(...)
Wie der Leichenbeschauer den Tod diagnostiziert und mit letzgültiger Autorität
amtlich beglaubigt, so versieht der Intellektuelle heute das Amt, Totenscheine
auszustellen im Reich der Schönen und widersetzlichen Ideen und für tot zu erklären,
was über die Jahrhunderte lebendig war. Ein epochales Ereignis wie der Zerfall
des realen Sozialismus findet sich bei den Intellektuellen seltsamerweise nur
als Grimasse der Zerknirschung wieder, also als Travestie, die das historische
Ereignis auf die selbstverliebte Abrechnung eines Standes mit sich selber herunterbringt.
Weil der Glaube an eine gerechte Welt so innig an den falschen Gott gerichtet
war, den Kommunismus, wird er selbst für tot erklärt und den Gläubigen zur Buße
aufgegeben, künftig den Zweifel für die einzige Wahrheit zu halten, an der sie
nimmermehr zweifeln dürften, und in die selbstgefällige Skepsis einzuziehen
als jener Heimstatt, in der sie es sich gemütlich einrichten können. Indes kein
anderer als er es war, der die Revolte verraten hat an die Staatsmacht des realen
Sozialismus, bettet der Intelektuelle Totenbeschauer vorsorglich gleich die
Massengräber aller Revolten und Aufstände in seinen Friedhof der Ideen um, denn
der rebellische Geist selbst, dem er entraten hatte, muß schon das Unglück gewesen
sein, das über die Welt gekommen ist. Reiß ihn aus, den Stachel der Unzufriedenheit,
da er es ist, der sich zur Sünde
verführt.
Die Nachkriegsgeschichte, die Geschichte, die im Banne des von den Faschisten
über die halbe Welt gebrachten Krieges stand, ging 1989 zuende, da in wenigen
Wochen zusammenbrach, was für ewige Zeiten gebaut schien und doch auf Trümmern,
also ungesichertem Boden, errichtet war. Über eine Generation lang blieb der
verheerende Krieg jener Spiegel, in dem alles Geschehen seither, jeder Versuch,
die Welt als ganzes zu verändern oder auch nur ein bestimmtes Herrschaftssystem
zu bewahren, gedeutet und erkannt wurde. Die schönsten Utopien, die in jenen
Jahren entwickelt, gehütet, verraten, wie die falschesten Solidaritäten, die
gepflegt, verteidigt wurden, sie blieben mit dem Krieg verbunden, der nicht
nur aus den gewissermaßen traditionellen Gründen geführt wurde, Länder zu erobern,
Macht zu steigern,
Einflußzonen zu sichern und Ressourcen auszubeuten, sondern auch mit dem neuartigen
Ziel, bestimmte Menschengruppen der industriellen
Vernichtung zuzuführen. Der Krieg wirkte fort, widersprüchlich genug, als
geopolitische Vorgabe, der Europa über Jahrzehnte die starren Grenzen verdankte,
als ultimativer Auftrag, es nie wieder so weit kommen zu lassen, als Schnitt,
der durch die Welt ging und nicht nur diese in feindliche Lager teilte, sondern
auch die Geschichte in ein Davor und ein Danach schied.
(...)
(aus "Ritter, Tod und Teufel" von Karl-Markus Gauß)