Lenka Reinerová: "Das Geheimnis der nächsten Minuten"
"Warten
ist ein ganz besonderer Zustand, in den man im Leben, gewollt oder
ungewollt, immer wieder gerät, der uns von der ersten Stunde
an begleitet, gut sein kann oder schlimm, banal oder ganz
außerordentlich, ein Alpdruck oder ein aus Sehnsucht
gesponnener Traum."
So beginnt Lenka Reinerová ihr neues Erinnerungsbuch, in dem
sie, ähnlich wie in ihren bisher im Aufbau-Verlag erschienenen
Büchern, auf Episoden in ihrem wahrlich bewegten Leben
zurückblickt und ihnen mit ihrer eigenen, unverwechselbaren,
von Humor und tiefem existenziellen Ernst gleichzeitig
geprägten Weise einen fast philosophischen Sinn verleiht.
Denn im Gegensatz zu vielen anderen Menschen besonders in unserer
schnelllebigen Gegenwart, für die Warten
etwas Schreckliches
oder zumindest Entnervendes ist, das einen vom eigentlichen Ziel
abhält, ist die Phase des Wartens für Lenka
Reinerová erfüllt. Der Augenblick vor den
nächsten Minuten oder manchmal auch Stunden oder Tagen ist
angefüllt mit einem Geheimnis, einem Noch-Nicht im Bloch'schen
Sinne, er hat Potenzialität, ist offen für alle
möglichen Ausgänge.
Die Autorin geht anhand ganz persönlicher und privater, aber
auch vieler politischer Beispiele der Frage nach, was, wenn man
dafür offen ist, in diesem Augenblick des Wartens geschieht;
sie versucht, das "Geheimnis der nächsten Minuten" zu
lüften.
Sie erzählt vom Warten auf die Geburt ihrer Tochter im
kriegszerstörten Belgrad, von ihrer wahrlich exotischen
Trauung im mexikanischen Exil und von einer gespenstischen Warteszene,
als sie zusammen mit ihrem Freund, dem bekannten Journalisten Egon
Erwin Kisch, in Paris Zeugin einer öffentlichen Hinrichtung
werden soll.
Wie sie die Minuten vor einem öffentlichen Auftritt
beschreibt, etwa wenn sie aus ihren Büchern lesen soll, oder
wie sie die Atmosphäre in einem Fernsehstudio oder Theater
einfängt, bevor die Kamera läuft oder der Vorhang
sich öffnet, ist voller Witz und Ernst.
Sie verlangsamt quasi mit ihrer Beschreibung die oft banale
Gegenwart,
z.B. die Situation in einem Bankgebäude vor den Schaltern,
oder das Warten in einer Schlange am Bus oder an einer Kasse, und
zerlegt sie in ihre Einzelteile, indem sie sich selbst und ihre
Mitmenschen genau beobachtet.
Was wird jetzt passieren? Was könnte geschehen? Und wie
würde ich mich dann verhalten?
Seit ich dieses wunderbare Buch gelesen habe, habe ich es mehrfach
ausprobiert, in Wartezimmern von Ärzten, in einer
Fußgängerzone auf meine Frau wartend, mein
schlafendes, gerade eben aufwachendes
Kind beobachtend, in mich selbst
hineinhörend. Und es stimmt: mit ein wenig Übung und
Geduld stellt sich dieses staunende und zutiefst dankbare
Gefühl ein, von dem die Autorin über das ganze Buch
und wohl auch über ihr ganzes Leben hinweg erfüllt
ist: Warten kann ein Geschenk sein für dich.
Und wenn sich der jetzige Augenblick noch so traurig, schwer und
vielleicht auch hoffnungslos anfühlt, du spürst und
erfährst (!), dass in den nächsten Minuten schon
alles anders, wenn auch nicht unbedingt besser sein kann.
"Das Geheimnis der nächsten Minuten" ist ein ermutigendes Buch
voller Weisheit, das Buch einer Frau, die auf ein wahrlich bewegtes
Leben zurückblickt und bei allem Leid, das sie erfahren hat,
doch die Lebensfreude spüren, sie auskosten und an Andere
weiter geben kann.
Ich kann dieses Buch nur empfehlen.
(Winfried Stanzick; 03/2007)
Lenka
Reinerová: "Das Geheimnis der nächsten Minuten"
Aufbau-Verlag, 2007. 123 Seiten.
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Lenka
Reinerová wurde 1916 in Prag geboren. Seit 1936 arbeitete
sie als Journalistin für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung.
