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"Schießen könnt ihr Gojim mit der Armbrust und mit dem Gewehr. Ä Wunder, wie ihr zielt und trefft! Ä Kunst, wie ihr schießt! Aber könnt ihr auch beten? Ä Wunder, wie ihr da falsch zielt und wie selten ihr ... trefft!"
"Rabbi! Ein Gebet ist doch keine Kugel aus dem Rohr!"
"Wieso nicht, Euer Ehren? Ein Gebet ist ein Pfeil in Gottes Ohr! Wenn der Pfeil trifft, so ist das Gebet erhört. Jedes Gebet wird erhört, - muß werden erhört, denn das Gebet ist unwiderstehlich, ... wenn es trifft."
"Und wenn es nicht trifft?"
"Dann fällt das Gebet wie ä verlorener Pfeil wieder herunter, trifft manchmal noch was Falsches, fällt auf die Erde wie Onans Kraft - oder ... es wird abgefangen vom 'Andern' und seinen Dienern. Die erhören dann das Gebet auf ... ihre Weise!"
"Von welchem 'Andern'?" frage ich mit Angst im Herzen.
"Von welchem 'Andern'?" äfft der Rabbi. "Von dem, der immer zwischen Oben und Unten wacht. Vom Engel Metatron, dem Herrn der tausend Gesichter ..."
Ich verstehe und schaudere: "Wenn ich nun - falsch bete - ?"
Der Rabbi achtet meiner nicht. Sein Blick geht irgendwohin in die Ferne. Er fährt fort:
"Man soll nicht beten um den Stein, wenn man nicht weiß, was er bedeutet."
"Der Stein bedeutet die Wahrheit!" werfe ich ein.
"Die Wahrheit - ?" spöttelt der Rabbi genau so wie der Kaiser. Ich meine, ich müßte ihn fortfahren hören: "Bin ich Pilatus ... ?" - Aber der hohe Adept sagt nichts.
"Was denn sonst bedeutet der Stein?" dränge ich unsichern Herzens.
"Das müssen Euer Ehren drinnen wissen, nicht auswendig!" sagt der Rabbi.
"Ich weiß wohl: der Stein ist innerlich zu finden, - aber ... er wird dann auch von außen bereitet und heißt: das Elixir."
"Gib acht, mein Sohn", flüsterte der Rabbi, auf einmal den Ton seiner Stimme gegen mich ändernd, daß es mir durch Mark und Bein geht. - "Gibt acht, wenn du um den Stein betest und bittest! Gibt acht auf den Pfeil, auf das Ziel und auf den Schuß! Daß du nich den falschen Stein bekommst, den falschen Stein auf den falschen Schuß! Das Gebet kann etwas Furchtbares werden."
"Ist es denn so schwer, richtig zu beten?"
"Ungeheuer schwer ist es, Euer Ehren! Recht haben Euer Ehren. Ungeheuer schwer ist es, Gott ins Ohr zu treffen."
"Wer lehrt mich das rechte Beten?"
"Recht beten ... das kann nur einer, der bei seiner Geburt geopfert worden ist und geopfert hat ... Einer, der nicht nur beschnitten ist, sondern auch weiß, daß er beschnitten ist, und den Namen kennt hinwärts und herwärts ..."
Ärger qillt in mir hoch: der jüdische Hochmut schimmert durch den Riß, wo die Worte des Rabbis zerreißen. Ich falle ein:
"Ich will Euch sagen, Rabbi, ich bin zu alt und zu weit in der Lehre der Weltweisen, um mich beschneiden zu lassen."
Aus unbegreiflicher Tiefe seiner Augen lächelt der Adept.
"Nicht lassen beschneiden lassen wollt ihr Euch, Euer Ehren! Das ists! Nicht lassen beschneiden will sich der wilde Apfelbaum.. Was trägt er?! Holzessigäpfel."
Ich spüre einen doppelten Boden unter den Worten des Rabbis. Unklar ahne ich, es wird hier ein Schlüssel gezeigt, ich brauch jetzt nur zuzugreifen. Aber der Unmut über die hochmütige Rede des Juden hat im Augenblick noch die Oberhand in mir. Ich entgegne mit Trotz:
"Mein Gebet geschieht nicht ohne Weisung und Lehre. Ich selbst mag den Pfeil schief auflegen; aber ein Engel hält mir den Bogen und lenkt das Geschoß."
Rabbi Löw horchte auf:
"Ein Engel? Was für ein Engel ist das?"
Ich beschreibe ihm den Engel vom westlichen Fenster. Ich mache ihm mit Anstrengung ein Bild vom Grünen Engel, der uns berät und auf übermorgen endlich die Offenbarung der Formel verheißen hat.
Da plötzlich befällt das Gesicht des Rabbis ein wahnwitziges Lachen. Ja: es ist ein Lachen, ich kann es nicht besser bezeichnen, und doch ist es anders als menschliches Lachen; es ist wie das rasende Flattern des ägyptischen Ibis, wenn er eine Giftschlange in der Nähe sichtet. - In dem wirren Haarkranz, der silbrig schimmernd auf und nieder tanzt auf dem Vogelkopf des Rabbis, verkrampft sich das kleine gelbe Gesicht wie zu einem einzigen Faltenstern, in dessen Mitte ein schwarzes rundes Loch lacht, lacht, lacht; ein einzelner langer gelber Zahn hüpft widerwärtig in der schwarzen Höhle ... irrsinnig! muß ich denken. - "Irrsinnig!"
(...)


aus "Der Engel vom westlichen Fenster" von Gustav Meyrink