Jonathan Stroud: "Bartimäus - Das Amulett von Samarkand"
Episode eins über den amüsantesten Quälgeist seit Äonen
Von einem Buch zu sagen, die Fußnoten
wären die Spitze des Lesegenusses, gleicht in der Regel einem vernichtenden
Urteil über die literarische Qualität des Abgedruckten. Nicht so bei Jonathan
Strouds Romandebüt aus der als Trilogie konzipierten Bartimäus-Reihe. Immer
dann, wenn der Titel(anti)held, ein mehr als 5.010 Jahre alter Dschinn aus dem
sumerischen Uruk, direkt das Wort ergreift, was er mit Vorliebe in erwähnter
Fußnotenform tut, ist es vorbei mit der Ernsthaftigkeit. Unwillkürlich muss der
Leser - von Bartimäus ab Buchmitte (da kennt man sich schließlich schon) keck in
Du-Form angesprochen - dem selbstverliebten Quälgeist ein Lachen
schenken.
Bartimäus' Verwandtschaft mag vielleicht aus dem Fernsehen bekannt sein. Barbara
Eden verkörperte in einer 1960er-Jahre-Vorabendserie als "Bezaubernde Jeannie"
die weibliche Erscheinungsform dieser Feuer- und Luftelementare. Dem guten Aladin
soll auch einer zu Diensten gewesen sein (Bartimäus: "Ich kannte sogar mal einen
Dschinn, der in einer dreckigen Lampe festsaß."). Der Bewahrer von Uruk steht
über all diesen Kinkerlitzchen, na ja, fast: Vor ihm rangieren in der Dämonenhierarchie
nur mehr Mariden und Afriten - "in ihrer Macht und Schrecklichkeit furchtbare
Wesenwesenheiten". Hmm, aber was ist denn nun ein Dschinn genau? - Gute Frage.
Es handelt sich bei dieser feinstofflichen Gattung um das dritthöchste Niveau
der Existenzen vom Anderen Ort. Alles klar? Dritthöchste Stufe hin oder her,
nach Eigenbeschreibung ist unser Antiheld ohnehin "perfekt", seine "Bescheidenheit"
gebietet ihm allerdings "darüber zu schweigen". Immerhin hat es Bartimäus im
Laufe seiner irdischen Abstecher zu Respektablem gebracht: Er diente zahlreichen
Pharaonen in Schlachten wie im Tempelbau (was den wenigsten Karnak-Touristen
heutzutage bewusst wird), zog maßgeblich hinter König Salomons sprichwörtlicher
Weisheit die Fäden und zeichnete für den Aufstieg Prags zur magischen Weltstadt
verantwortlich. In die Seiten dieses rezensierten Buches wurde er von
Nathanael beschworen, einem zwölfjährigen Jungen aus London.
Dabei
darf man sich London nicht exakt als die Stadt vorstellen, die uns hinlänglich
bekannt ist. Bei Jonathan Stroud wird eine Parallelwirklichkeit geschildert.
Großbritannien ist darin eine Weltmacht, die von einer Hundertschaft von
Ministern regiert wird - allesamt Zauberer. An ihrer Spitze steht der Premier,
ein gewisser Rupert Devereux. Das magische Imperium liegt im Dauerkrieg gegen
Prag, die alte Konkurrentin, welche durch Degeneration im Niedergang begriffen
ist. Irgendwo in Italien verläuft die Frontlinie der verfeindeten Kräfte.
Innerhalb Großbritanniens trennt ein streng hierarchisches System die
Bevölkerung. Die Zaubererelite hält alle Macht in Händen, das Gros der
"Gemeinen" ist zum Dienen geboren. Allerdings bleibt es Zauberern verboten,
selbst Kinder zu zeugen, weshalb sie zur Aufrechterhaltung ihres Standes
genötigt sind, Nachwuchs aus den Reihen der magisch Unbefähigten unter ihre
Fittiche zu nehmen. Nathanael ist ein solcher Fall. Arthur Underwood, ein ebenso
mäßig begabter Politiker wie Zauberer, hat ihn als Lehrling
angestellt.
