(...) "Selbst wenn ich schwach genug wäre, Madame", erwiderte ich der Verführerin, "mir Eure schrecklichen Prinzipien zu eigen zu machen, wie wüßtet ihr die Gewissensbisse zu beschwichtigen, die sogleich mein Herz quälen würden?"
"Gewissensbisse sind Einbildung, Sophie, fuhr die Dubois fort, "sie sind nur das törichte Geraune einer Seele, die nicht stark und dreist genug ist, sie zu ersticken!"
"Sie ersticken - kann man das denn?"
"Nichts leichter als das. Man bereut nur das, was zu tun man nicht gewohnt ist. Wiederholt oft, was Euch Gewissensbisse bereitet, und es wird Euch gelingen, sie zum Schweigen zu bringen. Setzt ihnen das Lodern der Leidenschaften
entgegen sowie das unbezwingliche Gesetz der Selbstsucht, und ihr werdet sie rasch verscheucht haben. Sie zeugen nicht von begangenem Unrecht, sondern bloß von einer leicht zu unterjochenden Seele. Erginge das unsinnige Verbot, dieses Zimmer nicht zu verlassen, du gingest nur unter Gewissensbissen hinaus, so unbestreitbar du damit nichts Böses tätest. Damit ist die Behauptung, nur eine böse Tat bereite ein schlechtes Gewissen, widerlegt. Hält man sich die Belanglosigkeit des Verbrechens vor Augen - oder auch seine Notwendigkeit im Gesamtplan der Natur -, so lassen sich die Gewissensbisse, welche man bei seiner Begehung empfindet, ebenso leicht zerstreuen wie in dem Fall, dass du das Zimmer verlässt, nachdem man dir widerrechtlich befohlen hat, darinnen zu bleiben. Zunächst ist die genaue Untersuchung dessen erforderlich, was die Menschen als Verbrechen bezeichnen. Vor allem anderen hat man sich klarzumachen, dass unter diesem Begriff immer nur der Verstoß gegen Recht und Sitte eines bestimmten Landes verstanden wird, dass, was sich in Frankreich Verbrechen nennt, einige hundert Meilen weiter weg aufhört, ein solches zu sein. Nicht eine einzige Handlung gibt es, die auf der ganzen Welt gleichermaßen als Verbrechen angesehen würde und damit Rechtens diesen Namen verdiente. Das alles ist Ansichtssache und eine Frage der Geographie. Aus diesem Grunde ist es also unsinnig, Tugenden üben zu wollen, die woanders Verbrechen sind, und Verbrechen zu scheuen, die unter einem anderen Himmelsstrich als gute Taten gelten. Jetzt frage ich dich, ob jemand, der diese Überlegungen wirklich ernsthaft angestellt hat, noch Gewissensbisse zu empfinden vermag, wenn er zu seinem Vergnügen oder seinem Vorteil in Frankreich eine chinesische oder japanische Tugend übt, die in seinem eigenen Land als schimpflich gilt? Wird er sich noch lange bei derlei lumpigen Unterscheidungen aufhalten? Und werden diese, sofern er nur einen Funken philosophischen Geistes besitzt, imstande sein, ihm ein schlechtes Gewissen zu verschaffen? Wenn es also das schlechte Gewissen nur als Schutzeinrichtung gibt, wenn es sich nur deshalb einstellt, weil man mit einer bestimmten Handlung die allgemeinen Schranken durchbrochen hat, nicht aber wegen dieser Handlung selbst, ist es dann klug, dieser Regung nachzugeben? Ist es dann nicht wider die Vernunft, sie nicht unverzüglich aus seinem Herzen zu verbannen? Man sollte sich daran gewöhnen, die Tat, welche das schlechte Gewissen bereitet, für belanglos zu halten, und zwar auf Grund eines scharfsinnigen Studiums der Sitten und Gebräuche aller Völker der Erde. Aus dieser Überlegung heraus sollte man diese Tat - gleich, worum es sich dabei handelt - so oft wie möglich von neuem tun - und dem Lichte der Vernunft werden bald alle Skrupel weichen, jene düsteren Regungen, die dem Menschen anerzogen werden und die Früchte von Unwissenheit und Kleinmut sind. (...)


(aus des Marquis de Sades "Justine oder Vom Missgeschick der Tugend";
aus dem Französischen von Walter Fritzsche")