Der Misanthrop No. 7: "Der Sozialstaat und
seine Feinde"
Als
gegen Ende des abgelaufenen Jahrtausends der kalte Krieg zwischen den großen globalen
Gesellschaftsentwürfen westlich-liberaler und östlich-autoritärsozialistischer
Prägung mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Experimente im "Osten"
endete, nahm auch der Kapitalismus der sogenannten westlichen Hemisphäre wieder
seine freundliche Maske ab und offenbart seitdem seine hässlich grinsende Fratze.
Hatten sich die Völker unter der Knute der konkurrierenden Ideenlehren zuvor noch
auf die versprochene Friedensdividende freuen dürfen, so wurden sie real schon
bald mit Sparpaketen ihrer Finanzminister konfrontiert. Statt mehr war plötzlich
weniger Geld im Staatssäckel und ein neoliberaler Wind wehte frostig durch die
so heimelige Wohlfahrtswelt des siegreichen Staatenverbands und lies jene sozialdemokratische
Weltformung wanken, welche während des kalten Kriegs die Chimäre vom gerechten
und humanen Kapitalismus vermitteln half. Wurde im Westen das gesellschaftliche
Klima nur kälter, so fiel der sogenannte "Osten" (insbesondere Russland) überhaupt
einem ungezügelten Raubtierkapitalismus anheim und dient heute einem globalisierten
Sozialdumping als Operationsbasis gegen die - nach Meinung neoliberaler Adepten
- antiquierten Sozialstaaten des sozialdemokratischen Westens. Kapitalismus bedeutet
die ökonomisch vermittelte Herrschaft des Geldes bzw. von Kapitalquanten über
alle Welt und stellt eine Art Rückfall in die Gesellschaftsform des Feudalismus
dar, zumal Kapitalismus im Ungleichheitsprinzip verhaftet ist und Ungleichheit
sich rasch ständisch verfestigt. Karl Marx hätte es in seiner Geschichtsphilosophie
des "Historischen Materialismus" zwar anders erwartet - er meinte, der Kapitalismus
gehe mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in den Sozialismus über - doch findet
sich der Geldadel heutiger Tage wohl keinesfalls mit den Geschichtsbefehlen eines
Karl Marx ab, noch sind ihm historische Entwicklungsgesetze heilig, die auf Überwindung
ökonomisch vermittelter Klassenherrschaft abzielen. Nein, keineswegs, denn die
Sozialstaaten bedeuten der ökonomischen Elite nicht nur ein ständiges fiskalbudgetäres
Ärgernis sondern darüber hinaus eine Bestätigung für Marx´ ungeliebte Theorie,
dass sich kapitalistische Systeme beinahe selbsttätig, weil mit zwingender Entwicklungslogik,
zu sozialistischen Systemen weiterentwickeln könnten (was je nach Auslegung des
Begriffs vom Sozialismus mit Existenz des Sozialstaats bereits im Realisierungsstadium
steht). Der staatlich eingerichtete Feind der Profitmaximierung ist dieserart
gleichzeitig der ideologische Feind, den die Geschichte widerlegen und tilgen
möge, lautet die Maxime neoliberaler Staatskritik. Neoliberale Polemik fordert
folglich den Rückbau des Sozialstaates (als Faulbett der Arbeitsscheuen), was
- ungesagt aber doch - in einem Zug den Rückbau von demokratisch betriebener Politik
bedeutet, da der weichende Regierungspolitiker unter rechtsstaatlicher und oppositioneller
Kontrolle steht, der an dessen Stelle tretende Kapitaleigner hingegen von niemandem
kontrolliert wird. Der Staat möge aufhören Instrument politischer Intervention
zu sein und sich auf seine "Nachtwächterfunktionen" - der Wahrung von innerer
und äußerer Sicherheit - zurücknehmen; wo heute noch Politik ist, möge morgen
schon Ökonomie sein und wo heute noch demokratiepolitische Kontrolle vorgesehen
ist, möge morgen schon die Freiheit des Geldsubjektes herrschen, eine Welt deren
Moral sich von Marktgesetzen ableitet und deren Gesetze nicht in Moral begründet
sind, sondern im quasi religiösen Glauben an den Wachstumsfetisch als höchsten
und einzigen Selbstwert (denn der blinde Wille des Kapitals will nichts anderes
als sein Wachstum; ein Wuchern um des Wucherns Willen). Der kapitalistisch bestellte
Markt kennt als praktizierender Nihilismus keine andere Moral als die Moral
des sich selbst vermehrenden Geldes; wenn Friedrich Nietzsche einst den Tod Gottes
(Gott als Inbegriff aller metaphysischen Wertigkeit) diagnostizierte, so übersah
er zugleich, mangels Sinn für Soziologie, dass an Stelle des moralischen Fetisch
vom Guten der kinetische Fetisch Wachstum getreten war. Ökonomie statt Politik,
Ökonomie statt Rechtsstaatlichkeit, Quantität statt Qualität, Mammon statt Glaubensgut,
kinetischer Wachstumsrausch statt statischer Beharrlichkeit, die Merkmale der
neuen Zeit lassen sich benennen und gewinnen im gesellschaftlichen Leben zunehmend
an Prägnanz. Der Sozialstaat ist in Gefahr. Nicht dass man ihn in offener
Aktion abschaffen würde; nein, diesen Mut bringt keine auch noch so ambitionierte
Regierung auf, doch werden ihm sukzessive die Mittel gekappt, wird er ausgehungert.