Bei einem Empfang im Haus seines Meisters wird Nathanael
coram publico gedemütigt - von Simon Lovelace, der grauen Eminenz hinter den
undurchsichtigen Machenschaften im Lande. Als willensstarker, ehrgeiziger Junge
sinnt Nathanael nach Rache und beschwört - allen Regeln der dunklen Künste
entsprechend - einen mächtigen Geist. Dieser soll Lovelaces wertvollsten Besitz,
das Amulett von Samarkand, stehlen. Der Beschworene, eben Bartimäus, ist davon
überhaupt nicht begeistert. In den Diensten eines Halbwüchsigen zu stehen,
widerspricht seinem Selbstverständnis: "Irgendwie demütigend, diese alte Leier
aus dem Mund eines so schmächtigen Knirpses zu hören, noch dazu mit dieser
nervigen Piepsstimme", hadert er mit dem Schicksal. Auch im Allgemeinen hält der
amüsante Dschinn wenig bis sehr wenig von Zauberern und ihrer Eitelkeit: "Einmal
verlangte ein Zauberer von mir, ihm seine große Liebe zu zeigen. Ich hielt ihm
einen Spiegel vor". Da es aber den unumstößlichen Gesetzen der Beschwörung
zufolge in Nathanaels Macht stünde, Bartimäus in eine Schminkdose zu bannen und
am Grund der Themse zu versenken - eine trübe bis schlierige Aussicht - folgt
der Dschinn; hoffend, dass der Kleine einen anrufungstechnischen Formfehler
begeht und verschlungen werden kann. Doch Nathanael ist nicht dumm, er hat
vorgesorgt. Mittels Adelbrands Pentagramms, eines besonders starken
Beschwörungskreises, muss Bartimäus nicht nur einen Auftrag ausführen, sondern
gleich mehrere. Dschinns, zumindest die intelligenten unter ihnen, sind
begnadete Formwandler. So gelingt es Bartimäus, in verschiedenen
Erscheinungsformen, von der Amsel bis zur Spinne, in Lovelaces magisch
gesichertes Anwesen einzudringen und das Amulett von Samarkand tatsächlich zu
entwenden. Mit diesem Diebstahl bricht das Tohuwabohu richtig los.
Ganze
Flotten verzauberter Suchkugeln sind hinter Bartimäus her, dazu auch noch seine
Jahrtausende alten Feinde Faquarl und Jabor, zwei üble Dschinns, die Lovelaces
Kommando gehorchen. Getarnt als Wasserspeier am Dach von Westminster Abbey,
trickst er die Verfolger vorerst aus. Doch dann überwältigt ihn ein mächtiger
Afrit und Bartimäus landet im Tower von London. Man beschuldigt ihn, an einem
Elementarbombenanschlag gegen die Regierung beteiligt gewesen zu sein und bannt
den Dieb und vermeintlichen Aufwiegler in die so genannte Büßerglocke; eine
magische Barriere, die sich immer enger um den Gefangenen zieht, ehe sie seine
Substanz auflöst. Als Bartimäus - auf Flohgröße geschrumpft - schon mit seiner
Äonen alten Existenz abzuschließen beginnt, gelingt ihm überraschend die
Flucht.
Bartimäus behält in allen Materialisationen kühlen Kopf. Jenen
seines Beschwörers will er aber mehr als einmal verdrehen (in doppelter Weise),
so z.B. als er Amanda, Lovelaces Geliebte, zu Gesicht bekommt: "Sie war relativ
jung (...), und falls man auf üppige Erscheinungsformen steht, recht hübsch
(...). Ich prägte sie mir sogleich ein. Wenn ich den Jungen am folgenden Tag
wieder aufsuchte, würde ich ihm in ihrer Gestalt erscheinen - und zwar
splitterfasernackt. Mal sehen, wie sein scharfer, aber trotz allem jugendlicher
Verstand damit klarkommt."
