ROKOKO,
DAS KUSS-MOTIV UND EIN FRUSTRIERTER JUNGER GOETHE
- Exemplarische Betrachtung eines Epochenwandels -
Der K u ß, einer Versprechung gleichender kairos der Erotik, als aufblitzender Stern über einer Epoche, Merkmal, Erkennungszeichen? Wie schön, aber auch wie bedenklich! Der Kuß als Besiegelung dauerhaft-ehelicher Verbundenheit, im privat Verborgenen genießend vollzogen, aber vor dem Traualtar, wenn der heiligende Segen vom Priester gesprochen ist, rituell eingefordert , entspricht nicht eben der Wunschvorstellung des R o k o k o, von dem in der Folge die Rede sein soll. Ihm ist der Kuß ein ganz und gar profanes, ganz und gar frivoles Heiligtum, Symbol und pars pro toto einer sich vom Harnisch der Tugendkonvention befreienden Natur. Es liebt und hätschelt ihn als didaktischen Scherz und das verschämte bürgerliche Darüber-spricht-man-nicht nimmt es vergnüglich zum Anlaß und Aufhänger witzig pointierender Ironie.
Der von Lessing so
hochgeschätzte Friedrich von Hagedorn (1708 - 1754) beginnt den Reigen der "Kuß"-
Gedichte, die sich über die Rokokojahrzehnte hinziehen bis zum jungen Goethe
in Leipzig, der mit leichthändiger Eleganz die Grenzüberschreitung zum Sturm
und Drang vornimmt. Die Aufklärung hatte da noch ein wenig kantisch strengen
Widerstand geleistet, nicht aber der wenig verwurzelte übergängliche Zeitstil
des Rokoko, das einige Mühe hatte, sich mit dem gewichtigen Erbe des Barock
zu arrangieren und abzufinden und sich in seiner Eigenheit vor der Geschichte
zu rechtfertigen.
Die pathetische Ernsthaftigkeit der von aufgewühlter Religiosität beunruhigten
Barockmenschen, die auf die auf Beständigkeit aller so gern genossenen Güter
und Genußfreuden fixierte Todesfurcht und Lebensangst keine bessere Antwort
wussten, als sich pompös zu kostümieren und baulich in eine hypertrophe Pracht
einzuhüllen, ließ sich nicht mehr so recht durchhalten und ernst nehmen. Aber
da die Würde einer so zwischen Schein und Sein schwankenden reichen Erbschaft
eben doch noch einen verpflichtenden Charakter hatte, dem man sich so ohne weiteres
nicht entziehen konnte, geriet der von der Aufklärung patriarchalisch an die
Hand genommene Rokokobürger in eine fundamentale Verlegenheit. Das zunehmende
Gespür für die Rechte der Natur, der die Aufklärung das mit der Vernunft gleichgesetzte
Naturrecht entnahm, sträubte sich gegen die Widernatürlichkeit barocker Daseinsveranstaltung,
litt wohl etwas unter dessen eher peinlich erscheinender Theatralik. Eine offene
Auflehnung dagegen war vorläufig nicht zu empfehlen -- dazu fehlten historisch
einige Voraussetzungen -- und um sie (bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt)
zu vermeiden, bediente man sich der heroischen Masken, die das Barock der griechischen
Mythologie entliehen hatte, versetzte sie ins Kleinformat und fand auf diese
Weise die Lösung des Dilemmas in der beschaulichen Artistik einer alle Höflichkeitsformen
wahrenden I r o n i e . Man spielte die Spiele der Väter, die man als solche,
auch wenn sie tiefer verborgen waren, erkannt hatte, ein wenig weiter und nahm
behaglich hinter den Kulissen Platz, um mit spielerischer Lust in nicht offen
gezeigter Überlegenheit das ‚Welttheater' an Marionettendrähten aufzuführen.
