Wladimir Kaminer: "Militärmusik"
Geschichte(n) am Wendepunkt -
wo das Außergewöhnliche alltäglich ist
"Wer sich an das Absurde gewöhnt, findet
sich in unserer Zeit gut zurecht." (Eugène Ionescu; 1909-1994)
"1967 feierte unser Land ein wichtiges Jubiläum - fünfzig Jahre sind
seit der Großen Oktoberrevolution vergangen. Für die real existierenden
sozialistischen Kleinbürger gab es nicht viele Gründe, stolz auf ihr Land und
die dort herrschende Ordnung zu sein. Sie hatten mit dieser Ordnung etliche
Probleme: das Wurstproblem, das Zuckerproblem, das Butterproblem und unzählige
andere, welche die Sowjetunion für sie unattraktiv machten. Für einen
Romantiker sah die Realität dagegen sehr positiv aus. Denn im Ballett waren wir
die Nummer eins. Keine Ballerina der Welt konnte so toll springen wie die
unseren. Das größte Atomkraftwerk zu bauen war auch nur in der Sowjetunion
möglich, und den ersten Mann ins Universum
hatten wir auch geschickt."
So beginnt "Militärmusik" mit einem Rückblick auf das Jahr 1967;
jenes Jahr, in dem von Christian Barnard die erste erfolgreiche
Herztransplantation an einem Menschen durchgeführt wurde, der sowjetische
Kosmonaut Komarow mit Sojus I abstürzte, weil sich die Fallschirmleinen
verwickelt hatten, und Wladimir Kaminer in Moskau geboren wurde.
Dieses Jahr ist folglich der Ausgangspunkt seines ersten, teils
autobiografischen Romans, und gemeinsam mit Kaminers Ich-Erzähler (ebenfalls
namens Wladimir) gewöhnt man sich an das Absurde und findet sich zurecht, um
das eingangs angeführte Zitat geringfügig abzuwandeln. Mehr noch, man erlebt
den inneren Wandel und Zerfall der UdSSR aus der Perspektive eines gewitzten,
abenteuerlustigen Menschen, der seinen Aktionsradius schon
von
Kindesbeinen an mit kreativer Fantasie, Neugier, schelmenhafter
Entlarvungslust und seinem Talent, die beschränkten Möglichkeiten innerhalb
des Systems stets zum eigenen Vorteil bis an die Grenzen auszunutzen erkundet
oder vielmehr ausweitet, und trifft auf Gestalten sowie historische Ereignisse
zweier Jahrzehnte, in deren Verlauf die gewaltigen gesellschaftspolitischen
Veränderungen in der Sowjetunion stattfanden. Kaminers Hauptfigur ist,
selbstverständlich zufällig, stets am Puls der Zeit, hautnah am Zeitgeist.
Wladimir Kaminer, der auch bereits in "Russendisko"
die alltäglichen Hindernisse und Tücken des Daseins im
Russland
der Gorbatschow-Zeit thematisiert hat, schöpft aus dem reichen Fundus des
selbst Erlebten. Ähnlich wie die aus dem ehemaligen Ostdeutschland stammende
Else
Buschheuer profitiert Kaminer vom Reiz eines untergegangenen Staatsgefüges
und findet reichlich absurden Stoff in den Besonderheiten des kommunistischen
Systems. "Für den Kommunismus besteht die wahre Erlösung der Menschheit
darin, dem Menschen die schreckliche Last der Freiheit abzunehmen, ihn unfrei
aber glücklich zu machen. Für den Nichtkommunisten ist das Ziel die Freiheit,
nicht das Glück" - (anonymer Verfasser).
Wladimir führt den Leser (mit reichlich Alkohol im Gepäck) ins Jugendlager
"Junger Seemann", zur Theaterschule, an das Majakowski-Theater, wo er
als Praktikant die Eigenheiten der Welt der Künstler kennenlernt. Wladimir
versucht sich über die Jahre unter Anderem als Parkwächter und
Sommertheatermacher und schließt Freundschaften mit - auf ihre Weise
liebenswerten - Figuren seines Schlages. Der Leser durchstreift mit ihm die Weiten
der damaligen Sowjetunion, wenn er drei Wochen lang gemeinsam mit seinem Freund
George als Begleitposten mit einem Rinderzug von
Lettland nach Usbekistan fährt
und sich währenddessen von Spiritus mit Wasser ernährt, mit seinen Freunden
Katzman und Mammut in
Kiew Konzerte in Privatwohnungen organisiert und gelegentlich auf Organe des
KGB trifft, oder mit Katzman drei Monate in einem "alternativen"
Zeltlager in der lettischen Republik verbringt.
Am 11. März 1985 wird Michail Gorbatschow neuer Parteichef der KPdSU als Nachfolger
des verstorbenen Tschernenko. 1986 geht Wladimir für zwei Jahre zur Armee und
gehört just jener Einheit des Dritten Abwehrrings des Moskauer
Verteidigungskreises an, die tief fliegende Ziele abschießen soll, jedoch im
Ernstfall kläglich versagt, als 1987 der neunzehnjährige deutsche Sportflieger
Mathias Rust das sowjetische Frühwarnsystem unterfliegt und auf dem Roten Platz
in Moskau landet. Selbstverständlich kommt es daraufhin zu einer Serie von
Selbstmorden militärischer Verantwortungsträger ...
Wladimir wird zum stellvertretenden Vergnügungsorganisator der Einheit, die
mitten im Wald stationiert ist und aus drei Raketen, einem Radargerät, dreißig
Soldaten und vier Offizieren besteht, ernannt, und darf somit bestimmen, in
welcher Reihenfolge die vorhandenen fünf Schallplatten jeden Tag abgespielt
werden. Auch sein Talent als Geschichtenerzähler leistet ihm in der Armee
wieder gute Dienste: Er betätigt sich als Wahrsager der Kompanie. Ihn ob seines
Einfallsreichtums als Lügenbaron zu bezeichnen ginge an der Wahrheit allerdings
meilenweit vorbei; Wladimir ist ein experimentierfreudiger, flexibler Mensch mit
zielsicherem Instinkt für sonderbare Situationen und einem feinen Gespür für
seine Mitmenschen.
Nach Anfertigung eines riesengroßen Soldatenplakates darf er zurück nach Hause
(Moskau) fahren und muss sich dort erst wieder an die mittlerweile im Umbruch
befindlichen
zivilen
Lebensumstände gewöhnen.
1990
zerfällt
die Sowjetunion in selbstständige Einzelstaaten; Boris
Jelzin wird in Russland Präsident. Scharenweise verfallen die Russen dem
via Television verbreiteten Anblick des "relativ kleinen" Busens der
französischen Sängerin Patricia Kaas. Auch Katzman fällt dieser
Massenpsychose zum Opfer und landet vorübergehend in der "Klapse".
Wladimir beschließt, wie viele seiner Freunde, sein Glück im Westen (wohin der
Weg über Ost-Berlin führt) zu versuchen und besteigt den Zug in Richtung
"Zukunft".
Hier laufen die Fäden der Biografien von Wladimir, dem Ich-Erzähler, und
Wladimir, dem Autor, zusammen: Kaminer selbst lebt seit 1990 als DJ, Autor und
Theatermann in Berlin.
(kre)
Wladimir
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