Dazu soll es (leider) nicht kommen. Bald nach
Bartimäus' Flucht aus dem Tower überschlagen sich die Ereignisse. Underwood wird
ermordet. Nathanael muss fliehen, und Lovelace plant mithilfe des Amuletts von
Samarkand, die politische Elite auszulöschen. Nicht genug der Geschehnisse,
tritt auch noch eine magierfeindliche Widerstandsbewegung, angeführt von einem
jungen Mädchen, auf den Plan. Der Dschinn und sein Gebieter haben alle Krallen
und Hände voll zu tun. Die Schlusskapitel fordern im Shakespeareschen Ausmaß
Opfer. Würde der Rezensent über das nötige magische Wissen verfügen, hätte er
wohl Band zwei der Trilogie schnellstens herbeimaterialisiert, um mit dem eitlen
Dschinn weiter Fußnotenkommunikation betreiben zu können.
Autor Jonathan
Stroud könnte mit Bartimäus der Einzug in die Oberliga der fantastischen
Literatur gelungen sein. In manchen Grundkonstellationen ähnelt seine
Zauberwirklichkeit jener von Joanne K.
Rowling, obwohl Nathanael finsterer als Harry und Bartimäus eitler als
Schneewittchens Stiefmutter ist. Wenn man so will, agiert Stroud zudem
gesellschaftskritisch. Geschickt verpackt er den realen Konflikt der britischen
Zweiklassengesellschaft in eine parallele Welt, wo Zauberer nur auf Kosten der
Gemeinen existieren können. Jonathan Swift
tat einst Ähnliches in "Gullivers Reisen".
Lange Zeit arbeitete Stroud
als Lektor für Kinderbücher. Nach der Veröffentlichung seiner ersten beiden
Eigenwerke beschloss er, von der Schriftstellerei zu leben. "Bartimäus" könnte
dabei mehr von Nutzen sein als die berühmte Fee mit den drei
Wünschen.
Aber so mächtig und gewitzt der gute Dschinn auch sein mag,
selbst eine überirdische Spezies klagt über Wehwehchen. Es muss nicht gleich der
Kontakt mit todbringendem Silber sein. Kunststoff genügt. Sobald sich seine
Substanz gezwungenermaßen in diese Synthetik verwandelt, kränkelt sie. Derartige
Materialien haben "zu viel Menschliches", sprich Schadstoffbelastung, in sich.
Ein Dschinn im Selbstmitleid: "Wahrscheinlich handelt es sich um eine Art
Allergie."
Übrigens, durch die Aneinanderreihung der Befehle Appare -
Mane - Ausculta - Se Dede - Pare - Redi (Erscheine - Verharre - Höre - Diene -
Gehorche - Kehre zurück) kann jeder selbst versuchen, den allergischen Bartimäus
ins traute Heim zu holen. Allerdings sollte bei der Invokation weder gelispelt,
gestottert, falsch betont oder gehudelt werden - nur mit dem Brustton der
Überzeugung gelingt die Anrufung unbeschadet. Denn: "Wenn wir etwas zu unseren
Gunsten missverstehen können, dann tun wir das meistens auch." (Bartimäus) ...
(lostlobo; 10/2004)
Jonathan
Stroud: "Bartimäus - Das Amulett von Samarkand"
(Originaltitel: "The Bartimaeus Trilogy: Vol.I:
The Amulet of Samarkand")
Aus dem Englischen von Katharina Orgaß, Gerald
Jung.
Gebundene Ausgabe:
cbj, 2004. 540 Seiten. (Ab 10 J.)
ISBN
ca. EUR 19,50.