1938 floh sie nach Frankreich, wo sie wie
viele
Emigranten interniert
wurde. Über Marokko entkam sie
nach
Mexiko. Nach Kriegsende
kehrte sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Arzt Theodor Balk,
nach Europa zurück, lebte einige Jahre in Belgrad und seit
1948 wieder in
Prag. 1952 wurde sie ein Opfer der stalinistischen
Säuberungen, verbrachte fünfzehn Monate in
Untersuchungshaft, wurde danach mit ihrer Familie in die Provinz
abgeschoben und erst 1964 rehabilitiert. Nach dem
Ende des Prager
Frühlings erhielt sie Publikationsverbot, wurde aus der Partei
ausgeschlossen und verlor ihre Arbeit in einem Verlag. 1999 erhielt sie
den Schillerring der Deutschen Schillerstiftung, 2002 wurde sie
Ehrenbürgerin von Prag. Zuletzt erschienen die
Erzählungsbände "Das Traumcafé einer
Pragerin" (1996), "Mandelduft" (1998) und "Zu Hause in Prag - manchmal
auch anderswo" (2000). Am 22. März 2003 bekam sie die
Goethe-Medaille verliehen.
Lenka Reinerova starb am 27. Juni 2008 im Alter von 92 Jahren in ihrer
Wohnung in Prag.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Närrisches
Prag"
Die zauberhafte Liebeserklärung an eine Stadt.
Lenka Reinerová, die letzte deutschsprachige Autorin Prags,
erzählt vom Magischen, undefinierbar Zauberhaften und
Einmaligen ihrer Heimatstadt. Aus unzähligen Anekdoten und
Reminiszenzen ist eine Liebeserklärung entstanden - ebenso
unkonventionell, wunderlich und leicht närrisch wie Prag
selbst. (Aufbau-Verlag)
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"Mandelduft.
Erzählungen"
"Welch ein wundersames Stückchen Welt", heißt es in
einer Geschichte, und es ist wohl das Erstaunlichste an Lenka
Reinerová, dass sie nach all dem, was ihr in ihrem langen
Leben widerfahren ist, noch staunen und bewundern kann, dass sie
neugierig geblieben ist und sich die Fähigkeit bewahrt hat,
glücklich zu sein.
"Es ist die Kraft der einfachsten Dinge und der natürlichsten
Empfindungen, die einen zurückführt,
festhält und mit Sicherheit umgibt. Man muss ihnen vertrauen."
- Lenka Reinerovás Geschichten sind eine Schule in der
Wahrnehmung des Guten, Schönen, Freundlichen und
Lehrstücke für die Bewältigung von Krisen.
Der Schlüssel, den sie uns dafür in die Hand gibt,
heißt Aufmerksamkeit in jeder beliebigen Situation,
gegenüber jedem winzigen Detail. Ob sie nun in "Tragischer
Irrtum und richtige Diagnose" noch einmal von ihren
Gefängnisaufenthalten oder zum ersten Mal von ihrer
Krebserkrankung erzählt, ob sie von dem schweren Besuch in
Theresienstadt berichtet, von wo ihre Familie deportiert wurde ("Kein
Mensch auf der Straße"), oder ob sie nur wunderliche
Bekanntschaften während eines Urlaubs schildert ("Mandelduft,
Piratentuch und grüne Ringe") - ihre Geschichten vermitteln
eine ernste Zuversicht, dass man auch lebensbedrohliche Situationen
bewältigen kann, wenn man sich nicht aufgibt und die
Fünkchen Freude im Alltag sammelt. (Aufbau-Verlag)
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"Alle
Farben der Sonne und der Nacht"
An einem Frühlingstag 1952 wird Lenka Reinerová,
für sie selbst völlig überraschend,
verhaftet und ins Prager Untersuchungsgefängnis gebracht.
Weder ihr Mann und ihre kleine Tochter, geschweige denn sie selbst
erfahren die Gründe. Die Haftbedingungen sind
menschenverachtend. Es sind die Farben der Sonne und der Nacht, die
Lenka Reinerová helfen, auch unter schlimmsten Bedingungen
das staunende Wahrnehmen der Welt und die Erinnerungen an ihr Leben,
die Flucht nach
Frankreich, die Internierung, und schließlich
das mexikanische Exil, die Zeit der 15-monatigen Haft und Ungewissheit
zu überstehen. (Aufbau-Verlag)
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