Einen Räuber, der des Bürgers Schatzkammer plündert, nennen die Prediger des Neoliberalismus
den Staat und zielen mit ihrem Angriff auf den Sozialstaat ab, der immer noch
zwischen Arm und Reich vermittelt und dessen sittliche Leistung es ist, allzu
großes Elend hintan zu halten. Nicht, dass er den Menschen seines Lebensrisikos
entheben würde, doch verhindert er, dass Menschen in den Gossen unserer Städte
verrecken und Armutskriminalität um sich greift, weil in Gefolgschaft amerikanischer
Ideologie auch amerikanische Zustände in unsere Städte Eingang finden. Wien darf
nicht Chicago werden, forderte vor einigen Jahren eine genauso neoliberale wie
rechtspopulistische Partei auf ihren Plakaten und wusste offenbar nicht, was sie
meinte, denn Neoliberalismus bedeutet immer noch Amerikanisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Eine Initiative zur Bewahrung und Stärkung
des Sozialstaats bewirbt sich diese Tage um Bekenntnisse der Bürger zu ihrem gewohnten
Lebenssystem der sozialen Absicherung. Die führenden Propenenten und Initiatoren
des Volksbegehrens sind integere Personen des öffentlichen Lebens, welche während
der letzten Jahrzehnte immer schon das soziale Gewissen der österreichischen Nation
verkörperten und gegen jede Regierung, gleich welcher Couleur, mit Verve verfochten.
Ihr Hauptanliegen ist die Übernahme des Sozialstaatprinzips in den Verfassungsrang
("Österreich ist ein Sozialstaat"), was den Vorteil hätte, dass sozial unverträgliche
Gesetze vor dem Verfassungsgerichtshof anfechtbar wären. Somit wäre jede sozialdarwinistisch
orientierte Regierung gehindert den Sozialstaat mit der Gesetzeskeule zu zertrümmern.
Die Rechtsbarriere müsste erst einmal überwunden werden, was gar nicht so einfach
wäre, denn Österreich wäre laut ausdrücklicher Verfassungsbestimmung ein Sozialstaat
und jede gegen diesen Grundsatz wirkende Maßnahme müßte als verfassungswidrig
behoben werden. Ich bin kein Mensch, den materielle Not plagt, doch meine
ich kraft meinem Vorstellungsvermögen zu wissen was soziale Not für Betroffene
bedeutet. Die Vorstellung, dass Notleidenden einmal nicht mehr von Staats wegen
geholfen würde, dass es kein gesellschaftliches Anliegen mehr wäre, dem Elend
per sozialstaatlicher Anordnung entgegenzuwirken, ist mir unerträglich. Wer jung
und gesund ist, kann sich vielleicht nicht vorstellen, was es heißt in soziale
Not zu geraten und das Dasein eines Bittstellers führen zu müssen. Doch bedarf
es dafür nicht viel um in den Erfahrungsbereich des Almosensammlers verworfen
zu werden. Ein kleiner Schicksalsschlag und man ist froh und dankbar anspruchsberechtigter
Bürger eines Sozialstaats zu sein. Anderswo darf der Gefallene im Rinnsal der
Gosse verrecken (dafür Reiche ein Luxusauto mehr ihr Eigen nennen können). Die
Erfahrung sozialer Kälte mag den Österreichern erspart bleiben, ist mein Wunsch.