Aber die agierenden feingliedrigen Marionetten, die der Tradition manipulierbarer
Scheinwelten zu folgen vorgaben, steuerten unbeirrt ins Zentrum der Menschennatur,
die, wie sich nicht verleugnen ließ, dem Puls der Sinne und dem aus dem Herzen
drängenden Gefühl unterworfen ist, es immer war und immer ist. Da macht, wenn
das erst einmal ins Auge gefasst ist, das Tabu des gesellschaftlichen Anstands
unversehens eine lächerliche Figur. Aber natürlich , das bleibt vorläufig die
Verlegenheit, darf das zivilisierte Gesellschaftsmitglied nicht in Barbarei
abstürzen. Und so etwas wie eine Absturzangst ins ungehemmt Natürliche ist in
allen Äußerungen des Rokoko zu verspüren. Da ist dann eben die Ironie der gesucht-gefundene
Rettungsanker. Sie macht sich unterhaltsam nützlich als harmlos heimtückischer
Witz, lädt mit ihren Pointen zum immer doch das Gesicht wahrenden Lachen ein.
-- Es ist letztlich die Wiederentdeckung des Hofnarren, der erhabenen Freiheit
des Clowns, der sich vom Hanswurst allerdings deutlich distanziert.
Der Kuß! Er ist erotisches Ereignis und Symbol der Liebe, ist aber auch zweideutig
und unzuverlässig, weil er zunächst nur der puren Sinnenlust entspringt, barbarischer
Animalität also, seine Bedeutung jedoch bis in die tiefsten Regionen des Gefühls
hinabreichen kann. Eros, geläufig auch als der dreiste Knabe Amor, der mit seinen
Pfeilen jeden Widerstand der Wohlanständigkeit ignoriert, grausam, weil er Gewalt
übt, gnädig, ein Freund aber auch, weil er von moralischer Verantwortlichkeit
befreit. Damit eröffnet er, der Frivole, Naturhafte, Zweideutige das gesuchte
Spielfeld für die Rokokoartisten, für die Hagedorns, Weißes, Watteaus, Fragonards,
Mozart,
den jungen und die Grenzlinie der Rokokozeit überspringenden späteren.
H a g e d o r n , wie gesagt, ist der erste auf dem Plan:
DIE KÜSSE
Als sich aus Eigennutz
Elisse
Dem muntern Coridon ergab,
Nahm sie für einen ihrer Küsse
Ihm anfangs dreißig Küsse ab.
Am andern Tag erschien
die Stunde,
Daß er den Tausch viel besser traf.
Sein Mund gewann von ihrem Munde
Schon dreißig Küsse für ein Schaf.
Der dritte Tag war
zu beneiden:
Da gab die milde Schäferin
Um einen neuen Kuß mit Freuden
Ihm alle Schafe wieder hin.
Allein am vierten ging's
betrübter,
Indem sie Herd und Hund verhieß
Für einen Kuß, den ihr Geliebter
Umsonst an Doris überließ.
Ist das der pure Spott?
Spott aber über wen? Kritisiert dieser Poet da bestimmte eingeübte Verhaltensweisen?
Zitiert er die vor ein Sittengericht?
Aber nicht doch! Er tritt auf als Sprach- und Pointenartist, baut kunstvoll
aus logischen Verstrebungen eine säuberlich gefügte Pyramide, die auf einer
Leiter des Witzes endlich die krönende Schlusspointe aufsetzt. Der Applaus ist
zwingend, was immer dabei gedacht wird. Der Artist verneigt sich, lächelt und
welcher Schelm ihm dabei aus den Augen blitzt, geht niemand etwas an. Wollte
er da etwa an kleinere oder größere Geschäfte und profitable Spekulationen erinnern,
die da mit der Liebe ein unerlaubtes, gar schäbiges, gar zynisches Spiel betreiben?
Die sich zuspitzende Argumentation (das Gedicht ist ein durch und durch rationales),
zielt auf etwas anderes: die für die Lebensbewältigung eingeübte Vorteilsberechnung,
die vom mächtig-listigen Eros ad absurdum geführt wird. Es lebe die Natürlichkeit
des so überaus klüglichen homo sapiens! Das aber darf nur empfunden werden.
Vorgeführt wird der in handwerkliche Verskunst gekleidete konstruierte Witz.
Für den wird Applaus eingefordert.
