Marlene Streeruwitz: "Norma Desmond. A Gothic SF-Novel"
"Sie
schaltete die Vögel ein. Drückte auf Abendstimmung. Die Nachtigall
begann zu singen. Donald hatte immer von den Vögeln geredet. Sie stellte es sich
ekelhaft vor, solche Dinger herumfliegen zu haben."
Zurück in die Zukunft: Gut gemischt ist halb gewonnen?
Versuchen wir zuerst eine Annäherung über den Titel
jener Erzählung, die der Verlag als "schrille Parodie eines Science-Fiction-Schundromans" bezeichnet, weil kein Grund
zur Annahme besteht, der Text könne nicht (ent)halten, was der Umschlag verspricht:
"Norma Desmond. A Gothic SF-Novel".
Gut, da hätten wir also zuerst den Namen
"Norma Desmond": Wie Filmfeinspitzen sicherlich geläufig, trägt eine von Gloria
Swanson dargestellte Figur in dem Billy Wilder-Film "Sunset Boulevard" (dt. "Boulevard
der Dämmerung) aus dem Jahr 1950, der auch als Vorlage für das gleichnamige Musical
von Andrew Lloyd Webber diente, diesen Namen. (Gloria Swanson spielt eine Ex-Stummfilmdiva
fortgeschrittenen Alters, die verzweifelt an einer Auffrischung der Karriere bastelt.)
Unter "Gothic Novel" rangiert eine Gattung des Unterhaltungsromans, zu Deutsch der sogenannte
"Schauerroman", dessen charakteristische Zutaten u. a. geheimnisvoll-düstere architektonische
Kulissen nebst einem Hauch "schwarzer Romantik" darstellen.
(Science-Fiction)-Literatur ist erzählende Literatur, die sich sowohl mit Dingen
befasst, die außerhalb der empirisch erfassbaren menschlichen Realität angesiedelt
sind, als auch mit den Auswirkungen von weitreichenden, unumkehrbaren Veränderungen
auf einzelne Menschenschicksale, oft ebenso mit den Folgen für die gesamte Menschheit.
Diese fantastischen und/oder utopischen Veränderungen der Realität werden vorzugsweise
technisch-naturwissenschaftlich begründet. Genrespezifische Motive sind beispielsweise
Zeitreisen oder globale Krisen, außerirdische Lebewesen, die Erschaffung neuer,
auch künstlicher Lebensformen durch Menschenhand (Roboter, Androiden, Klone, ...),
andere Gesellschaftsformen oder Paralleluniversen. Science Fiction ist somit eine
Form der Unterhaltungsliteratur, die klassische Abenteuermuster in verfremdete
Umgebungen verlagert.
Zum Begriff "SF"
an sich ist festzuhalten, dass dieser im Jahr 1851 vom britischen Essayisten William
Wilson, in dessen Kapitel 10 von "A Little Earnest Book upon a Great Old Subject"
zum ersten Mal (soweit bekannt) gebraucht wurde: "Science-Fiction, in which the
revealed truths of Science may be given interwoven with a pleasing story which
may itself be poetical and true." (Das bedeutet in etwa: "Science-Fiction, in welcher
die enthüllten Wahrheiten der Wissenschaft, verwoben mit einer gefälligen Geschichte,
die selbst poetisch und wahr sein mag, dargestellt werden.")
Größere Verbreitung
fand diese Bezeichnung aber erst ab dem Jahr 1929, als Hugo Gernsback (1884-1967)
sie in seinem Magazin "Science Wonder Stories" neuerlich verwendete und damit
der Gattung ihren Namen gab. 1925 erschien sein Fortsetzungsroman mit dem Titel
"Ralf 124 C 41 +".
Es ist wohl davon auszugehen,
dass sich die sprachsensible Marlene Streeruwitz mehr oder weniger eingehend bewusst
mit derlei einschlägiger Literatur auseinander gesetzt hat; zumindest deutet einiges
darauf hin, z. B. die von ihr gewählten Namen ihrer Figuren wie "P 3/27/16" und
"U 1/63/36".
