Erik Zimen: "Der Hund"

Abstammung - Verhalten - Mensch und Hund


Kein Tier ist eine engere Bindung zum Menschen eingegangen als der Wolf, wobei er im Laufe eines langwierigen Domestikationsprozesses vom Hauswolf zum Hund wurde, und sich sodann, unter Einwirken des Menschen, eine Vielzahl von Rassen herausbildeten. Der Hundeforscher Erik Zimen, bekannt geworden durch sein Wolfsgehege im Nationalpark Bayerischer Wald, beschreibt in seinem Buch die Abstammung, Domestikation, das Verhalten und die Kulturgeschichte des Hundes.

Zu Beginn jeder Kulturgeschichte des Hundes steht die Frage nach dem Stammvater, wobei es hierfür ursprünglich drei Anwärter gab: Wolf, Kojote, Schakal. Mittlerweile wissen wir, dass allein der Wolf Stammvater aller Hunderassen ist, doch war diese Hypothese nicht immer schon als unumstößliche Wahrheit sichergestellt. Die Suche nach dem Urhund war ein spannendes Unternehmen an dem sich die großen Köpfe der Evolutionstheorie - insbesondere Konrad Lorenz - mit Eifer beteiligt haben, und noch heute - wo wir alles zu wissen meinen - liest sich die Erkenntnisgeschichte der Abstammung wie ein packender Wissenschaftsroman. So war der große Biologe und Nobelpreisträger Konrad Lorenz hinsichtlich der Abstammungsfrage noch der Vorstellung angehangen, der Schakal wäre Ahnherr der weniger an einen einzelnen Menschen gebundenen Hunde, der Wolf aber Stammvater der "One man dogs". Auch über den möglichen Anfang der Domestikation gibt es eine Mehrzahl von Vorstellungen, die von Erik Zimen zur Diskussion gestellt werden, doch dürfte die wahrscheinlichste Initiative zur Domestikation des Wolfes nicht, wie ursprünglich angenommen, von männlichen Jägern ausgegangen sein, sondern von Mädchen und Frauen, welche verwaiste Wolfswelpen an ihre Brust nahmen und denen die heranwachsenden Tiere als Spielgefährten ihrer Kinder und selbst noch als "Windelersatz" - Hunde lieben den Stuhl von Säuglingen - auch später noch willkommen waren. Nur von Frauen gesäugte Wölfe entwickelten eine dauerhafte soziale Bindung zu ihren artfremden Müttern, und als Spielkameraden deren leiblicher Kinder wurden die im menschlichen Verband sozialisierten Jungwölfe zu einem fortdauernden Bestandteil menschlicher Kultur.

Wurde der Hauswolf zwar zuerst auch nur als eher nichtsnutziger Gefährte der Frauen und ihrer Kinder im Lager geduldet, so erwies er sich bereits in der Nacheiszeit als unentbehrlicher Gehilfe des Jägers, der an Stelle des schweren Speeres mit Pfeil und Bogen als bevorzugte Waffe auf die Jagd ging. Zwar verursachte der leichte, vom Bogen abgeschossene Pfeil viel geringere Verletzungen als der aus nächster Nähe geworfene oder geschleuderte Speer, konnte dafür aber aus viel größerer Distanz abgeschossen werden. Wichtig war nur die blutende Wunde. Denn dem flüchtenden Wild wurden jetzt die Hunde nachgehetzt, die dieses müde jagten und schließlich stellten, bis es der Jäger, vom Bellen der Hunde geleitet, aus nächster Nähe töten konnte. Merke: Der Menschen Jagdtaktik war wölfisch geworden. Wegen der seit Ende der letzten Eiszeit stark ausgedünnten Beutedichte hätte der Mensch ohne diese neue Jagdtaktik vermutlich nicht überleben können. Der Hund war somit zur unabdingbaren Hilfe bei der wichtigsten aller Aufgaben geworden: der Ernährung. Die vielen in dieser Zeit entstandenen Abbildungen von Jagden mit Hunden bezeugen den beträchtlichen Zuwachs an Ansehen.