Applaus? Um, was sich so assoziieren lässt, noch etwas fortzuspinnen: Gilt er
vielleicht dem Rechenlehrer, der dem Erstklässler in der Rechenstunde die Kugeln
auf dem Rechenschieber wie Weberschiffchen hin und her flitzen lässt? Da könnte
es dann so an der Tafel stehen:
1) 1 K = 30 S
2) 30 K = 1 S
3) 30 + x S = 1 K
4) 0 S + x = 1 K
Oder dichtet hier ein Varieté-Künstler, ein Jongleur, ein Zauberkünstler gar?
Bewegt wird dieses Mobile vom Auto-Mobile eines verliebten Gefühls, das spielerisch
manipulierbar erscheint. Nichts liegt ferner, soviel an Eindeutigkeit im Vieldeutigen
lässt sich feststellen, als die Unterstellung von etwas wirklich Erlebtem, das
diesem Gedicht vielleicht zugrunde läge. Das aber könnte den Schluss zulassen,
dass hier von Gefühlen die Rede ist, von Sehnsucht, Lust und Freude und endlich
Schmerz, nur um wirklich Gefühltes zu verschweigen. Frivolität aus Diskretion?
Darauf verweist natürlich auch, dass nicht von Hans und Luise, von dir und mir
die Rede ist, sondern von Elisse, Coridon und Doris - ferngriechischen Spielfiguren
hedonistischer Anakreontik. Bei so großer zeitlicher und räumlicher Entfernung
(und die kulturelle kommt hinzu) sollte auch die Vorführung des Unerlaubtesten
erlaubt sein. Aber - und da liegt eben die geheime Brisanz der Rokoko-Kultur:
auch eine inkognito versendete Botschaft erreicht ihr Ziel.
Auf "Die Küsse" des
Friedrich Hagedorn folgt etwa zehn Jahre später "Der Kuß", 1758 in den sehr
erfolgreich publizierten "Scherzhaften Liedern", des Rokoko-Modeautors Christian
Felix W e i ß e (1726 - 1804), der mit vielen Prominenten seiner Zeit, Lessing
allen voran, gut befreundet war, wie überhaupt der Zeitstil des Rokoko nicht
zuletzt durch die Bindekraft persönlicher Freundschafts- und Respektsbeziehungen
unter den aktiven Poeten zusammengehalten wurde. Da lernte man viel voneinander,
orientierte sich, was die poetischen Spielregeln betraf, verfehlte nie den angesagten
guten Ton. Da ist es denn nicht verwunderlich, dass bestimmte Motive, die sich
in der Ausrichtung ihrer Pointen und im weitesten Sinn ihrer Philosophie als
zustimmungsfähig erwiesen hatten, einige Verbreitung fanden und sicher von ihren
Schöpfern und Nachschöpfern nicht allzu eifersüchtig gehütet wurden.
"Der Kuß" des Poeten Weiße hielt motivisch einen gewissen Abstand zu Hagedorns
Vorbild (da zog er, zumal ihm zeitlich und örtlich näher, das 1752 anonym in
Leipzig erschienene "Mordgeschrei" vor), im kühl distanzierten Stil einer vornehm
jede Privatheit vermeidenden Poesie sowie in der handwerklichen Schlichtheit
und Strenge stand es ihm allerdings in nichts nach:
DER KUSS
Ich war bei Chloen
ganz allein
Und küssen wollt ich sie:
Jedoch sie sprach: sie würde schrein,
Es sei vergebne Müh'!
Doch wagt ich es und
küsste sie
Trotz ihrer Gegenwehr.
Und schrie sie nicht? Jawohl, sie schrie, --
Doch lange hinterher.
Ein geschlossener Handlungsvorgang
liegt vor, zwei Phasen, zwei Strophen. Klar und nüchtern ohne jede Redundanz.