Und so unterstütze ich dieses Sozialstaatsvolksbegehren, weil es Ausdruck ernsthafter sozialer Gewissenhaftigkeit
ist, weil es eine noble Haltung mitfühlender Humanität manifestiert. Nebst dieser
abstrakten Forderung nach grundrechtlicher Festschreibung des Sozialstaatprinzips,
gegen die auch manche wohlmeinende Kritiker einwenden, sie bringe möglicherweise
nicht viel, weil sie sei höchst interpretationsbedürftig, lasse sich auch zynisch
auslegen, begrifflich aushöhlen und ersetze zudem den Primat der Politik durch
den Primat des Richters, finden sich in der Initiative auch einige sehr konkrete
sozialpolitische Vorstellungen, wie der gegenwärtige Sozialstaat im Hinblick auf
mehr Treffsicherheit und soziale Gerechtigkeit weiterentwickelt werden könnte:
Beispielsgebend sei in diesem Zusammenhang die vor allem von christlichen Gruppierungen
eingebrachte Forderung nach Einführung einer Grundsicherung
für alle, auch bekannt als erwerbsloses Grundeinkommen, zu nennen (diese Forderung
wird auf parteipolitischer Ebene von den Grünen und dem Liberalen Forum unterstützt).
Ziel dieser wohlfahrtsstaatlichen Maßnahme wäre es sicherzustellen, dass ganz
einfach niemand in absolutes Elend abstürzen müsse und jeder, gleich welchen Lebensentwurf
er jeweils verfolge, ein menschenwürdiges Leben führen könne (was heute noch nicht
der Fall ist); weil, relatives Elend ist schon schlimm genug, für den, der kein
Asket ist. Im Übrigen ist die Forderung nach einem Grundeinkommen keine weltanschaulich
genuin linke Forderung, wie oft in Missachtung der weltanschaulichen Ausrichtung
diesbezüglicher Fachexperten gemutmaßt wird, sondern wurde ebenso auch schon von
namhaften bürgerlichen und politisch rechts stehenden Ökonomen betrieben. Prominenteste
Beispiele dafür sind die beiden Wirtschafts-Nobelpreisträger Milton Friedman und
James Tobin. Milton Friedman ist als Papst des Neoliberalismus wie auch entsprechend seiner Selbsteinschätzung entschieden
der politischen Rechten zuzuordnen. Und selbst noch der kürzlich verstorbene James
Tobin avancierte wegen seiner fiskalpolitischen Ideen zwar zur Kultfigur der politischen
Linken, bekannte sich jedoch selbst immer zum freien Welthandel und ärgerte sich
zuletzt über die Vereinnahmung seiner Person durch linke Globalisierungsgegner, welche die von Professor Tobin entworfene Tobin-Tax
(eine Art Umsatzsteuer auf spekulative Finanztransaktionen) als Steuerungsinstrument
für zur Zeit noch unreglementierte Finanzmärkte propagieren. Oft vernehme
ich den Einwand, die Grundsicherungsdebatte höhle den bewährten Arbeitsbegriff
europäischer Provenienz aus, dem die westlichen Kulturen doch immerhin ihren zivilisatorischen
Erfolg verdankten. Dass Wohlleben der europäischen Nationen sei wohlverdientes
Produkt ihrer Arbeitsdisziplin und wer dies anzweifele, gefährde den abendländischen
Zivilisationsprozess, welcher modellhaft für alle Völker dieser Erde sei. Mit
Verlaub, diese selbstverliebte Haltung tabuisiert den eigenen Lebensstil und dekretiert
Sprachlosigkeit im Hinblick auf all die Verfallserscheinungen einer vorgeblich
gelungenen Lebenspraxis. Ein unglückliches Bewusstsein verweigert jede Selbstreflexion
und hält fest an einer neurotischen Praxis, die im Rahmen einer neurotischen Gesellschaft
Erfolg verspricht und als systemkonformes Verhalten auch tatsächlich erfolgreich
ist. Die Pointe liegt dabei in der Gesundsprechung des Krankhaften, welches den
Sinnvermittlungsrahmen für neurotische Verfahrensweisen setzt, die so hin als
zweckdienlich und sinnvoll erlebt werden. Der Begriff von der Arbeit, wie auch
ihre Vergegenständlichung, bleiben unhinterfragt, weil gut sein muss, was sich
ständig bewährt - freilich unter Ausblendung allen Verzehrs an lebendiger Menschlichkeit.
Ja, was hat der Mensch doch aus der Arbeit eine schweißtreibende Pein gemacht.
