Friedrich Dürrenmatt: "Der Verdacht"


"Ich wagte es, ich selbst zu sein und nichts außerdem, ich gab mich dem hin, was mich frei machte, dem Mord und der Folter; denn wenn ich einen anderen Menschen töte, wenn ich mich außerhalb jeder Menschenordnung stelle, die unsere Schwäche errichtete, werde ich frei, werde ich nichts als ein Augenblick, aber was für ein Augenblick! An Intensität gleich ungeheuer wie die Materie, gleich mächtig wie sie, gleich unberechtigt wie sie, und in den Schreien und in der Qual, die mir aus den geöffneten Mündern und aus den gläsernen Augen entgegenschlägt, über die ich mich bücke, in diesem zitternden, ohnmächtigen, weißen Fleisch unter meinem Messer spiegelt sich mein Triumph und meine Freiheit und nichts außerdem."
(Selbsterklärung des Mörders aus "Der Verdacht" von Friedrich Dürrenmatt)

Verfiele man auf das an sich zweifelhafte Ansinnen, eine Aristokratie deutschsprachiger Literaten des 20. Jahrhunderts benennen zu wollen, man käme nicht umhin, ihn in die nähere Auswahl einzubeziehen: Friedrich Dürrenmatt. Der am 5. Januar 1921 in Konolfingen/Schweiz geborene und am 14. Dezember 1990 in Neuneburg/Schweiz verstorbene Romancier und Dramatiker hinterließ der Welt ein Werk, welches gleichermaßen von packender Spannung, poetischer Kraft, komödiantischem Humor und philosophischem Tiefsinn gezeichnet ist. Seine Romane und Tragikomödien sind in sich abgerundete Wortkompositionen von vollendeter Gestaltung. Und zudem handelt es sich nicht zuletzt um kritische Literatur von einer analytischen Schärfe, wie sie in unseren Tagen immer seltener wird: kein weinerliches Lamento, keine modische Sozialpornografie, sondern wahrhaftige Gesellschaftskritik, die das Wesen strukturell verfügten Machtmissbrauchs aufdeckt. Das Unrecht hat System; ist weniger zufällig denn gewollt. Der Gleichheitsgrundsatz endet dort, wo die Macht zur Selbstherrlichkeit über Gut und Böse anschwillt.

Spannende Krimis werden auch heutzutage noch geschrieben, philosophische Krimis hingegen sind selten geworden. Zentrales Thema in Dürrenmatts Kriminalromanen ist die Gerechtigkeit, die rechte Ordnung ("Justiz"), welche ein hohes Ideal darstellt, an das auch der moderne Rechtsstaat nicht heranreicht, zumal der hehre Anspruch der Gleichheit aller vor dem Gesetz, das staatsideologische Streben nach der rechten und gerechten Ordnung, an der Wirklichkeit ungleicher Machtverteilung scheitert und immer wieder scheitern muss. Man fragt sich, ob es denn an seiner Herkunft als Sohn eines Pfarrers gelegen sein mag, oder daran, dass er ein Studierter der Philosophie und Theologie war, dass er Moralist war.
Wie auch immer, Friedrich Dürrenmatt war glühender Moralist, verbittert über das Versagen gesellschaftlicher Ordnungskräfte, von Legislative, Exekutive und Justiz, in der realen Verfasstheit europäischer Zivilisation, und sein unbändiges Gemüt war durchdrungen von einer aus seiner Verbitterung erwachsenden Neigung zur konsequenten Anwendung von Selbstjustiz als Notwehrrecht der geschundenen Kreatur in ihrer äußersten Verzweiflung. Seine sittliche Natur war ob des Wirklichen beleidigt, dem Dürrenmatt sich nicht zu beugen gedachte, denn letztlich obliegt es immer noch dem individuellen Gewissen sich der Wirklichkeit anzupassen oder ihr zu widerstehen. Dürrenmatt stand für ein praktisches, in seinem Aufbegehren gegen das Unrecht effizientes Gerechtigkeitsempfinden, welches gegen das Böse vorgeht, ohne sich von weltlichen oder religiösen Rechtsnormen auch nur irgendwie beirren zu lassen. Aug' um Aug', Zahn um Zahn, der Schriftsteller scheut nicht die verfängliche Nähe zu archaischer Rechtssatzung. Zu tief scheint sich die Erkenntnis in die Eingeweide seines Empfindens eingefressen zu haben, dass alle Justiz dieser Erde im Kampf gegen das Verbrechen immer nur versagt.

