Andreas Hutter: "Rasierklingen im Kopf"
Ernst Spitz - Literat, Journalist, Aufklärer
Kulturell gesehen war nach dem Krieg
in Österreich eine Weile nicht viel los. Eine Generation musste heranwachsen,
um den Aderlass an Künstlern und Intellektuellen, den das Dritte Reich über
das Land gebracht hatte, halbwegs wett zu machen. Einer der Männer, die das
Land in der Zwischenkriegszeit geprägt hatten, war Ernst Spitz. Nie gehört?
Nun, dass wir Spitz bereits vergessen haben, ist der finale Triumph der Nazis,
die diesen Mann kurz nach dem "Anschluss" 1938 nach Dachau karrten und ihn 1940
in Buchenwald "auf der Flucht erschossen".
Der österreichische Historiker und Buchautor Andreas Hutter, der vor einigen
Jahren mit einer Biografie des Filmregisseurs Billie Wilder an die Öffentlichkeit
getreten ist, übernimmt mit diesem schön gestalteten Buch einen Teil Wiedergutmachung
der Verbrechen an jüdischen Mitbürgern, die gerade damals dazu beitrugen, die
2-Millionenstadt Wien zu einem Weltzentrum zu machen. Dazu gehörte eine rege
Presse mit über dreißig Tagesblättern und vielen Wochenzeitschriften, allen
voran Karl Kraus’ "Fackel".
Es war die Zeit des Revolverjournalismus, ein Begriff, den Ernst Spitz prägte,
als er 1926 "Bekessys Revolver" veröffentlichte, ein Enthüllungsbuch über seinen
Dienstherrn, einen ungarischen Geschäftsmann, der damals mit seinen Boulevardblättern
Wirtschaftsleute erpresste. Wer Schutzgeld zahlte, konnte mit günstigen Artikeln
rechnen. Wer es verabsäumte, fand sich einer Hetzkampagne ausgesetzt. Spitz
enthüllte diese Machenschaften und trieb Bekessy in die Flucht. Ein interessantes
Detail: Spitz’ Gegner in der Redaktion war ein junger, aufstrebender Redakteur
namens Billie Wilder.
Der heute weitgehend als amerikanischer Filmregisseur und Schöpfer unvergesslicher
Komödien wie "Manche mögen’s heiß" und "Ninotschka" bekannte Wilder (1906-2002)
bezeichnete Spitz in einem Interview mit Hutter ein halbes Jahrhundert nach
den Vorfällen als "schlechtes und total untalentiertes Arschloch". Wer die Dokumentation
liest, gewinnt einen anderen Eindruck. Spitz hatte einen interessanten Schreibstil,
der sein erstes Buch "Du gehst vorbei" Anfang der 1920er Jahre zum Bestseller
machte - auch dies eine journalistische Arbeit über die Verhältnisse in den
damaligen Gefängnissen.
Ein angenehmer Zeitgenosse wird Spitz trotzdem nicht gewesen sein. Er war der
Sohn eines Wiener Bankiers, der ihm immer wieder finanziell unter die Arme greifen
musste, was ihm Spitz nicht dankte. Er brach sein Studium ab, um Kommunist zu
werden und flog bei den Kommunisten raus, weil er sich auf die Seite Trotzkijs
stellte. Er musste wegen seiner Kompromisslosigkeit mehrere Arbeitgeber verlassen
und war, als ihn die Gestapo holte, schon als Mittdreißiger ein gebrochener
Mann. Damals schrieb er
Sketche
und Revuen für Kleinkunstbühnen, und wenn man nach den damaligen Kritiken
in den Zeitungen geht, treffsicher, scharfzüngig und mit einem Hauch an Depressivität.
Der Schauspieler Leon Askin (der meines Wissens in keinem Wilder-Film vorkommt)
rettet in diesem Buch die Künstlerehre des Ernst Spitz - wie auch die Nachdrucke
von Ausschnitten aus seinen Büchern und Zeitungsartikeln im zweiten Teil des
Buchs, lebensnahe und treffsichere Schilderungen einer aufgeregten und auf die
Katastrophe zusteuernden Zeit.
(Berndt Rieger; 02/2006)
Andreas Hutter: "Rasierklingen im
Kopf"
Mandelbaum, 2006. 301 Seiten.
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Andreas Hutter studierte Publizistik und Geschichte und ist Kultur-Ressortleiter bei der Tageszeitung "Neues Volksblatt". Er hat in der "Neuen Zürcher Zeitung", der "Presse" und "Profil" publiziert.