Buch bei amazon.de
bestellen
Englische Ausgabe bei
amazon.de bestellen
Hörbuch (Kinder-Lesung; gesprochen von Martin
Semmelrogge):
Randomhouse Audio, 2004. 6 Audio-CDs; Laufzeit ca. 420 Minuten;
mit Begleitheft.
ISBN 3-89830-796-4.
Audio-CDs bei amazon.de
bestellen
Leseprobe:
Die
Temperatur im Zimmer sank rasch. Eis bildete sich auf den Vorhängen und überzog
die Deckenlampen mit einer dicken Kruste. Die Glühfäden sämtlicher Birnen
schnurrten zusammen und verglommen, und die Kerzen, die wie eine Kolonie
Giftpilze aus jeder freien Fläche sprossen, erloschen. Das abgedunkelte Zimmer
füllte sich mit einer stickigen gelben Schwefelwolke, in der verschwommene
schwarze Schatten wühlten und waberten, und von weit her erklang ein
vielstimmiger Schrei. Plötzlich drückte etwas gegen die Tür, die hinaus zur
Treppe führte. Das ächzende Gebälk wölbte sich. Unsichtbare Füße patschten über
die Dielen und unsichtbare Lippen zischelten Niederträchtigkeiten hinter dem
Bett und unter dem Schreibtisch hervor.
Der Schwefeldampf verdichtete sich zu
einer dicken Rauchsäule und würgte kleine Tentakel aus, die wie Zungen in die
Luft leckten und sich wieder zurückzogen. Die Säule stand direkt über dem
Pentagramm und brodelte unablässig zur Decke empor wie die Rauchwolke über einem
Vulkan. Dann, nach einer kaum merklichen Unterbrechung, tauchten mitten im Rauch
zwei gelbe, stechende Augen auf.
Also bitte - es war sein erstes Mal. Ich
wollte ihm einen Schrecken einjagen!
Was mir auch gelang. Der dunkelhaarige
Junge stand in einem zweiten, kleineren, mit verschiedenen Runen ausgemalten
Drudenfuß, etwa einen Meter neben dem eigentlichen Pentagramm. Er war
leichenblass und zitterte wie Espenlaub. Er klapperte mit den Zähnen.
Schweißperlen tropften ihm von der Stirn, erstarrten im Fallen zu Eis und
klirrten wie Hagelkörner auf den Fußboden.
Alles schön und gut, aber - was
soll's? Ich meine, er sah aus wie gerade mal zwölf. Aufgerissene Augen,
eingefallene Wangen. So erhebend ist es nun auch wieder nicht, ein mickriges
Bürschlein zu Tode zu erschrecken.
Daher schwebte ich abwartend auf der
Stelle und hoffte, es würde nicht allzu lange dauern, bis er die
Entlassungsformel sprach. Um mir die Zeit zu vertreiben, ließ ich blaue Flammen
so am Innenrand des Pentagramms emporzüngeln, als versuchten sie auszubrechen
und nach ihm zu schnappen. Natürlich reiner Hokuspokus. Ich hatte bereits alles
überprüft. Das Siegel war recht ordentlich gezogen und er hatte sich nirgendwo
verschrieben. Schade.
Schließlich sah es so aus, als hätte der Bengel genug
Mut gefasst, um zu sprechen. Jedenfalls schloss ich das aus dem Beben um seine
Lippen, das nicht nur von nackter Angst herzurühren schien. Ich ließ das blaue
Feuer erlöschen und ersetzte es durch einen widerlichen Gestank.
Der Junge
sagte etwas. Ziemlich piepsig.
"Ich befehle dir ... mir ... mir ..." Nun mach
schon! "... d-d-deinen N-Namen zu nennen."
So fangen sie immer an, die
Jungen. Sinnloses Gestammel. Er wusste genauso gut wie ich, dass er meinen Namen
schon kannte - wie hätte er mich sonst beschwören können? Dazu bedarf es der
richtigen Worte, der richtigen Gesten und vor allem des richtigen Namens. Ich
meine, es ist ja nicht so, als bestellte man ein Taxi - bei einer Beschwörung
kommt nicht einfach irgendwer!