Gezielte menschliche Zuchtauswahl auf bestimmte Erscheinungsbilder und Verhaltensweisen in genetisch isolierten Teilpopulationen führte schließlich in den ersten Hochkulturen zur Herausbildung von Rassentypen. Bildliche Darstellungen aus der prädynastischen Zeit Ägyptens aus dem späten 4. Jahrtausend v. Chr. lassen entsprechende Rückschlüsse auf eventuelle Rassenbildung zu. Babylonier und Assyrer züchteten eigene Kampfhunde für den Kriegseinsatz. Von dem jungen Pharao Tut-ench-Amun (um 1357 - 1337 v. Chr.) gibt es eine Abbildung, die zeigt, wie er von großen, kräftigen Hunden begleitet in den Krieg zieht. Herodot berichtet aus den Perserkriegen (490-449 v. Chr.), wie "Mann gegen Mann, Pferd gegen Pferd und Hund gegen Hund kämpfte". Allein für die Hunde des persischen Königs wurden damals die Steuern von vier Städten verwendet. Eine weitere Hochblüte erreichte die Hundezucht sodann im römischen Reich, wo sich auch erstmals Reiche und Wohlgeborene mit verschiedenen Formen kleinwüchsiger Schoßhündchen umgaben. Eine kulturelle Sonderstellung erreichte der Hund vor allem in China, als Tempelhund oder gar als kaiserlicher Palasthund. Die moderne Hundezucht unserer Tage nahm ihren Ursprung auf den Britischen Inseln, wo der Hundewettkampf und vor allem der grausame Hundekampf seit langem sehr beliebt war. Man ließ Hund gegen Hund in Arenen ähnlich dem heutigen Boxring gegeneinander in verschiedenen Gewichtsklassen antreten. Die Brutalität aller Beteiligten, insbesondere des "laut vor Entzücken kreischenden" Publikums war grenzenlos, wenn ein Hund fürchterlich zugerichtet oder tot umfiel. Deshalb wurde der Hundekampf in Großbritannien im Jahr 1835 vom Parlament verboten. Doch illegal gingen Kämpfe und aberwitzige Wetten weiter. Heute noch werden in den USA und in Japan regelmäßig, in Deutschland gelegentlich, solche Hundekämpfe veranstaltet, über die sich der zivilisierte Teil der Bevölkerung empört. Doch der Wettkampf ging und geht weiter. Seit über hundert Jahren ist allerdings nicht mehr die Kampfkraft des Hundes, sondern die überlegene Schönheit nach einem vorgegebenen Ideal, dem Rassenstandard, der Maßstab des Kampfes.

Einen besonders prägnanten Ausdruck von Hundezucht in Verbindung mit Zeitgeist stellt der Deutsche Schäferhund dar. Aus der These Darwins vom "Überleben der am besten Geeigneten" (survival of the fittest) wurde das Recht des Stärkeren auf seine freie Entfaltung abgeleitet - im Zweifelsfalle auf Kosten des Schwächeren. Zum derartig überlegenen Menschen, der bald zum Herrenmenschen werden wird, der über Untermenschen gebietet, gehört der große, wilde, ebenso aggressive wie "treue" Hund. Größe war jetzt beim Hund gefragt und Schärfe, Aggressivität, Mut und Kampfeslust ebenso wie Treue, Unterordnung und Gelehrigkeit. Und vor allem deutsch sollte er sein. Verschiedene Hunderassen wurden nach diesen Wesensmerkmalen entworfen. Auch für den nach seinem Mentor Karl Dobermann aus Deutschen Doggen, Pinschern und Rottweilern neu gezüchteten Dobermann galt extreme Schärfe als wichtigste Eigenschaft. Karl Dobermann war Steuereintreiber in Thüringen, und man kann erahnen, wie es "seinen" Schuldnern ergangen ist.
Zum populären Inbegriff des deutschen Hundes wurde jedoch der Deutsche Schäferhund des Rittmeisters H. von Stephanitz. Ziel war ein Hundedesign, das wölfisch der Statur nach ist, nicht jedoch im "Wesen". Von Stephanitz bekämpfte mit Vehemenz alle Bestrebungen, die neue Rasse nur auf Schönheit zu züchten, gar Wölfe einzukreuzen, damit die Schäferhunde ihrem Ahnherrn noch ähnlicher würden. Er erkannte nämlich, dass solche "Blendlinge" zwar eine "rassische Form", aber nicht auch die erhoffte Härte, Ausdauer und Schärfe mit in die Zucht einbrachten, sondern neben der Schönheit auch die Selbstständigkeit des Wildtieres. Dem Rittmeister aber ging es in erster Linie um Gelehrigkeit, Tapferkeit und Treue seiner Hunde, denn "Schäferhundzucht ist Gebrauchshundezucht, sonst ist es keine Schäferhundzucht". In der Gestalt des Rittmeisters von Stephanitz gingen Deutschtümelei und Hundezucht eine enge Bindung ein, und von Stephanitz war ein ideologischer Vorkämpfer der nationalsozialistischen Bewegung. Seinen ersten Schäferhund und Stammvater aller heutigen Deutschen Schäferhunde nannte er zuerst Hector Linksrhein, später Horand Grafrath.