Im Grunde wird mit dem festen Blick auf die Schlusspointe nur -- mit einer gewissen
Poetenanmut -- berichtet. Da fordert ein - man hat schon den Eindruck: routinierter
- Liebhaber offensichtlich ein ihm zustehendes Recht ein. Er ist mit dem Mädchen
allein, das hat sie offenbar zugelassen, also kann er wohl ("trotz ihrer Gegenwehr")
die fällige Umarmung und den Kuß von ihr erwarten. "Jedoch"(eine kräftige Opposition)
die Schöne hat ihren eigenen Kopf, sie will nicht - und droht um Hilfe zu schreien.
Der erfahrene Liebhaber kümmert sich nicht darum, und - tatsächlich, natürlich
- denkt sie gar nicht daran, die so hübsche galante Situation zu zerstören.
Sie schreit -- schließlich muß das Gesicht gewahrt werden --, "doch lange hinterher".
Falls das als eine realistische Beschreibung einer solchen Situation verstanden
werden soll, ist sie kaum nachvollziehbar. Es sei denn, es handelte sich um
eine stillschweigende Verabredung im erotischen Spiel. Du sollst haben , was
du willst (ich will's ja auch), aber lass mir die Freiheit zur Koketterie. Wie
bei Hagedorn wird die sich zierende Schöne überführt, die Szenerie bleibt jedoch
so sehr nur abstraktes Gedankenspiel, als sei's ein Epigramm.
Die Ehre der Frau - nimmt sie Schaden? Das sollte dem galanten Kavalier dieser
Spaß- und Spielgesellschaft als Absicht nicht ernsthaft zugemutet werden. Die
Spuren einer erlebten Gefühls aber, und sei's nur das einer oberflächlichen
Verliebtheit, sind hier noch viel weniger herauszuhören als beim - auch zur
Entstehungszeit seines Gedichts - sehr viel älteren Hagedorn.
Einige Jahrzehnte später, die Epochenepisode des Rokoko war schon sehr in die Jahre gekommen, Ende der 60er Jahre, kam dem gerade 18/19jährigen Leipziger Jurastudenten J.W.Goethe das schon erwähnte Scherzgedicht aus der Feder eines unbekannt bleibenden Poeten vor Augen, das ihm immerhin so gut gefiel, dass er es (wie wir gleich sehen werden) in eigene Worte fasste:
DAS MORDGESCHREI
Phloen sah ich heut
In der Einsamkeit
Grüner Büsche stehn
"Mädchen", sagt' ich ihr,
"Nunmehr sollst du mir
Nicht so leicht entgehn."
Ich erhaschte sie
Und mit sanfter Müh
Raubt ich manchen Kuß.
Phloe rief mir zu:
"Lasse mich in Ruh,
Eh ich schreien muß.".
"Ei, wer ist der Mann,"
Fing ich lärmend an,
"Der mir dies verwehrt?"
"Rede nicht so laut,"
Sprach sie ganz vertraut,
"Daß es niemand hört!"
Mädchen, wenn euch
oft,
Wie ihr täglich hofft,
Kühne Knaben dräun -
Folget meinem Rat:
Lernt, wie Phloe tat,
Auch - um Hilfe schrein.
Ein Gedicht, in dem
sich Aufklärungsdidaktik - am Ende steht, als wär's eine Fabel, die Karikatur
einer moralischen Belehrung - seltsam mit dem amüsant-witzigen Eros-Spiel des
Rokoko verbindet. Folgen wir dem Erzählduktus und was er uns veranschaulicht,
so dürfen wir uns vielleicht eine Gartenparty - rokokogemäß anmutig arrangiert
- vorstellen und einen in der Liebhaberrolle posierenden jungen Mann dortselbst,
der den gewagt dekolletierten jungen Frauen, die sich um ihn scharen, eine Lehre
- das Kichern nimmt kein Ende - im Liebesspiel erteilt. Wenn wir uns auf dieses
Szenario einlassen, würde die Moral lauten: Tut, wonach es euch gelüstet, folgt
dem Drängen eurer Natur, aber denkt immer daran: bewahret die Form! Anders gesagt:
Seid ehrlich mit euch selbst, indem ihr heuchelt. Ist das die Rokoko-Devise?
