Kein "Kanon", ein "Koffer" soll es sein!
Nicht alles, was herumkoffert, ist Literatur; ein beinahe täglich bedeutungsgeschrumpftes Prestigeprojekt im Zwielicht
Kannten Sie noch die alte Netzseite des
für den Hauch eines Aufruhrs sorgenden Projekts "austrokoffer"? Dort
marschierte ein Männchen mit bemaltem Koffer (Stein des Anstoßes!) und Sonnenhut
auf einem Eiland vom rechten Bildschirmrand auf einen Liegestuhl zu, wo es sich
niederließ, nachdem dem mitgebrachten seltsamen Gepäckstück die Worte
"Österreichs Literatur nach 1945" entfahren waren. Dann zwinkerte das Männchen
schelmisch.
Und Humor werden die Initiatoren des Projekts, allen voran
Günther Nenning, wohl auch nötig haben, denn etliche der "einzukoffernden"
Literaten sind im Vorfeld bereits entwischt. Es soll an dieser Stelle nicht über
tatsächliche oder mögliche Gründe der Verweigerungen spekuliert werden, werfen
wir stattdessen einen Blick auf Herausgeber Günther Nennings Text im
Begleitband, der auszugsweise auf der Netzseite des Projekts zu finden ist bzw.
war:
"Die Geburt des Austrokoffers aus dem Gefühl: Literatur ist, was mein
Herz erfreut.
Ja, die beste Definition ist gar keine. Gehaut werden überstehe
ich sehr gut. Sehr gehört zu versehren. Liebe und Hiebe.
Es gibt gescheitere
Definitionen. Mir reicht diese. Li-te-ra-tur ist mir eh zu sperrig. Dichtung.
Aber aus lauter Bosheit streite ich mit niemandem.
Germanisten sattelt um.
Werdet Austrizisten. Vielleicht wird's dann besser.
Für mich ist's egal. Ich
bin auch so genug einseitig. Ich lasse die Fachleute sitzen in ihrem Fach. Wer
sich ärgert, dem geschieht recht.
Ich bin ein Ösi. Ich entschlüpfe in die
Literatur. Sprung aus dem Reich der EU ins Reich der Freiheit.
Zur bequemen
Reise aus dem Reich, wo uns jeder kann, ins Reich, wo uns keiner kann, dient der
Austrokoffer."
Die daraus abzuleitenden spärlichen Fakten hübsch der
Reihe nach: Gefühl gebiert Koffer, was Literatur ist, bestimmt jemand, der sich
mit Hieben und Liebe auskennt und sich übrigens jeder Bosheit enthält.
Germanisten werden vertröstet; dass ein Ösi einseitig ist, ist ihm egal, er
sitzt nämlich in keinem Fach, sondern verflüchtigt sich ins Freie.
Also wie
ist das jetzt? Wer kann wen wo? Wer kann mit wem? Einerlei, Hauptsache,
bequem!
Offenkundig ist's jedoch vorbei mit der Gemütlichkeit, denn namhafte
Schriftsteller haben sich dem Projekt verweigert. Ob oder inwieweit dies etwa
auch auf die Bemalung des "austrokoffers" zurückzuführen ist, über die man auf
der erwähnten Netzseite liest: "Was stellen die Bilder dar? Die Autoren und
Autorinnen als 'Kopffüßler': geistige Wesen, die hauptsächlich aus Kopf und Fuß
bestehen. In den Zwischenräumen die Namen der AutorInnen."
"Kopffüßler" also
- wirklich reizend, in zweierlei Hinsicht.
Übrigens stammt die Kofferbemalung
von Peter Pongratz, dem "Meister der Seelenmalerei", wie verkündet
wird.
Die IG Autorinnen Autoren verlautbart auf ihren Netzseiten:
"Die
IG Autorinnen Autoren hat nachweislich nie zu einem 'Boykott' aufgerufen, sie
hat in einem neutral gehaltenen Schreiben bei Kolleginnen und Kollegen
angefragt, ob ihnen ihre Mitwirkung an diesem Projekt bekannt sei. Zur
vollkommenen Überraschung der IG Autorinnen Autoren war den meisten ihre
Teilnahme am 'Austrokoffer' unbekannt. Es wäre aber doch das mindeste bei einem
Projekt, das nicht scheitern will, zuvor mit denjenigen in Kontakt zu treten,
die bei diesem Projekt mitmachen sollen.
Die meisten Autor/inn/en haben in
diesen Tagen zum ersten Mal durch eine Zuschrift des erst durch die Aktivitäten
der IG Autorinnen Autoren motivierten Herausgebers des 'austrokoffers' von ihrer
Mitwirkung erfahren. Auch aus dieser Zuschrift geht nicht hervor, was dieses
Projekt eigentlich ausmachen soll. Die Frage, die sich daher weiterhin stellt,
ist: Warum war und ist es bei einem offiziellen Projekt des Jubiläumsjahres 2005
nicht möglich mitzuteilen, welche Vorstellungen sich damit
verbinden?"
Elfriede Jelinek hat sich
dem Kofferprojekt entzogen, ebenso Ilse Aichinger und Marlene
Streeruwitz. Friedrich Achleitner schrieb an Günther Nenning: "(...) Jedenfalls
möchte ich Dir jetzt schon erklären, dass ich bei diesem Projekt nicht mitmachen
werde. Und wenn jemand zu mir 'du Austrokoffer' sagt, klage ich ihn."
"Vor Schreck erstarren lassen" habe ihn Nennings
Ankündigung, so der Autor Michael Scharang, ihn (Scharang) in den "austrokoffer"
zu packen.
Dies alles nimmt Nenning anscheinend recht gelassen; man kann
schließlich auf nachrückende Schriftsteller zurückgreifen, oder in
alleräußerster Not sogar mit einem leeren Koffer verreisen ...
Schade um
die an sich nicht unfeine Idee, schade, dass die Vorbereitungsphase von
derartigen Missklängen begleitet wird! Bleibt zu hoffen, dass rechtzeitig eine
für alle (noch) Beteiligten akzeptable Lösung zustande kommt.
Nachtrag am 29.09.2004:
"Der Name des Projektes soll lauten: 'Landvermessung. Eine Auslese österreichischer
Literatur nach 1945. Vergessene, Bleibende, Künftige. der austrokoffer.' "
Inzwischen (Status per 29.09.2004) wurden Projekt und Netzseite überarbeitet;
nunmehr heißt das Ganze also "Landvermessung". Das ehemals zwinkernde
Männchen erhielt Gesellschaft: Etliche seiner Art sowie zwei
"Kopffüßler" rotten sich gruppenweise zusammen, und alle tragen sie
den Koffer. Herausgeber Nenning verlautbart:
"Wir danken sehr für die Reklam,
wir sind sehr froh, daß wir sie ham,
weil nämlich so im ganzen Land
der Austrokoffer wird bekannt."
Vielversprechend. Als Mitherausgeber werden Milo
Dor, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Anna
Mitgutsch, Robert Schindel und Julian Schutting angeführt.
Eine andere Idee: Wie wäre es, kurzerhand leere Koffer zu verkaufen (in Zeiten
wie diesen haben Leerhüllen aller Art ohnedies Hochkonjunktur), und jeder
Käufer befüllt sein Exemplar mit jenen Büchern, die er für repräsentativ
hält!
Oder sollte gar der Begriff "Vakuumverpackung" eine zusätzliche
Einsatzmöglichkeit erhalten? Wir werden sehen!
(Felix Grabuschnig; 07.09.2004/29.09.2004)