Pierre Assouline: "Lutetias Geheimnisse"


Mikrokosmos Grandhotel

In den Dreißigerjahren ist das Pariser Grandhotel "Lutetia" eine Institution. Für manchen Gast, aber auch einige Angestellte, verkörpert es darüber hinaus ein Zuhause. Zu diesen gehört der Hoteldetektiv Édouard Kiefer, der seine Arbeit diskret, äußerst gewissenhaft und aufmerksam verrichtet.

Kiefer beobachtet leidenschaftslos das bunte Treiben im Mikrokosmos Hotel, der so intensiv die Zwischenkriegszeit widerspiegelt. Die Menschen wissen zunächst noch nicht, dass sich über ihnen ein neuerlicher Krieg zusammenbraut, aber sie leben in einer eigenartigen Atmosphäre, geprägt vom Wechsel zwischen zumeist versnobtem Hedonismus und rastloser Geschäftigkeit.

Schon zeichnen sich erste Spannungen ab, treten Deutsche großspurig im Lutetia auf. Dann beginnt der Krieg, Frankreich fällt im Handstreich, und die deutsche Abwehr unter Admiral Canaris nistet sich im Hotel ein. Schmerzlich erlebt Kiefer, wie sein Frankreich zwischen den Deutschen und Marschall Pétain aufgerieben wird, Gegner der Besatzer und des Vichy-Regimes sowie Juden verschwinden in Gefängnissen, werden unüberhörbar gefoltert und schließlich, sofern sie überleben, deportiert. Unter den Hotelangestellten gibt es auch Anhänger der Résistance. Zögernd unterstützt Kiefer sie - zögernd auch deshalb, weil das Lutetia zu einem Tummelplatz von Agenten und Doppelagenten geworden ist.

Nachdem die Alliierten Frankreich und schließlich auch die KZs im Osten befreit haben, wird das Lutetia zu einer Erstaufnahmestation für deren Überlebende; seine würdigste Aufgabe, befindet Kiefer. Bei der Ankunft der Transporte spielen sich tragische Szenen ab: So viele Bürger hoffen verzweifelt, Angehörige unter den Eintreffenden zu finden, und diese warten wiederum oft vergeblich darauf, abgeholt zu werden. Nun lernt Kiefer wirklich dramatische Geschichten kennen, er liest das Leiden der ganzen Menschheit in den Augen der Opfer, das keine Worte findet, er muss sich an den grotesken Verhören Verdächtiger beteiligen, die möglicherweise als ehemalige Lagersträflinge getarnt echte Schuld vertuschen wollen.
Nachdem alle Deportierten das Lutetia verlassen haben, kehrt rasch die Normalität ein: Hedonismus im Wechsel mit unermüdlicher Betriebsamkeit.

Manches seiner Erlebnisse scheint Édouard Kiefer wie ein Traum, nicht selten wie ein Alptraum. Muss er anfangs Streitigkeiten unter Gästen schlichten, die meist banale Ursachen haben, verschwundene Gegenstände wieder finden und in jeder Hinsicht diplomatisch vermitteln, so bewegt er sich ab 1940 auf einem schmalen Grat. Er tut seinen Dienst auch unter den neuen Herren, den Besatzern, weil er sich diesbezüglich seinem Chef verpflichtet hat, aber er muss rasch erfahren, dass selbst er erpressbar ist und Demütigungen gegenüber nicht gefeit. Dies bringt ihn dazu, der Résistance zuzuarbeiten.

Die Ankunft der ehemaligen KZ-Häftlinge, fast verhungert und auch seelisch zumeist völlig zermürbt, stellt schließlich sein ganzes Wertesystem infrage und macht ihn vom innerlich passiven Beobachter zum Agierenden, Rezipierenden. Eine Normalität im oben genannten Sinne kann es für ihn selbstverständlich nicht mehr geben.

Zunächst scheinbar im leichten Erzählton entführt dieser Roman den Leser in eine rätselhafte, rasanten Veränderungen entworfene Welt, deren Drängen schließlich auch der Ich-Erzähler Édouard Kiefer ganz unwillkürlich folgt. Die Geheimnisse der Metropole Paris, des alten Lutetia, konzentrieren sich im gleichnamigen Hotel, wo Entwicklungen, gute und fatale, angestoßen werden, Schicksale auseinanderdriften und zusammentreffen und kleine wie große Entscheidungen gefällt werden. Wie gesagt, das Lutetia ist ein Abbild, mitunter auch ein Zerrbild der großen Stadt.

Der Autor hat für den Roman intensiv recherchiert; das Buch erzählt große Geschichte anhand zahlreicher kleiner, miteinander verflochtener Geschichten, es klagt an und zeigt uns doch auch immer wieder die von Grund auf menschlichen Schwächen, die zuweilen ganze Kulturen in einen Abgrund von Hass und Gewalt stürzen können.

(Regina Károlyi; 10/2006)


Pierre Assouline: "Lutetias Geheimnisse"
(Originaltitel "Lutetia")
Aus dem Französischen von Wieland Grommes.
Blessing, 2006. 445 Seiten.
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Pierre Assouline, 1953 in Casablanca geboren, lebt in Paris, ist Chefredakteur der Zeitschrift "LIRE". Fast alle seine Romane wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Für seinen Verkaufserfolg "Lutetias Geheimnisse" erhielt der Autor im Jahr 2005 den "Prix de la Maison de la Presse".

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