Oder gewährt und verheißt es etwa solche Freiheit nur im Gesellschafts-Spiel,
eines, das nur im abgesteckten Rahmen seiner Verskunst, seiner amourösen Skulpturen
und Gemälde gültig ist? Die Ironie funkelt und blitzt in alle Richtungen, lässt,
wenn's denn gefällt, allerhand Deutungen zu, legt sich nicht fest. Freiheit
und Natürlichkeit winken und blinzeln schon, sind aber noch nicht auf dem Plan.
Was dieses Gedicht auszeichnet, was an ihm auffällt, ist die Lebhaftigkeit und
szenisch-anschauliche Genauigkeit des Erzählens. Das führt allerdings dazu,
dass die Erzählpointe, die widersprüchliche, entlarvende Ermahnung, doch bitte
nicht den Ernstfall herbeizuführen, mit dem doch gerade gedroht wurde, im plaudernden
Parlando des Gedichts ein wenig untergeht. Die Ironie zündet sanft, kommt aber
erst am Ende der letzten Strophe, nach vielsagendem Gedankenstrich, wirklich
ans Ziel. Eben der Ratschlag: Schreit um Hilfe "wie Phloe", die aller Tugend
uneingedenk dieses eben nicht tut, stattdessen sich als Komplizin im Liebesspiel
erniedrigt und erhöht.
Interessant sind natürlich auch die ambivalenten Konnotationen zum gesellschaftlichen
Rollenspiel von Mann und Frau. Soll die sich tugendhaft gebende Frau, dazu erzogen,
sich zu zieren, bloßgestellt, entlarvt, blamiert werden? Mokiert sich hier ein
Frauenkenner, der sich nichts vormachen lässt? Oder, ganz anders, ermutigt da
ein emanzipatorisch aufgeschlossener Poet, wie zu dieser Zeit Lessing in seiner
"Minna von Barnhelm", die Frau, sich zu ihrem natürlichen Gefühl zu bekennen,
zu ihrem Verstand auch, der ihr alle möglichen und notwendigen Listen eingibt,
im Zweifelsfall den ihr auferlegten Ritus zu durchbrechen? Der die überwiegend
bürgerliche Rokoko-Gesellschaft unterhaltende Künstler bekennt da noch nicht
so recht Farbe.
In Leipzig ereignet sich der folgenreiche Generationenzufall,
dass ein blutjunges Genie, dortselbst zum ungeliebten Jurastudium gezwungen,
mit seinen noch verpuppten reichen Gaben sich von einer gealterten Kultur umstellt
sieht, einer Stickluft ausgesetzt, die ihm Atembeschwerden bereitet, so dass
er unter diesem Überdruck den Schub erhält, über den Graben zu springen, in
die Erfahrung und Wahrnehmung einer neuen Welt hinein - wodurch er einen tiefgreifenden
geistesgeschichtlichen Paradigmenwechsel auslöst, ja den entscheidenden für
die beginnende Moderne. Der junge, noch nicht zwanzigjährige G o e t h e, von
dem die Rede ist, nimmt voller Lernbegier und Begehrlichkeit auf, was ihm vor
Ort die gealterten poetischen Zeitgenossen als Errungenschaften ihrer literarischen
Kultur anbieten. Er bewundert zunächst den Rokokopoeten Weiße, mehr noch die
anmutig ironische Grazie Wielands, ist fasziniert von Witz und Geist der epigrammatischen
Dichtung Lessings, von vielem, was da das Mittelmaß überragt, aber
es hebt nicht seine Laune, es trübt sie ihm eher. Er weiß noch nicht so recht,
was, aber er will etwas anderes. Im 7. Buch von "Dichtung und Wahrheit" erinnert
sich Goethe und räsoniert:
Man wird zwar nicht leugnen, dass das Genie, das ausgebildete Kunsttalent,
durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigen Stoff bezwingen
könne.. Genau besehen entsteht dabei alsdann immer mehr ein Kunststück als ein
Kunstwerk....
Es drängt ihn zum dichterischen Wort. Aber wo soll er anknüpfen?
Verlangte ich nun zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfindung oder
Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen... Und so begann diejenige Richtung,
von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige,
was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht
zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen... Alles was daher von
mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession.
