Meinung nicht abgekommen, denn beide decken
sich teilweise. Es ist unentscheidend, ob der Türhüter klar sieht oder getäuscht
wird. Ich sagte, der Mann wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte
man daran zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann muß sich seine
Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der Türhüter ist dann zwar kein
Betrüger, aber so einfältig, daß er sofort aus dem Dienst gejagt werden müßte.
Du mußt doch bedenken, daß die Täuschung, in der sich der Türhüter befindet,
ihm nichts schadet, dem Mann aber tausendfach.« »Hier stößt du auf eine Gegenmeinung«,
sagte der Geistliche. »Manche sagen nämlich, daß die Geschichte niemandem ein
Recht gibt, über den Türhüter zu urteilen. Wie er uns auch erscheinen mag, ist
er doch ein Diener des Gesetzes, also zum Gesetz gehörig, also dem menschlichen
Urteil entrückt. Man darf dann auch nicht glauben, daß der Türhüter dem Manne
untergeordnet ist. Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes
gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. Der
Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er ist vom Gesetz zum
Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am Gesetz zweifeln.«
»Mit dieser Meinung stimme ich nicht überein«, sagte K. kopfschüttelnd, »denn
wenn man sich ihr anschließt, muß man alles, was der Türhüter sagt,
für wahr halten. Daß das aber nicht möglich ist, hast du ja selbst ausführlich
begründet.« »Nein«, sagte der Geistliche, »man muß nicht alles für wahr halten,
man muß es nur für notwendig halten.« »Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge
wird zur Weltordnung gemacht.«
K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht.
(aus "Der Prozess"
von Franz Kafka)
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