Gabriele Münnix: "Anderwelten"
Eine fabelhafte Einführung ins Philosophieren
"Habe
den Mut, dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen." (Immanuel
Kant)
Diese Frage wird des Öfteren in dem vorliegenden Buch
"Anderwelten"
von Gabriele Münnix, das Kindern ab zehn Jahren einen ersten
Einstieg ins
Philosophieren ermöglicht, gestellt. Kann und soll man bereits
Kinder ans
Philosophieren heranführen? Überfordert man sie damit
nicht? Ist Philosophie
nicht eher etwas für Erwachsene oder zumindest für
Jugendliche?
"Dass Kinder nicht philosophieren können, ja der
Philosophie gefälligst
aus dem Wege gehen sollten, um nicht auf dumme, ihrem Wesen
unangemessene
Gedanken zu kommen, ist eines der Vorurteile, dessen
Überwindung der Bewegung
der sogenannten Kinderphilosophie zur Ehre gereicht",
schreibt der
deutsche Philosoph Vittorio Hösle im Vorwort zu diesem Buch.
Denn
philosophisches Nachdenken über sich und die Welt sowie sich
darüber Austauschen
entspricht dem kindlichen Bedürfnis nach Erkundung und
Aneignung von
Wirklichkeit. Kinder suchen nach Orientierung im Leben, sie wollen
wissen, wer
sie sind und stellen existenzielle Fragen. Anders als Erwachsene, die
oft genug
bewusst oder unbewusst Fragevermeidungstechniken ausgebildet haben,
stehen
Kinder der Welt staunend gegenüber. Genau diese Haltung ist
es, von der die
Philosophie ausgeht.
Sich philosophierend im Leben zu orientieren, erfordert den Mut, selbst
zu
denken, Selbstverständliches zu hinterfragen und für
seine Überzeugungen und
sein Handeln einzustehen. Wer nach Antworten auf philosophische Fragen
sucht,
muss offen sein für die Sichtweisen Anderer, kreativ und
logisch denken und
seinen eigenen Standpunkt begründen können. Im
Philosophieren nähert man sich
aber auch dem Wesen und der Bedeutung eigener Gefühle,
Gedanken, Wahrnehmungen
und Werte an. So unterstützt das Philosophieren Kinder bei der
Bewältigung
ihrer Entwicklungsaufgaben, fördert ihre Fähigkeit
zum Dialog und zum
demokratischen Miteinander. Es ist gleichzeitig ein Weg zur Entfaltung
der Persönlichkeit,
der inneren Stabilität und des inneren Friedens der Kinder,
anstatt sie frühzeitig
nach den - immer doch in erster Linie egoistischen - Wünschen
der bequemen und
meist einseitig festgelegten Erwachsenen zu konditionieren.
Philosophie verständlich und ohne elitären
Status dargebracht
"Eine fabelhafte Einführung ins Philosophieren"
- so der
Untertitel - hat Gabriele Münnix mit ihrem Buch "Anderwelten"
geschrieben. Fabelhaft im Sinne von fantastisch oder
großartig zum Einen, weil
es viele Themen des alltäglichen Lebens in einer klaren und
vor allem verständlichen
Sprache aufgreift, die nicht von vornherein ausgrenzt, und zum Anderen,
weil es
aus philosophischen Fabeln, den sogenannten Philofabeln oder
Nachdenkgeschichten
besteht. Es "sind offene Geschichten", so die
Autorin, "ohne
die berühmte 'Moral von der Geschichte', in der man
abschließend und ein für
alle Mal erfährt, wie und was man zu denken hat."
Antworten werden
nicht vorgegeben und können dadurch dem jungen Leser als
Denkanregungen dienen.
Man kann dieses Buch aber auch nur als kuriose Geschichte lesen. Doch
unweigerlich laden die in den Fabeln vorkommenden sehr menschlichen
Tiere, dazu
ein, "sich in die unterschiedlichen Lebenswelten dieser
Geschichten
hineinzudenken und sie in ihrer Gleichnishaftigkeit zu deuten",
so Münnix.
Die integrierten Differenzen zwischen Mensch und Tier geben immer
wieder Anlass
zu Überlegungen über Perspektiven. So werden die
Kinder unweigerlich damit
konfrontiert, "ihren ganz persönlichen Zugang zu den
großen Fragen zu
suchen", wie Vittorio Hösle treffend feststellt.
Die Fabeln wiederum sind in eine komplexe Rahmengeschichte integriert,
die aus
einer drei Generationen übergreifenden Familiengeschichte und
geistigen
Abenteuern besteht. Die beiden jungen Helden, Phil und Feli, die ihre
Ferien bei
den Großeltern erleben, entdecken beim Stöbern auf
dem Speicher des großelterlichen
Hauses ein geheimnisvolles "Zauberbuch", das ein interessantes
Rätsel
enthält. Das Buch und die darin enthaltenen Fabeln bilden
dabei den sogenannten
roten Faden, der sich durch die ganze Geschichte zieht. Gleichzeitig
wird immer
wieder ein realistisches, humorvolles und sympathisches Bild der
Beziehungen
innerhalb der Großfamilie - zwischen den Paaren und
über die Generationen
hinweg - gezeichnet. Auch ein Überblick über die
großen Philosophen des
Altertums bis zur Gegenwart und deren grundlegende Ansichten ist
enthalten.