Was dem Rückblickenden da so erkenntnisreif aus der Feder fließt, dem Jungen,
der sich noch nicht auf die ihm mögliche, ihm zugedachte Bahn gebracht hatte,
war's nur ein Ahnen und Drängen und erste Versuche in die unbestimmt erfasste
Richtung waren noch sehr unsicher. Mit der einen Hand hielt er das Gesicherte
und Bewährte fest, mit der anderen tastete er sich aber doch schon zu neuen
Dimensionen vor, hinein in eine neue Qualität.
Ganz frühe Proben, die wohl einem auftrumpfenden Das-kann-ich-auch entsprangen,
geben auf Künftiges zunächst nur spärliche Hinweise.
1768 entsteht in zwei Stufen, wir verwiesen schon darauf , - in seinem Titel
etwas weniger drastisch - das sich an der Vorlage des "Mordgeschreis" orientierende
Gedicht
DAS SCHREIEN I
Jüngst schlich ich
meinem Mädchen nach,
Und ohne Hindernis
Umfasst ich sie im Hain; sie sprach:
"Laß mich, ich schrei' gewiß!"
Da droht' ich trotzig: "Ha,
ich will
Den töten, der uns stört!
"Still", winkt sie lispelnd, "Liebster, still,
Damit dich niemand hört!"
DAS SCHREIEN II
"Einst ging ich meinem
Mädchen nach
Tief in den Wald hinein.
Und fiel ihr um den Hals, und Ach!
Droht sie, ich werde schrein.
Da rief ich trotzig:
Ha! Ich will
Den töten, der uns stört!
Still, lispelt sie, Geliebter, still!
Daß ja dich niemand hört.
Zur ersten Fassung:
Die wortreiche Vorlage erscheint hier gestrafft, behält deren szenischen Charakter
jedoch bei. Im Rollenspiel werden hier wie dort die Bälle vom verliebten Paare
hin und her geworfen, die humoristische Dramatik erscheint ein wenig gesteigert
("Ha, ich will/ den töten, der uns stört"), aber die Pointe am Ende ist
nahezu wörtlich die gleiche. Eine Talentprobe des poetischen Anfängers, nicht
mehr, nahezu eine verkürzte Abschrift eines nicht einmal sehr gelungenen Vorbilds.
Auf mangelnden Ehrgeiz oder unbedarfte Harmlosigkeit beim jungen Poeten an der
Schwelle seiner Berufung ist deshalb aber kaum zu schließen. Es läuft da wohl
einfach ein künstlerischer Tätigkeitsdrang vorläufig ins Leere. (Die meisten
Gedichte aus dieser Phase hat Goethe wenig später verbrannt). Dennoch gibt es
einen Wink, dass hier schon eine neue Gesinnung waltet: Während im "Mordgeschrei"
eine arkadische "Phloe", sozusagen der anakreontischen Grotte entsprungen, die
Mädchenrolle übernimmt, klingt bei Goethe schon persönliche Wärme durch, wenn
der bekennende Liebhaber ‚seinem Mädchen' nachschleicht. Der Anonymus, als sei's
eine Statuette, sieht sie dagegen in der Einsamkeit/ Grüner Büsche stehn.
Und mit der scheinmoralischen Belehrung der Schlußstrophe, und sei sie noch
so pikant ironisch, weiß der nicht nach Witz, sondern nach dem Ausdruck wahrer
Gefühle dürstende Dichterjüngling gar nichts anzufangen. Dennoch: er ortet seine
verspielte Liebesszene noch immer im Hain, dem vom Rokoko arrangierten
locus amoenus.
Nun war Goethe ganz offensichtlich unzufrieden mit dieser locker-artistischen
Fingerübung, mit der er sich die Zeit vertrieben hatte. Er nahm sich Text und
Thema noch einmal vor und was da jetzt entstand, durch den Einsatz minimaler
Veränderungen neu ans Licht trat, war ein originales Zwittergebilde, auf der
Nadelspitze tanzend zwischen der aufgezogenen Spieluhr des Rokoko und einer
Sturm und Drang-Poesie der reinen Empfindung.