Es beschreibt das totale Scheitern aller Humanität, wenn man gemeinhin von Arbeitsleid,
doch fast nie von Arbeitsfreude spricht. Dabei ist Arbeit jene Tätigkeit, mit
der sich der Mensch vergegenständlicht und Menschheit schafft. Wäre dem Menschen
seine Arbeit eine Freude, weil sie sinnvoll und persönlichkeitsentfaltend ist,
so bräuchte man auch nicht mehr das Gebot des sklaventreiberischen Leistungsprinzips
als nobelsten Ausdruck bürgerlicher Tugendhaftigkeit pflegen. In unserer gegenwärtigen
Gesellschaftsform sind wir alle Lohnsklaven bzw. der Unternehmer ist Knecht seines
Kapitals. Wir arbeiten um zu leben und leben nicht um zu arbeiten. Marx hat richtig
erkannt, dass von der Umsetzung des Arbeitsbegriffs alles abhängt, der Erfolg
der sozialistischen Idee ebenso, wie das Wohl und Gedeihen der Gattung Mensch.
Und er hatte die Vision einer Gesellschaft, die dem Menschen ein Reich der Freiheit
ist, wo der Frondienst auf den Äckern des Kapitals ihn nicht mehr seiner selbst
entfremdet und das Leben im Hier und Jetzt Selbstentfaltung von schöpferischem
Vermögen bedeutet. Im Kriegskommunismus missachtete man die Marxsche Erkenntnis
vom Wesen der Arbeit und verwandelte die realsozialistischen Staaten in riesige
Gefangenenlager mit Kasernenhofdesign. Ich höre schon jetzt die Vorhaltung
in der Stille dröhnen, was denn ausgerechnet den Misanthropen das Heil der Menschheit
angehe? Er möge sich doch sputen und kuschen! Jawohl, gar Recht, es stimmt, die
Menschheit ist mir zuwider, doch der Einzelne, wenn er leidet, eben nicht. Denn
leidet er so leidet der Misanthrop mit ihm und erbarmt sich seiner so wie er sich
eines jeden Hundes erbarmt. Deswegen - um zum Thema zurückzukehren - sollte
Politik insgesamt um Vermeidung und Minimierung von unnötigem Leid besorgt sein
und Freude am Leben für Tier und Mensch maximieren. Dem wird offenbar durch das
allein an der Profitrate orientierten kapitalistische Wünschen und Wollen nicht
entsprochen. Profitmaximierung wird über Leidminimierung und Freudmaximierung
gestellt, was
verwerflich ist, weil nicht am empfindenden Lebewesen orientiert. Sobald es um
leidensfähiges Leben geht, sollte dem Aspekt der Leidensfähigkeit jede politische
Aufmerksamkeit gelten, gleich ob es sich um Menschen oder Tiere handelt, denn
die Verantwortung gegenüber Tieren und gegenüber Menschen ist ungeteilt wahrzunehmen.
Wir sind doch mitleidige Wesen, oder nicht? Die Fähigkeit zum Mitleid ist meines
Erachtens das natürliche Fundament menschlichen Moralempfindens. Mitleid ist ergo
die natürliche Gesinnung aller guten Moral und - für wahr - der wirkliche Misanthrop
ist ein verzweifelter Moralist, weil er mit der geschundenen Kreatur mitfühlt,
nicht anders kann. Niemand sollte darben müssen, wenn es sich vermeiden lässt.
Der Sozialstaat kostet mir als Steuerzahler ein paar hundert oder vielleicht gar
ein paar tausend Euro; doch zahle ich gerne meinen Beitrag, wenn ich weiß, dass
dann niemand in diesem Land qualvoll verrecken muss, einfach nur weil er arm ist.
Wäre der vermögende Teil der Österreicher eines Tages nicht mehr zur Finanzierung
des Sozialstaats bereit, so wäre dieses Volk moralisch verwahrlost und wirklich
hassenswert. Und wo Hass ist, ist mehr als nur dieser. Eine entsolidarisierte
Gesellschaft gebärt Hass und mit ihm eine Subkultur der Kriminalität und des Terrors.
Wer die Kosten des Sozialstaates zu meiden trachtet, wird soziale Rebellion ernten;
in Gestalt des Terrors und in Gestalt einer Alltagskriminalität, die sich aus
einer Haltung resignierender Verzweiflung der Elenden speist. Besser jetzt für
eine noble Idee Geld geben, als dann in einer verrohten Welt ein herzloses Regime
gegen Gefallene zu führen, die kein soziales Netz mehr aufgefangen hat. Aus Solidarität
mit den Eigenwilligen (den Lebensästheten) und Nonkonformen, aus Mitleid mit den
Gestürzten und letztlich aus Einsicht in die Notwendigkeit sozialer Hygiene, aus
all diesen Gründen stehe ich für einen starken Sozialstaat ein und wehre seinen
Feinden mit der Waffe des Wortes.