Ich wählte eine volle, tiefe, samtig dunkle
Stimme, so eine, die von überall und nirgends ertönt und Anfängern die Haare zu
Berge stehen lässt.
"BARTIMÄUS."
Der Kleine schluckte schwer, als er das
hörte. Immerhin - er war also nicht ganz dumm: Er wusste, wer und was ich war.
Er kannte meinen Ruf.
Als er seine Spucke runtergewürgt hatte, stotterte er
weiter: "I-Ich befehle dir nochmals zu antworten. Bist du jener B-Bartimäus, der
in alten Zeiten von den Magiern beschworen wurde, die Mauern von Prag wieder
aufzurichten?"
Was für ein elender Umstandskrämer. Welcher Bartimäus sollte
ich wohl sonst sein? Diesmal drehte ich die Lautstärke ein bisschen auf. Das Eis
auf den Glühbirnen knisterte wie karamellisierter Zucker. Die Fensterscheiben
hinter den schmutzigen Vorhängen summten und vibrierten. Der Junge
schwankte.
"Ich bin Bartimäus! Ich bin Sakhr al-Dschinni, N'gorso der Mächtige und die
Silbergefiederte Schlange. Ich richtete die Mauern von Uruk,
Karnak und Prag
wieder auf. Ich sprach mit König Salomo. Ich galoppierte mit den Büffelvätern
über die Prärie. Ich wachte über das Alte Simbabwe, bis seine Wälle zerfielen
und die Schakale seine Bewohner fraßen. Ich bin Bartimäus! Ich kenne weder Herrn
noch Meister. Deshalb frage ich dich, mein Junge: Wer bist du, dass du mich
rufst?"
Echt eindrucksvoll, was? Und obendrein wahr, was dem Ganzen
noch mehr Nachdruck verleiht. Aber ich wollte nicht einfach nur auf den Putz
hauen. Ich hoffte das Bürschlein dazu zu verleiten, mir seinerseits seinen Namen
zu verraten, damit ich etwas in der Hand hatte, wenn er mal nicht aufpasste.
Aber ich hatte Pech.
"Bei den Kräften des Kreises, den Zacken des Pentagramms und dem Ring der Runen
- ich bin dein Herr und Meister! Du hast mir zu gehorchen!"
Irgendwie war es demütigend, diese alte Leier aus dem Mund so
eines schmächtigen Knirpses zu hören, noch dazu mit dieser nervigen Piepsstimme.
Ich verkniff mir, ihm gehörig die Meinung zu geigen, und intonierte stattdessen
die übliche Erwiderung. Hauptsache, es war rasch vorbei.
"Was ist dein
Begehr?"
Ich muss allerdings zugeben, dass ich überrascht war. Die meisten
Anfänger wollen erst mal nur gucken. Sie möchten einen Blick hinter den Vorhang
werfen und sich an ihrer künftigen Macht berauschen, sind aber viel zu nervös,
um sie wirklich auszuprobieren. So einen kleinen Scheißer wie diesen, der sich
gleich als Erstes traut, Wesenheiten wie mich anzurufen, findet man
selten.
Der Junge räusperte sich. Sein großer Auftritt war gekommen. Darauf
hatte er sich lange vorbereitet. Davon hatte er seit Jahren geträumt, statt auf
seinem Bett herumzulümmeln und an Rennautos oder Mädchen zu denken. Mürrisch
wartete ich auf seinen lächerlichen Befehl. Was hatte er sich wohl ausgedacht?
Meistens sollte ich einen Gegenstand schweben lassen oder quer durchs Zimmer
bewegen. Vielleicht wollte er auch, dass ich irgendein Trugbild herbeihexte. Das
könnte lustig werden, denn es gab bestimmt eine Möglichkeit, den Befehl falsch
zu verstehen und den Jungen aus der Fassung zu bringen.