Es bleibt bei den acht Versen, die in der Neufassung aber in zwei Strophen auseinander
treten, so dass die ineinanderfließende kompakte Genreszene, durch eine Zäsur
getrennt, differenzierende Bedeutungsakzente erfährt, die - wohl bewusst ein
wenig auf Kosten der Unmittelbarkeit - sich feiner abgestimmt an das Gefühl
wenden. Beibehalten wird auch der alternierend erzählende Kreuzreim und der
belebende Wechsel von vier- und dreihebigem Metrum, der das Gedicht in leiser
Erregung atmen lässt. Schon die erste Fassung unterscheidet sich also von den
vorangegangenen Rokoko-Gedichten durch ihre Individualität als lebender Organismus.
Die Qualitätsverschiebung in der zweiten Fassung beginnt mit der ein wenig zurückgenommenen
wörtlichen Rede, die nicht mehr durch Anführungszeichen hervorgehoben wird und
sich in Zeile I,4 in indirekte Rede verwandelt. Der Effekt ist vielleicht von
homöopathischer Unauffälligkeit, führt jedenfalls aber, zusammen mit der Strophentrennung,
zu einer leichten Distanzierung der den Leser allzu sehr beteiligenden sketchartigen
Szene. Leicht zurückgenommen wird, kurz gesagt, die Bühnenwirkung. Gravierender
und für die Richtungsänderung der Gedichtaussage ausschlaggebend erscheinen
die inhaltlichen Verschiebungen, die in der ersten Strophe stattfinden und auf
die zweite Strophe ausstrahlen. Das beginnt mit dem Einst ging ich ...nach
der zweiten Fassung, das das Jüngst schlich ich ...nach ersetzt. Die
sinnlich nahe Veranschaulichung, die einerseits den Leser quasi als voyeuristischen
Beobachter einlädt, ihm andererseits das ganz selbstbezogene Abenteuer des begehrenden
Liebhabers signalisiert, wird zuerst einmal mit dem Einst in eine unbestimmte
zeitliche und damit auch räumliche Entfernung gerückt. Darüber hinaus spricht
das nicht genauer charakterisierte ‚Nachgehen' für ein Sehnsuchtsgefühl, das
das geliebte Wesen miteinbezieht. Damit aber wird die in der ersten Fassung
sinnlich absorbierte Aufmerksamkeit konzentriert und frei gesetzt für die bedeutsame
Aussage: tief in den Wald hinein. Die Tiefe des Waldes, der das geliebte
Mädchen, der die Gemütstiefe der Liebe birgt, setzt in diesem Gedicht das alles
entscheidende Zeichen. Der Wald symbolisiert die autonome Natur, viel mehr zwar
als ‚die Wildnis' auf den kultivierenden Menschen bezogen, aber nicht von ihm
derart domestiziert und idealisierend ästhetisiert wie der "Hain", in dem die
frisierte Natur der Rokokopoesie zu einem gezierten Ausdruck kommt, in dem auch
die Erstfassung unseres Gedichtes noch verbleibt.
Tief bedeutsam ist der Wald, weil seine symbolische Mächtigkeit eben auch in
Herztiefe hineinführt, in tiefenbewußte Regionen des Gefühls. Dieses aufgerührte
Gefühl findet sofort auch Ausdruck in der nächsten Zeile: Und fiel ihr um
den Hals und Ach!.. , ein Ach, das das schmerzliche Pathos des Gretchen-Ausrufs
fast schon vorausahnen läßt.