Nach Evolution und Domestikation musste es schließlich in Folge genetischer Isolation auch zu Degenerationserscheinungen kommen. So leidet vor allem der hochgezüchtete Deutsche Schäferhund heute oftmals unter einer krankhaften und schmerzhaften Deformierung des Oberschenkelkopfes und der Hüftgelenkspfanne, die sogenannte Hüftgelenksdysplasie (HD). Insofern sollten nur noch hinreichend HD-freie Tiere zur Zucht zugelassen werden, woran sich jedoch viele nur am raschen Profit interessierte Tierproduzenten fatalerweise nicht halten wollen. Und dann gibt es des weiteren zum Beispiel Rassen, deren Standard - wegen des "traurigen Blicks" - eine dunkelrote Bindehaut vorschreibt, nur erreichbar durch ständige Entzündungen infolge allzu schlaff nach unten hängender Augenlider wie bei Basset oder Bluthund. Von Qualzuchten darf mit Fug und Recht gesprochen werden. Der Pittbull-Terrier ist extrem aggressiv und kennt umgekehrt keine Angst; obgleich doch vor allem das Gleichgewicht von Aggressivität und Ängstlichkeit etwa beim Wolf jene natürliche Intelligenz ergibt, die ihm sein Überleben in freier Wildbahn gewährleistet. Auf extreme Aggressivität gezüchtete wie auch unerzogene und scharf gemachte Hunde bringen jedoch das Image des Hundes an sich in Verruf, zumal allzu rasch vergessen wird, an welchem Ende der Leine das eigentliche Problem zu suchen ist. Ob es eine Rechtfertigung dafür gibt, dass sich Menschen Hunde mit besonderem Kampfpotenzial halten, bleibt jedoch allemal noch fraglich und sollte einer verantwortlichen Politik jedenfalls ein ernsthaftes Thema sein.

Besonders attraktive Aspekte sind nach meinem Dafürhalten noch der Hinweis auf das Phänomen der doppelten Identität des Hundes, womit Zimen die Verhaltenstendenz des Hundes meint, sich nicht nur an Artgenossen, sondern auch, ja in erster Linie sogar, an eine fremde Art, den Menschen, sozial zu binden. Eine Folge dieser Bindungsbereitschaft ist auch die Übernahme einer menschlichen Verhaltensweise durch den Hund, die man bei Wölfen nicht beobachten kann: "Das Lachen". Die oberen Vorderzähne werden wie beim Menschen bei sonst freundlicher Gesichtsmimik kurz gebleckt. Der Hund lacht. - eine ergreifende Anpassungsleistung.

Ein weiterer interessanter und erwähnenswerter Aspekt ist die sozial bedingte Kindlichkeit des familiär gebundenen Hundes, was darauf zurückzuführen ist, dass der Hund in seiner heutigen subdominanten Funktion innerhalb menschlicher Familienverbände oft als kindliches Wesen erachtet wird. Diese sogenannte Verjugendlichung hat eben etwas mit Abhängigkeit innerhalb sozial regulierter Lebensmilieus zu tun und mit dem Rollenverhalten, das sich daraus ergibt. Nach einem Wechsel auf eine ranghöhere Position wird auch der verjugendlichte Hund im Regelfall rasch sozial "erwachsen".

Als weitere vom Autor abgehandelte Themenbereiche wären sodann anzuführen: Rangordnung und Aggressivität, Beißhemmung, Kampf und Unterwerfung, das Verhältnis von Mensch und Hund, die Sprache des Hundes, Formbarkeit und Identität, die sieben Sünden der Hundehaltung, der Hund als Ware, die Motivation des Menschen eine Beziehung zum Hund einzugehen, und vieles Andere mehr.

Das Standardwerk "Der Hund" von Erik Zimen darf heute bereits als absoluter Klassiker der Hundeliteratur angesehen werden. Dieses wahrlich faszinierende Buch, welches in Anschluss an "Der Wolf" (1978) im Jahre 1992 als Taschenbuchausgabe im Goldmann Verlag erschienen ist, sollte für jeden Hundehalter eine Art Pflichtlektüre darstellen und ist wegen der Überfülle interessanter Informationen zu vergleichenden Studien zwischen Wolf und Hund wie auch zur Kulturgeschichte der Beziehung Mensch - Hund überhaupt einem jedem kultur- und naturgeschichtlich geneigten Leser unbedingt zu empfehlen.

(Harald; 02/2002)


Erik Zimen: "Der Hund. Abstammung - Verhalten - Mensch und Hund"
Goldmann, 1992. 470 Seiten.
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