Leseprobe:
Schnell stellte ich fest, wie sich das zivile Leben
während meines zweijährigen Aufenthalts im
Wald verändert hatte. Wir hatten dort
von der Perestroika so gut wie nichts mitbekommen. Die neue
Realität stach nun ins Auge: Die vakuumverpackte Gesellschaft,
die ich eigenhändig vor feindlichen Raketen geschützt
hatte, das harte sozialistische Ei, das seit Jahrzehnten im kochenden
Wasser des Kalten Krieges
vor sich hin gebrodelt hatte, hatte einen
mächtigen Riss bekommen. Alles, was noch
einigermaßen flüssig war, floss raus - ins Ausland.
Die Menschen standen nicht mehr vor den Lebensmittelgeschäften
Schlange, sondern vor den Konsulaten und Botschaften. Deren dunkle
Häuser, oft ohne jede Beschriftung, hielt ich früher
immer für wichtige Sanierungsobjekte, die aus irgendeinem
Grund unter Polizeischutz standen. In Wirklichkeit waren es Inseln der
Freiheit.
Besonders große Schlangen
standen vor der holländischen Botschaft, weil sich
dort das israelische Konsulat befand. Die amerikanische Botschaft sah
auch überlastet aus. Die drei schwarzen, athletisch gebauten
Marines mit Maschinengewehren in der Hand und Kaugummi im Mund
schreckten das Publikum nicht ab. Man hatte plötzlich das
Gefühl, jeder Russe wollte so ein schwarzer Mann werden oder
sich zumindest neben einen stellen.
Wladimir Kaminer: "Militärmusik". Roman. |
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Manhattan im Goldmann Verlag, 2001. |
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ISBN 3-442-54532-3. 192 Seiten. |
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ca. EURO 18,- |
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