Stilistisch verlangt
die Erzählung dem unvoreingenommenen Leser einiges an Durchhaltevermögen ab, denn
mitunter ist es gelinde gesagt anstrengend, den Figuren durch die Anhäufung an
Hauptsätzen, Satzfragmenten und Wortschöpfungen zu folgen, wie auch die strikte
Unterlassung anderer Satzzeichen als Punkt und Beistrich Gleichmut erfordert.
Zur Veranschaulichung möge eine Textpassage dienen:
"Sollte sie überhaupt noch
einmal in den Dauerkleingartenverein 'Frohsinn' zurück. Sollte sie nicht besser
Donald hierlassen und mit seinen Karten und den Golddukaten weggehen. Das war
wohl das beste. Sie konnte sich allein viel besser durchschlagen. Mit David. Da
war alles viel zu gefährlich. Obwohl. Mit den Golddukaten. Sie war nicht für Auseinandersetzungen
gemacht. Sie war als richtige Frau konzipiert worden. Die Kraft in den Händen
war nur noch das Fünftel der Kraft einer Männerhand. Zart waren die Frauen gedacht
gewesen. Für die
Schönheit geschaffen. Luxus."
Das ist Normas eine Seite. Doch halt, es heißt doch "A Gothic SF-Novel", also muss
Norma auch ein anderes Gesicht haben, und richtig: "Sie faßte den rechten Arm.
Drehte ihn nach hinten. Nach oben. Riß den anderen Arm hoch. Schlang die Krawatte
um die Handgelenke. Zog die Krawatte fest. Der Mann lachte. Kicherte plötzlich
sie solle das nicht machen. Sie solle diese Fesseln aufmachen. Sofort. Seine Stimme
wurde scharf und schneidend. Sie zog die Krawatte durch den Metallring an der
Wand. Der Mann begann zu treten. Seine schweren schwarzen Lederschuhe traten sie
in den Bauch. Es gelang ihr, die Krawattenenden nicht loszulassen. Die Enden noch
einmal zu verknoten. Sie sprang zurück. Der Mann tobte. Schrie. Schrie nach seiner
Frau. Und daß sie damit nicht durchkommen werde. Er werde sie fertig machen."
Der solcherart Überwältigte ist übrigens Dr. Packer, ein Psychoanalytiker, der sich
mit der Angstproblematik der alles kontrollierenden Programmföderation beschäftigt.
Bevor die achtzigjährige Norma (ihr Altruismusgen unterscheidet sie von anderen menschlichen
Wesen, überdies liegt ihre Lebenserwartung bei 400 Jahren!) auf diesen Dr. Packer
stößt, dem als Gegenleistung für seine hilfreichen Dienste an der übermächtigen
Bewusstseinsmaschinerie freie Hand für blutrünstige Experimente an lebenden Menschen
gewährt wird, flieht sie mit David/Duda, seinem Klonmündel - (das ist die Bezeichnung
für eine Art menschliches Ersatzteillager) - aus dem Schrebergartenhaus, wo sie
Donald, ihren allem Anschein nach an schleichender Neuronenverdünnung verstorbenen
Lebensgefährten in der Tiefkühltruhe verstaut hat, nachdem sie und ihr Liebhaber
David/Duda infolge der Einnahme von Combisomaferein überraschend erheblich verjüngt
erwacht waren ...
Auf der Flucht treffen Norma und Duda, von ihrem Gartenroboter
Hugo begleitet, natürlich allerlei obskure Gestalten und finden sich in bizarren
Situationen wieder.
