Leseprobe:
(...) Meine Mutter sagte, ich war ein sehr ruhiges Kind, lächelte gern Fremden
zu, schrie so gut wie gar nicht und pinkelte in die Windeln nur auf ihren Befehl.
Ich glaube meiner Mutter, weil sie dreißig Jahre lang an der Schule unterrichtet
und immer die Wahrheit gesagt hat. Laut meiner Mutter fing ich sehr früh an zu
sprechen. Später in der Schule entwickelte sich meine erzählerische
Leidenschaft weiter. Ob Chemie oder Geschichte,
Geographie oder Biologie,
ich trat gern an der Schultafel auf, doch meine Formeln entpuppten sich als
Fiktionen, die Stoffe existierten meist nicht, und alle Daten waren durcheinander
gebracht.
In der Nähe unseres Hauses stand ein
kleiner Wald, in dem wir oft spazieren gingen. Auf der anderen Seite des Waldes
befand sich ein Irrenhaus, das alle nur "das gelbe Haus" nannten, wegen der Farbe
der Fassade. Die Irren kletterten oft über den Zaun und irrten im Wald herum.
Ich konnte noch nicht richtig laufen und saß voller Stolz auf einem roten Plastikpanzer,
den meine Mutter an einem Strick hinter sich herzog. Plötzlich sprang ein Irrer
aus einem Busch. Es war ein Exhibitionist. In der Hand hielt er seinen riesigen
Schwanz, groß wie eine Panzerkanone. Er starrte uns an und wir ihn. Meine Mutter
war sprachlos vor Angst und fuchtelte nur mit den Händen. Ich schrie auf einmal:
"Hau ab!" Der Mann verschwand sofort wieder hinter dem Busch, und wir rannten
nach Hause. Damals, als kleines Kind, wusste ich noch nicht, dass Exhibitionisten
genau so harmlos wie Ameisen
sind. Nun weiß ich es. Doch vor 32 Jahren war es ein Schock für mich, ein psychisches
Trauma. Aufgrund dieses Vorfalls fing ich an zu sprechen und kann bis heute nicht
damit aufhören.
Schon im Kindergarten entdeckte ich diese Leidenschaft
fürs Geschichtenerzählen. Während der Ruhestunden, wenn die Erzieherin sich
in die Küche zurückzog, um den von uns übriggelassenen Brei aufzuessen, erzählte
ich meinen Kindergarten-Genossen alle möglichen Geschichten. Ich konnte ihre
Fragen viel umfassender beantworten als die dafür zuständigen Verantwortlichen.
Über alles wusste ich Bescheid: über Flüge zum
Mars, wo Gold
vergraben sein musste, und wie sich die Menschen fortpflanzten. Ich konnte alles
bis in die kleinsten Einzelheiten erklären, nur ein Haken war dabei: Meine Geschichten
stimmten nicht. Ich war nämlich ein totaler Spinner. Die Folgen mancher meiner
Geschichten waren haarsträubend. Als ein paar Kumpel aus meiner Kindergartengruppe
meine Version der menschlichen Fortpflanzung in die Realität umzusetzen versuchten,
kam es beinahe zu schlimmen Körperverletzungen. (...)
Aus: Wladimir Kaminer: "Militärmusik". Roman. |
|
|
Manhattan im Goldmann Verlag, 2001. |
|
|
ISBN 3-442-54532-3. 192 Seiten. |
| |
ca. EURO 18,- |
|