(...) Mit anderen Worten: In diesem Stadium kann der Mensch die Frucht vom Baum des Lebens, dem Baum der Unsterblichkeit, essen, ohne sich einer Übertretung schuldig zu machen. Noch lauert der Tod nicht auf ihn: Zeit ist ihm unbekannt. Warum also begeht er diese Dummheit, das Gebot des Ewigen zu übertreten?
Die Schlange erklärt es uns: "Keineswegs werdet ihr sterben! Sondern Gott weiß, daß an dem Tag, da ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses" (Gen 3,4). Das ist der Einsatz, ihr Wunsch: ein Machtkonflikt und die Hoffnung, zu sein "wie Gott".
Was die Schlange aber nicht sagt, ist, daß der Schöpfer nicht zulassen kann, daß der Mensch gleichzeitig zur Unsterblichkeit und zur Erkenntnis gelange, denn von diesem Moment an würde er aufhören, Mensch zu sein.
Als er der Versuchung der Erkenntnis erliegt, wird der Mensch keineswegs von einem Blitz erschlagen - die Schlange hatte beinahe die Wahrheit gesagt. Doch er tritt in die Zeit ein. Er unterwirft sich einer Art Folter: nämlich sterblich zu sein. Die Erkenntnis, die er erwirbt, ist zuallererst die Erkenntnis seiner eigenen Grenzen. Erst mit Hilfe dieser Grenze, im beständigen Streben, die verlorene Ewigkeit - die aus ihm nur einen "wie Gott" macht - wiederzuerlangen, gelangt der Mensch zur wahren Erkenntnis von Gut und Böse. Und mit ihr zur Wahl zwischen Gut und Böse, und damit wiederum zur Freiheit dieser Wahl (....)


(aus "Alles beginnt mit Abraham" von Marek Walter
Zsolnay Verlag)