Die ersten drei Verse der ersten Strophe kündigen ein leidenschaftliches Liebesbekenntnis
an, verhalten noch, aber unverkennbar stürmt es und drängt es in ihm. Dann aber
scheint sich der Ungestüme zu besinnen und fügt sich, der Rokokoreglementierung
angepasst, dem vorgegebenen Muster der Koketterie. Die Innigkeit der Umarmung,
wie sie der auf sie zulaufende Text konnotierte, ist sofort dahin, als die Liebste
- etwas stillos - verkündet, sie werde ‚schreien'. Der trotzig Reagierende
mit seinem Ha! , das seiner Liebsten Ach! So gar nicht entspricht,
gebärdet sich knabenhaft verspielt. Die Schlusszeilen - vom gezierten ‚Lispeln',
wie es dem Rokokoweibchen zusteht, abgesehen - finden dann doch zum Ton der
echten Empfindung noch einmal zurück (wobei etwa die winzige Verschiebung vom
damit dich niemand hört der ersten Fassung zum dass ja dich niemand
hört keine geringe Rolle spielt: hie logisches Argument, hie sprachpantomimische
Gebärde der Innigkeit. Es sind eben die kleinen Veränderungen in der Tonlage,
die den Ausweis von Intimität und authentischem Gefühl bestimmen).
Das Gedicht in dieser zweiten Fassung muß sicherlich nicht, könnte aber - nur
durch die lächelnde Ironie ein wenig relativiert - Wiedergabe und Ausdruck einer
Episode sein, der eine wirkliche, erlebte, ernsthafte Liebesbeziehung zugrunde
liegt. Die Ironie ist unversehens vorstellbar als eine des Herzens und nicht
die eines Verstandes, der sich auf Pointenjagd begibt.
Der zweifelnden Frage
wird sich der Verfasser wohl nur mit Mühe erwehren können, was er in dieser
Untersuchung denn ans Licht gebracht habe, welchen Triumph eines ‚Quod erat
demonstrandum' denn da ausgespielt werden sollte?
Ich würde als ein sehr allgemeines Resümee festhalten, dass der Anschein, die
verschiedenen Epochen der Literatur- und Geistesgeschichte seien, oft zeitlich
unmittelbar aufeinander folgend, wie Tag und Nacht, wie Holz und Bein voneinander
geschieden, wohl doch ein trügerischer ist. Die Fassaden der Kultur, die deren
unverfälschter historischer Ausdruck zu sein scheinen, gestalten sich oft ferngelenkt
von seltsam zweitrangigen Konditionen. Die Künstlichkeit und so offen zutage
liegende Lebensferne des Rokoko war nicht weniger, eher stärker an das gelebte
Leben angebunden als der Herz-Kult der Stürmer und Dränger-Vollblutgenies. Man
vergleiche da nur die Biographien der jeweiligen Epochenvertreter. Das Rokoko
war vermutlich (insgeheim) kaum weniger eine Gefühlskultur wie vor ihm das so
unübersehbar gespaltene Barock und nach ihm der Sturm und Drang oder die Romantik.
Sie hatte, das prägte ihren Stil, vorerst von der Aufklärung ebenso wie von
der Kirchenmacht in Schach gehalten, auf die Stunde der Offenheit zu warten.
Goethe in Leipzig, er vor allem, übernahm den Staffelstab und bewies, das man
von der lächerlich realitätsabgewandten Schäferstunde im arkadischen Phantasieland
des Rokoko nur wenige Schritte abseits vom vorgeschriebenen Weg in die Tiefen
und ekstatischen Höhen des leidenschaftlichen, leidenschaftlich in sich selbst
verliebten Gefühls gelangen konnte. Das gezierte ‚Schreien' des Liebchens, das
so sehr um den eingehaltenen Anstand der ihre Gefühle zivilisierenden Rokokogesellschaft
besorgt schien, ließ sich mit einer kleinen Wendung in das selig seufzende ‚Ach!'
des Herzens verwandeln (auch wenn es droht). Hagedorn, der Leipziger
Anonymus, Ch.F.Weiße, der junge Goethe - alle gleichermaßen entzückt von dem
Motiv der spröden, zugleich die süßesten Sinnenfreuden verheißenden Schönen
- , waren sich über alle Stilunterschiede, alle differierenden Kunst- und Konventionsgebärden
hinweg wohl sehr einig in ihren Jungmännerwünschen.
Geschichte ist ja vielleicht, wenn's nicht ganz schlimm kommt, zuallererst eine
Zeitenfolge der Verkleidungen.
(Peter Gronau)