Peter Payer: "Unentbehrliche Requisiten der Großstadt"
Eine Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten von Wien

Die öffentliche Kehrseite der Stadt


Schon 1552 beklagte der Wormser Schulmeister Kaspar Scheit mit den hübschen Versen "auch wann dir not zu prunzen ist/ und mitten in der gassen bist/ so ler die blasen aus und steh/ und acht nit wer fur uber geh" die "groben sitten und unhöflichen geberden" seiner Mitmenschen, die in den Straßen der wachsenden Städte ungeniert dem Motto "Not kennt kein Gebot" folgten.

Mit der zunehmenden Tabuisierung der öffentlichen Notdurftverrichtung und neuen medizinischen Erkenntnissen wuchs in den folgenden Jahrhunderten der Bedarf an "hygienisch und moralisch einwandfreien" Lösungen dieses urbanen Problems. Durch steinerne Fußplatten einladend gekennzeichnete "Nothwinkel" und sogenannte "Buttenmänner" bzw. "Buttenweiber", die als ambulante Abtrittanbieter den Bedürftigen einen Eimer und einen weiten Mantel aufwarten konnten, der zwar die zu entblößenden Körperteile vor fremden Blicken, nicht aber die Umstehenden vor dem olfaktorischen und akustischen Miterleben des Ausscheidungsvorganges schützte, waren ebenso wie erste von der Stadtverwaltung errichtete Pissoirs auch in der Haupt- und Residenzstadt des Habsburgerreiches oft genutzte Vor- und Frühformen öffentlicher Toiletteanlagen. Doch selbst die Bildung eines bald treffend "Pissoir-Kommission" genannten Gremiums des Wiener Gemeinderates konnte der immer drängenderen Angelegenheit nicht Herr werden.

Erst ein "Zuagraster" sollte schließlich Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die einer Weltstadt unwürdige, buchstäblich zum Himmel stinkende Situation entscheidend verbessern. Mit der Errichtung und dem Betrieb von zahlreichen - endlich auch die in dieser Hinsicht bis dahin meist vernachlässigte Damenwelt erleichternden - öffentlichen Bedürfnisanstalten stieg der aus Berlin stammende Kaufmann Wilhelm Beetz zum Monopolisten auf diesem Gebiet auf, revolutionierte mit seinem wassersparenden, desinfizierenden und geruchshemmenden "Öl-System" die Konstruktion der zuvor wenig einladenden Pissoirs und konnte sein patentiertes Erfolgsprodukt bald in alle Welt exportieren.

Die breite Unterstützung, die der Hygienepionier in der Stadtverwaltung genoss, dokumentiert eine Nummer des Wiener Amtsblattes von 1906, in der die Abgeordneten einmal ihre ideologischen Differenzen vergaßen und feststellten, dass die zur Debatte stehenden öffentlichen Aborte "nichts Sozialdemokratisches, nichts Christlichsoziales (...), sondern rein Menschliches" an sich hätten: "Da gibt es nichts Katholisches, nichts Klerikales, sondern es ist eine Sache, die für alle Bedürftigen da ist."

Das Tabu, das die einstmals als "Fortschritt der Zivilisation" gepriesenen Einrichtungen heute umgibt, war für den Wiener Stadtforscher und Historiker Peter Payer Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit diesem bisher schamhaft vernachlässigten Kapitel der Kulturgeschichte. In seinem aus einer Dissertation hervorgegangen Buch über die "Unentbehrlichen Requisiten der Großstadt" belegt er mit einer Vielzahl von historischen Quellen die zunehmende Ächtung des "wilden" Urinierens und Defäkierens und zeichnet die parallel dazu verlaufende sprachliche Verkleidung der Ausscheidungsvorgänge nach, die nun sowohl den Autor als auch die Rezensentin darin hindert, die Dinge ohne Peinlichkeit so direkt beim Namen zu nennen wie Liselotte von der Pfalz, die sich 1694 in einem Brief an ihre Tante unverblümt über den Mangel an Toiletten in französischen Schlössern beschwerte: "Sie sind in der glücklichen Lage, scheißen gehen zu können, wann Sie wollen, scheißen Sie also nach Belieben. Wir sind hier nicht in derselben Lage, hier bin ich verpflichtet, meinen Kackhaufen bis zum Abend aufzuheben; es gibt nämlich keinen Leibstuhl in den Häusern an der Waldseite. Ich habe das Pech, eines davon zu bewohnen und darum den Kummer, hinausgehen zu müssen, wenn ich scheißen will, das ärgert mich, weil ich bequem scheißen möchte, und ich scheiße nicht bequem, wenn sich mein Arsch nicht hinsetzen kann." Der Großteil des illustrierten Bandes ist den sozialen, technischen und architektonischen Aspekten der Wiener Bedürfnisanstalten der Firma Wilhelm Beetz sowie den Benutzergruppen gewidmet, die bis heute die öffentlichen Toiletteanlagen der Stadt zu ihrem eigentlichen Bestimmungszweck, aber auch als Ort für Sexualkontakte, Drogenkonsum, temporären Unterschlupf oder als Arbeitsplatz aufsuchen. Sollte man nach der Lektüre von Payers verdienstvollem Buch das dringende Bedürfnis verspüren, mehr zum Thema zu erfahren, so kann der Besuch einer der noch erhaltenen und im Anhang aufgelisteten Anlagen - mit einigen Ausnahmen wie des eleganten unterirdischen Etablissements am Graben - aus eigener leidvoller Erfahrung nur bedingt angeraten werden. Ohne Angst vor einer Belastung der Magennerven können jedoch die von Peter Payer neu herausgegebenen Memoiren der Wetti Himmlisch, einer eloquenten Wartefrau in Wien um 1900, empfohlen werden, die der Löcker Verlag ebenfalls publiziert hat.

(S.B.; märz 01)


Peter Payer: "Unentbehrliche Requisiten der Großstadt"
Löcker Verlag. 249 Seiten. ISBN 3-85409-323-3. ca. EUR 28,63. Buch bestellen