Dr. Udo Waldemar Dieterich: "Das Runen-Wörterbuch"

Göttervater Odin ins Wörterbuch geschaut


Runen haftet gemeinhin ein zweifelhafter Ruf an, einerseits als Utensilien von Hobby-Esoterikern, mittels derer sich angeblich die Zukunft weissagen lässt. Andererseits als Inventar nationalsozialistischer Symbolik; man denke nur an die blitzförmigen Kürzel der SS. Dementsprechend umfangreich sind Publikationen über Runen, wo Seite für Seite mehr hineininterpretiert wird als sich gesichert belegen ließe. Anders "Das Runen-Wörterbuch", von Dr. Udo Waldemar Dieterich, 1848 in Stockholm erstmals aufgelegt. Was der Stowasser für Latein, das ist dieses Buch für die seriöse Erklärung der altnordischen Runenschrift.

Mythologisch betrachtet gilt Göttervater Odin als Schöpfer der Runen, historisch verlieren sich ihre Anfänge im Dunkel der germanischen Geschichte. Bis heute ist unklar, ob die Zeichen ein Kulturelement der so genannten Heidenzeit sind, oder im Zuge der Christianisierung ihren Weg nach Nordeuropa fanden. Ebenso nebulos bleibt ihre ursprüngliche Aussprache. Fest steht, dass das Auftauchen der Runen mit der Christianisierung und jenem der christlichen Leichensteine Skandinaviens nahe zusammenfällt.

Die Litera der klassischen Runenschrift setzen sich aus einem vertikalen Stabstrich plus horizontalen Kennstrichen zusammen. Durch Lage, Höhe und Richtung dieser Kennstriche zum Stabstrich ergeben sich die einzelnen Buchstaben. Ursprünglich waren alle Kennstriche abgespitzt, späterhin bürgerten sich - vermutlich aus ästhetischen Motiven - Rundungen ein. Neben der klassischen Runenschrift fanden Forscher die Helsing-Runen, welche ganz ohne Stabstrich auskommen, bzw. die Dänischen- oder Waldemars-Runen, die dem lateinischen Alphabet angepasst worden waren. Interpunktion im herkömmlichen Sinne fehlt bei der Runenschrift, oft aber wurden Wörter durch Punkte, Kreuze oder ähnliche Symbole getrennt. Inschriften weisen in der Regel kunstvolle Schlangenornamentik auf.

Die klassische Runenschrift setzt sich aus den Buchstaben F, U, Th, O, R, K, H, N, I, A, S, T, B, L, M, R zusammen; oft auch Futhork-Alphabet bezeichnet. Alle Buchstaben finden zudem ihre Entsprechung in Natur oder Götterwelt. F (sprich "Fe") steht für Vieh oder Fichte, U ("Ur") für stürmisches Wetter bzw. Auerochse, Th für Dorn oder den Donnergott Thor, I ("Is") für Eis, B ("Birkan") für Birke, L ("Laugr") für Flüssigkeit, M ("Madr") für Mann oder Mensch, usw.

Dietrich hat im "Runen-Wörterbuch" Begriffe und Namen nach ihren Anfangsbuchstaben geordnet und etymologisch gedeutet. Er lieferte ein sprachwissenschaftliches Kompendium ab, das sich sicher nicht als Lektüre zwischendurch eignet, wohl aber als fundiertes Nachschlagwerk. Der Marixverlag legte Dieterichs Klassiker 2004 in "alterthümlicher" Originalsprache neu auf; dennoch zeitgemäß, wie ich meine. Deutsch ist von Grammatik, Syntax und der Mehrzahl der Vokabeln her eine germanische Sprache, und obwohl wir im Alltag längst nicht mehr mit Runen schreiben, lebt viel von deren Wortsinn bis heute fort. So gesehen ein Wörterbuch als Brücke zwischen Vorgeschichte und Postmoderne.

(lostlobo; 03/2004)


Dr. Udo Waldemar Dieterich: "Das Runen-Wörterbuch"
Marixverlag, 2004. ca. 400 Seiten.
ISBN 3-937715-13-4.
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