"Ich befehle dir, das
Amulett von Samarkand aus dem Haus von Simon Lovelace zu holen und es mir morgen
bei Sonnenaufgang, wenn ich dich wieder rufe, herzubringen."
"Was soll
ich?"
"Ich befehle dir ..."
"Schon gut, ich hab's gehört." Ich wollte
nicht gereizt klingen. Es rutschte mir einfach so raus. Auch die Grabesstimme
verrutschte mir ein bisschen.
"Dann geh!"
"Moment mal!" Ich spürte dieses
komische Gefühl im Magen, das man immer hat, wenn man entlassen wird. Als würde
einem das Gedärm zum Hintern rausgezogen. Die Formel muss dreimal gesprochen
werden, bevor man endgültig verschwinden muss, falls man es darauf anlegt, noch
ein Weilchen dort herumzuhängen.
Normalerweise legt man es nicht darauf an.
Aber diesmal rührte ich mich nicht vom Fleck, sondern blieb ein glühendes
Augenpaar in einer bösartig blubbernden Rauchsäule.
"Weißt du überhaupt, was
du da verlangst, Kleiner?"
"Ich wünsche kein Gespräch mit dir, keinen Streit
und keine Verhandlungen. Ich lasse mich nicht auf Rätsel noch auf Wetten oder
Glücksspiele ein und schon gar nicht ..."
"Auch mir liegt wahrhaftig nichts
daran, mich mit einer halben Portion wie dir abzugeben, also verschone mich
gefälligst mit deinem auswendig gelernten Humbug. Offenbar versucht jemand, dich
für seine Zwecke zu missbrauchen. Wahrscheinlich dein Meister, hab ich Recht?
Ein feiger Tattergreis, der ein Kind vorschickt." Ich nahm den Rauch ein wenig
zurück und offenbarte zum ersten Mal meine Gestalt, aber nur verschwommen. "Wenn
du danach trachtest, einen richtigen Zauberer zu bestehlen, indem du mich
beschwörst, spielst du doppelt mit dem Feuer. Wo sind wir hier überhaupt? In
London?"
Er nickte. Klar war das London. Irgendein heruntergekommenes
Reihenhaus. Ich spähte durch die Rauchschwaden ins Zimmer. Niedrige Decke,
wellige Tapete, an der Wand der verblichene Druck einer düsteren holländischen
Landschaft. Einen komischen Geschmack hatte der Junge. Ich hätte eher
Popsängerinnen oder Fußballspieler erwartet ... Die meisten Zauberer sind schon
in ihrer Jugend schrecklich angepasst.
"Du Ärmster -", meine Stimme klang
sanft und mitleidsvoll, "die Welt ist schlecht und man hat dich schlecht auf sie
vorbereitet."
"Ich habe keine Angst vor dir! Ich habe dir einen Auftrag
erteilt und fordere dich auf zu gehen!"
Die zweite Entlassung. Meine
Eingeweide fühlten sich an wie von einer Dampfwalze überrollt, und ich spürte,
wie meine Gestalt flackerte und flimmerte. Trotz seiner Jugend verfügte dieser
Knabe über beträchtliche Macht.
"Nicht mich hast du zu fürchten, jedenfalls vorerst nicht. Simon Lovelace wird
dir schon selbst die Hölle
heiß machen, wenn er merkt, dass man ihm sein Amulett gestohlen hat, und dein
jugendliches Alter wird für ihn kein Anlass zur Nachsicht sein."
"Du musst mir zu Diensten
sein."
"Schon gut." Eins musste man ihm lassen: Er war fest entschlossen. Und
ziemlich dumm.
Er hob die Hand. Ich vernahm die erste Silbe des Methodischen
Schraubstocks. Er wollte mich durch Schmerzen gefügig machen.
Ohne mich mit
weiteren Spezialeffekten aufzuhalten, machte ich mich davon.