Die nachfolgenden Auszüge einiger Themen und Fragestellungen
sollen einen
kleinen Einblick in das wunderbare Buch geben, das nicht nur Kinder
ansprechen
wird, sondern parallel dazu auch für Erwachsene bzw.
ältere Leser äußerst
interessant und anregend ist. Wird doch durch die dargestellte
Realitätsnähe
deutlich, dass Philosophie bis in den Lebensalltag hinein relevant ist
und
keineswegs den elitären Status, der sie zuweilen umgibt,
bedient. "Sie
führt unsere Fragen zu vorläufigen Antworten, um uns
dann mit neuen Fragen zu
beschäftigen, durch die wir auch uns selbst immer besser
kennenlernen",
erklärt Gabriele Münnix in ihrem Nachwort.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
"Es gab Dinge, die waren anders, als sie aussahen. Und woher konnte man
dann wissen, was richtig war?"
"Wieso erfüllte so ein Duft [Anm. der Rezensentin: von frisch
gebackenem
Kuchen] einen eigentlich so mit Wohlgefühl? [...] Ist der Duft
eigentlich für
uns alle derselbe?"
"Wieso bin ich immer ich? [...] Wenn ich doch immer auch anders sein
kann!"
"Was war Vergangenheit und was war Gegenwart?"
"Konnte es mehrere Wirklichkeiten geben?"
"Geht das Denken auf Kosten des Fühlens?"
"Weshalb braucht man Anerkennung? Wie kann man sie bekommen, ohne sich
lächerlich
zu machen?"
"Was ist überhaupt schön? Welche Schönheit
braucht man? Weshalb?"
"Werden wir das, was wir werden sollen, oder können wir das
selber
bestimmen?"
"Wie ist es, wenn man stirbt?"
"Was ist Geist? Was ist Bewusstsein? [...] Welche Beziehung ist
zwischen Körper
und Geist?"
Dies sind nur einige wenige der aufgeworfenen Fragen, mit denen sich
der Leser
dieses Buches auseinandersetzen kann.
Philosophisches Denken bereichert das Leben, und man lebt erst richtig,
"wenn
man zu den Dingen eine Einstellung gefunden und sie durchdacht hat",
ist im Buch zu lesen. Und: "dass das Ich erst am Du zum Ich
wird. Und
Dialog [...] nicht einfach Austausch von Argumenten [ist], sondern
immer auch
eine Begegnung, in der man sich ernst genommen und angenommen
fühlen
sollte." Dem kann die Rezensentin uneingeschränkt
zustimmen.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wozu sind wir auf der Welt?
Wie sollen wir
leben?
Sich als Mensch darauf zu besinnen, wer man ist, wie man sich
verändert, ob man
sich wirklich kennt und weiß, was Leben bedeutet ..., damit
kann man eigentlich
nie zeitig genug anfangen. Man wird selbstkritischer und den Dingen
gerechter,
versteht vieles besser und baut Vorurteile ab.
Auch kann die Welt nicht besser werden, wenn man sein Denken abgibt.
Man muss
schon mitdenken.
Fazit:
"Philosophie heißt in Wahrheit, von Neuem zu lernen, die Welt
zu sehen,
und insofern kann eine schlichte Erzählung - erzählte
Geschichte - ebenso
'tief' die Welt bedeuten wie eine philosophische Abhandlung."
Diesen
Satz des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty
(1908-1961) hat
Gabriele Münnix ihrem fabelhaften Buch vorangestellt.
"Anderwelten" zeigt, dass sich über viele Dinge philosophieren
lässt.
Denn gerade in unserer schnelllebigen Zeit mit ihren zunehmenden Krisen
durch
menschliches Versagen, einer allgemeinen Desorientierung und
Orientierungslosigkeit, in der sich viele Menschen einfach nur treiben
lassen,
sich bloß anpassen und ihre Meinung aus dem Fernseher
beziehen, sollte man sich
von Zeit zu Zeit über die Prinzipien, nach denen Menschen ihr
Leben aus eigener
Überzeugung leben können, Gedanken machen. Denn das
Leben ist immer noch ein
wunderbares Abenteuer. Aber man muss etwas dafür tun! Man muss
zum Beispiel
Kinder zum Denken anregen. Hierzu könnte das Philosophieren
mit Kindern ganz
sicher grundlegend beitragen und den durch die Medien
unterstützten
gesellschaftlichen Einfluss zur Ablenkung vom Wesentlichen, zur
Entfremdung von
sich selbst und von der Natur durch immer mehr Konsum,
Mobilität und Unterhaltung verringern.
(Heike Geilen; 03/2009)
Gabriele
Münnix: "Anderwelten. Eine
fabelhafte Einführung ins Philosophieren"
dtv Reihe Hanser, 2009. 302 Seiten. (Ab 10 J.)
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