Wie anders wären all die ungesühnten Verbrechen möglich, die Dürrenmatt in seinen Romanen und Theaterstücken als Abbilder realer Scheußlichkeiten inszeniert und die allesamt nur vermittels eines entschiedenen Aktes der Selbstjustiz der strafenden Gerechtigkeit zugeführt werden. Man könnte Dürrenmatt einen Dichter der Selbstjustiz nennen, obgleich diese oberflächliche Titulierung der Vielschichtigkeit seiner Erwägungen nicht ganz gerecht werden würde. Allenfalls ist es die Verzweiflung über den Triumph des Bösen im Machtgefüge gesellschaftlicher Hierarchien und das damit verbundene Ausbleiben von Sühne, welches seine Protagonisten regelmäßig in Racheengel verwandelt. Und die Botschaft ist klar: Es gibt einen Weg zur Gerechtigkeit, so dramatisch es auch sein mag, diesen zu betreten. Es ist der Weg des Faustrechts, und dieser Art von Gerechtigkeit kann auch jener nicht entkommen, der vermeint, über dem Gesetz zu stehen. Dahinter verbirgt sich eine tiefgehende Verunsicherung ob der sittlichen Wirkmacht des Staates und seines Gewaltmonopols im Kapitalismus, dem Gesellschaftssystem ökonomisch vermittelter Herrschaft. Wo große Geldansammlungen Herrschaft konstituieren, dort ist der Begüterte gleicher als gleich und wird sich bisweilen selbst noch das Privileg des Rechtsbruchs herausnehmen, bis hin zu schwerstkriminellen Verhaltensweisen. Recht und Gerechtigkeit sind unter korrumpierten Verhältnissen käuflich, solange sich der Einzelne kaufen lässt. Es liegt allein am Individuum, der Welt eine gerechte Ordnung zu geben.

Es ist ein Wagnis, einen Roman gleich einem Hörspiel in gesprochener Form zu vertonen. Dürrenmatts Roman "Der Verdacht" eignet sich für dieses Wagnis allerdings besonders gut, besteht er doch großteils aus Dialogen, weshalb er sich ebenso problemlos in ein Drama umschreiben und auf einer Bühne inszenieren ließe. Die Dominanz des Dialogischen macht den Text lebendig, macht ihn aufführbar, sprechend; ideale Voraussetzungen für eine Textwiedergabe im Rahmen eines Hörbuchs.
"Steinbach - sprechende Bücher" nahm die Aufgabe auf sich, in Co-Produktion mit dem Schweizer Radio "DRS1" und dem "SFB", den Kriminalroman "Der Verdacht" auf Tonträger zu bannen. Das Ergebnis ist eine Lesung mit verteilten Rollen, welcher es gelingt, das Faszinosum Dürrenmatt in ein Hörvergnügen ersten Ranges umzulegen. Die Stimmen von Franziskus Abgottspon, Franz Mattner, Daniel Reinhard, Walter Baumgartner u.A. geben den handlungstragenden Personen tonvolle Substanz, erfüllen die Charaktere mit typisierender Prägnanz, lassen das Ungeheuerliche vernehmbar werden, das doch nur der Fantasie eines nur allzu realistischen Kopfes entsprungen ist.
Man hört die Hinfälligkeit aus dem Mund des sterbenskranken Kommissars kriechen, vernimmt die melodiöse Arroganz selbstgewisser Freiheitsversicherung des verfolgten Verbrechers und ärgert sich über den zögerlichen Tonfall des ignoranten Gemüts, das, um des bequemen Glaubens an die Wirklichkeit gerechter Verhältnisse wegen, seinen Blick von der aufdringlichen Selbstevidenz des Abscheulichen abwendet. Es ist die hörbare Bemühung um Typisierungen, die besticht. Wünscht man den Roman zu lesen, man wird natürlich ähnlich begeistert sein, wie wenn man ihn sich erhört. Dürrenmatt überzeugt eben immer und in jeder Vermittlungsform. Er ist als König des philosophischen Kriminalromans ein Garant für Spannung und Gelehrsamkeit.

Der Handlung von "Der Verdacht" mangelt es nicht an Skurrilität und symbolischer Vermittlung. Der heillos krebskranke Kommissär Bärlach, den wir schon aus "Der Richter und sein Henker" kennen, verstrickt sich in seinen letzten Fall, der eigentlich, im amtlich strengen Sinne, nicht mehr sein Fall sein kann, ist Bärlach doch schon in den Ruhestand versetzt worden. Bis auf das Skelett abgemagert, mit dem fleischlosen Schädel eines vom Tumor zerfressenen Körpers, wittert die Kriminalistennase doch noch die Spur zu einem ungeheuerlichen und ungesühnten Verbrechen und setzt sich selbst darauf an. Niemand autorisiert ihn dazu, als die eigene kriminalistische Leidenschaft, ein unbestimmter, noch immer hellwacher Spürsinn für die schändliche Abweichung vom Sollgehalt sittlicher Norm, die sich in ihrer angemaßten Selbstherrlichkeit gegen jede Mitmenschlichkeit versündigt. Der Gejagte ist kein einfacher Schurke, sondern eine geniale Bestie, dessen philosophischer Freiheitsbegriff frappierend an Jean Paul Sartres radikale Freiheitsphilosophie erinnert - (die u.a. auch den Mord als Akt äußerster Freiheitssetzung einschließt; vgl. "Die Fliegen") - die sich in ihrer rein ontologischen Auslegung dem Verbrechen gegenüber genauso indifferent verhält, wie der von Bärlach verfolgte Mörder, welcher meint, dass ein Vergehen gegen die Menschlichkeit aus materialistischer Sicht einfach keiner moralischen Wertung zugänglich sein kann.