Man merkt schon, dass auf den dichten 96 Seiten
zahlreiche Klischees bedient werden, und es wird sich weisen, wie Freunde des
Gothic- bzw. SF-Genres diese untypische Art der sprachlichen Aufbereitung, und
wie Freunde der kreativen Sprache diesen Handlungsverlauf einschätzen. Zumal
feministisch geprägte Kritik am geschlechterspezifischen
Rollenverhalten, an der Gesellschaftsstruktur, am Wiener Befindlichkeits-Biotop
in fremden Revieren wildert! (z. B. "Die Volksabstimmung von 2134 hätte nur
früher sein müssen. Donald hatte behauptet, es hätten sich die Männer anstrengen
müssen. Aber seit der Volksabstimmung hatten alle Frauen eine zweite Klitoris
in der Scheide. Und alles war einfach seither. [...] Donald hatte ja auch immer
gemeint, daß diese Entwicklung daher käme, daß um diese Zeit schon nur noch
Männer existiert hatten. Das war schon nach den fundamentalistischen Interregnien.")
Differenziert
ist auch der massive Fremdwortgebrauch zu beurteilen. US-Amerikanismen und Anglizismen
inflationär wuchern zu lassen, ist eine bedauerliche Tendenz der Gegenwartssprache.
Und so schuf Marlene Streeruwitz Bezeichnungen, die vertraut klingen mögen: "bodyfax",
"travel station" (das sind Teile eines Transportsystems) und "beauty pad" (für
eine geheimnisvolle tragbare technische Vorrichtung, die offenbar mit einem allwissenden
kollektiven Bewusstsein verbunden ist und Norma Ratschläge erteilt).
Inwieweit solcherart der Bock zum Gärtner gemacht wurde, sei dahingestellt ...
(Anja; 08/2002)
Marlene Streeruwitz: "Norma Desmond. A Gothic
SF-Novel"
Fischer Taschenbuch Verlag, 2002. 96 Seiten.
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Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Nachkommen."
"Nachkommen." ist ein Roman über die Ordnung der
Generationen und wie sie durch Gier und Vernachlässigung außer Kraft gesetzt
wird.
Am Morgen verabschiedet sich die zwanzigjährige Nelia Fehn von ihrem toten
Großvater, am Abend sitzt sie als jüngste Autorin bei der Verleihung des
"Deutschen Buchpreises". In Frankfurt trifft sie ihren leiblichen Vater das
erste Mal. Auf der Buchmesse wird sie gefragt, warum sie denn nun einen Roman
geschrieben habe.
"Sie hatte nur nicht sagen können, was sie da gemacht hatte. Oder warum. Sie
hatte nur einfach geschrieben und jetzt war das ein Roman, und das Leben ging
weiter. Sie wußte nicht einmal, ob sie wieder schreiben wollte. Weiter
schreiben."
Marlene Streeruwitz gewährt uns einen kenntnisreichen Einblick in das
Literaturgetriebe, und es gelingt ihr, aus dem Ende der Literatur Literatur zu
machen. (S. Fischer)
zur Rezension ...
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Marlene
Streeruwitz als Nelia Fehn: "Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland"
Marlene Streeruwitz übernimmt die Rolle ihrer
Heldin Nelia Fehn aus "Nachkommen." und schreibt deren erfrischendes
Erstlingswerk.
Eigentlich wollte Cornelia nur eine Ferienarbeit im Ökoresort ihrer Schwester
auf
Kreta, doch dann wurde sie mit den Auswirkungen der Eurokrise konfrontiert.
Von ihrem geliebten Marios, der sich in Athen einer Demonstration gegen die
Maßnahmen der Troika anschloss, hat Cornelia seit Tagen keine Nachricht. Sie
muss ihn finden! Auf ihrer Irrfahrt nach Athen erlebt sie eine Welt, in der die
Krise regiert und Zwangsverhältnisse herstellt. Als sie Marios verletzt und ohne
Hoffnung endlich findet, bricht sich ihre Wut Bahn, und sie entschließt sich zum
Kampf.
Nelia Fehns autobiografischer Roman ist ein wütendes Plädoyer gegen die Diktatur
des Geldes und das Bekenntnis einer mutigen Gerechtigkeitsfanatikerin. (S.
Fischer)
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