Real ist allein die Materie und der einsame Willensentscheid des auf sich zurückgeworfenen "Ich". Moral hingegen ist nicht, denn Moral ist hinzugefügte und durch nichts legitimierte Dichtung (des Tatschwachen), deren einziger Zweck es ist, den Einzelnen in seiner souveränen Handlungsfreiheit zu lähmen und einzuschränken. Diese, eben auch vom Existenzialismus vertretene, asoziale Auffassung des autonomen Einzelmenschen wurde nicht zu unrecht als suggestive Konzeption unter den Bedingungen des moralischen Chaos der Nachkriegszeit kritisiert, welche als Versicherung absoluter Autonomie zwangsläufig in einen ethischen Relativismus mündet, in dem alles erlaubt ist und jede Art von Selbstentfaltung gutzuheißen ist. Tatsächlich handelt es sich um eine Verzweiflungsphilosophie, welche jenes grundlos in die Welt geworfene Geschöpf, das der Mensch ist, zur höchsten Kreatur eines amoralischen Daseins stilisiert. Nichts kann diesen Unglücklichen dann noch davon abhalten, seine Freiheit mit äußerster Grausamkeit gegen die Mitwelt zu richten. Davon abgesehen war der Freiheitsphilosoph Sartre jedoch Sozialist, der - Marxisten wie Adam Schaff meinten: widersprüchlicher Weise - gegen die Barbarei inhumaner Gesittung anfocht und die Notwendigkeit sozialer Kooperation anerkannte, hingegen jetzt wieder unser Existenzialist in Dürrenmatts Roman einer nihilistischen Gottgleichheit frönt, die für jeglichen Begriff von Humanität gerade noch einmal blanken Hohn erübrigen mag.
Der Kommissar außer Dienst riskiert seinen bereits hinwegsiechenden Lebensrest, um dem Gesetz, dessen Diener er jahrzehntelang gewesen ist, einen letzten mutigen Dienst zu erweisen. Es wird ganz anders kommen, als er es beabsichtigt. Nicht modernes Juristenrecht sondern der Grundsatz archaischer Gerechtigkeit wird den Verlauf des Geschehens bestimmen. Die Kraft des Gesetzeshüters, wer könnte dies besser verkörpern als der sterbende Bärlach, ist verfallen und darf sich gerade noch in ihrer letzten Ohnmacht erleben. Die Entscheidung fällt zwischen archaischen Handlungsmustern, dem einstigen Vertreter von Gesetz und Staat bleibt allein noch der Spott im Tonfall des kriminellen Ich-Menschen, dessen gottloses Weltbild dem auf sein materielles Dasein reduziertes "Ich" alles erlaubt, was das mosaische Gesetz des Alten Testaments einst dem gläubigen Menschen verboten hat: Vor allem das Töten und Quälen hilfloser Kreaturen. Denn darin - jenseits aller moralischer Hemmung - liege das Erleben göttlichen Freiheitsempfindens. Ein nach Rache dürstender Gerechtigkeitsbegriff setzt sich zuletzt gegen den inhumanen Freiheitsbegriff nihilistischer Selbstverwirklichung in Szene, womit sich das archaische Vergeltungsprinzip als ultima ratio bewahrheitet.

Die im Finale bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Spannung nimmt eine völlig unerwartete und fantastische Wendung, die bei aller scheinbaren Entschiedenheit den aufmerksamen Leser ein wenig verunsichert zurücklassen wird. Allzu fantastisch war dieses Ende, um noch wirklich zu sein. Ein Zug ins Resignative macht sich unwillkürlich breit. In dumpfer Halbbewusstheit spüren wir, dass wir nicht Insassen einer heilen Welt sind, in der immer das Gute über das Böse triumphiert. Daran ändert auch eine Ausflucht ins wahrlich Fantastische nichts. Doch sei trotz alledem dem siechen Helden Bärlach ein gehöriges Maß von Ehre erboten, diesem Ritter ohne Furcht und Tadel - (wie er im Roman einmal spöttisch genannt wird) -, der sich nicht beugt vor der Allmacht des Bösen, dessen Wirklichkeit eine gesellschaftliche Wirklichkeit; welche also abänderbar ist und nicht mit fatalistischer Tatenlosigkeit hingenommen werden muss.

(Harald Schulz)



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