(....) Der Kaffee stieg
wie heiße Lava im Innern der Kanne auf. El Conde tat vier Löffel Zucker in einen
Krug und wartete, bis der gesamte Kaffee durch den Filter nach oben gepresst
war. Dann goss er ihn in den Krug und rührte ihn um, langsam, um sich an dem
bitteren, heißen Aroma erfreuen zu können. Schließlich goss er die schwarze
Flüssigkeit in die Kanne zurück und von dort in eine Thermoskanne, aus der er
sich eine große randvolle Tasse zum Frühstück genehmigte. Er setzte sich in
das kleine Esszimmer und zündete eine Zigarette an, die erste des Tages.
Er
fühlte sich schrecklich alleine, und um dieses Gefühl zu verscheuchen, dachte er
an das, was er mit der Namenliste der Neujahrspartygäste anfangen wollte. Ihn
erwarteten einige ebenso unvermeidliche wie delikate Gespräche, die er lieber
nicht geführt hätte. Zoilita war offenbar immer noch nicht wieder aufgetaucht,
denn sonst hätte man ihm Bescheid gegeben. Sie war jetzt vier Tage verschwunden,
genauso lange wie Rafael. Vor morgen früh konnte er mit seinen Ermittlungen in
dem Unternehmen nicht beginnen, und das verlieh ihm eine Schonfrist, die er
gerne schon hinter sich gebracht hätte.
Aus den anderen Provinzen war wohl keine Meldung für ihn eingetroffen, auch
nicht vom Grenzschutz, die hätten ihn ebenfalls benachrichtigt. Weiterhin also
keine Spur von dem in Luft aufgelösten Mann. Und von dem Spanier Dapena? Um
den brauchte man sich keine Sorgen zu machen, der rannte wohl auf Cayo Largo
hinter irgendwelchen Titten her. Doch es gab auch so genug Arbeit für diesen
Sonntag.
Teniente Conde trank seinen Kaffee, der den Gaumen
und das Denkvermögen anregte, und beschloss, sich noch mehr Zeit zum Nachdenken
zu nehmen. Er wollte sich in Rafael Morín hineindenken, obwohl er nie im Leben
auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen hatte, dass so etwas möglich sein
könnte. Er musste fühlen, was ein Mensch wie Rafael Morín fühlte, musste wollen,
was er wollte (das war schon einfacher), um wenigstens eine Ahnung davon zu
bekommen, was es mit diesem merkwürdigen Verschwinden auf sich hatte. Doch es
gelang ihm nicht. Rafael gehörte nicht zu den Verbrechern, mit denen er es täglich
zu tun hatte, und das lähmte ihn. Ihm waren die schwarzen "Geschäftsleute" lieber,
die mit irgendetwas handelten, Zwischenhändler für das Außergewöhnliche, Hehler
für das Ausgefallene. Er kannte sie und wusste, dass sie stets einer Logik zufolge
agierten, an der man sich bei den Ermittlungen orientieren konnte.
Jetzt war alles anders. Ich treibe orientierungslos dahin, dachte er und drückte
die Zigarette im Aschenbecher aus. Er stellte fest, dass es Zeit war, Manolo
anzurufen und auf die Straße zu gehen, auch wenn der Tag nicht danach aussah,
ein Sonntag zu werden, an dem man an der Ecke stehen konnte, um ein wenig Sonne
zu tanken und die alten Geschichten der alten Freunde anzuhören, immer und immer
wieder.
Er goss sich eine zweite Tasse ein, weniger voll diesmal, dankte seinem Magen,
dass er ihn bisher noch nicht mit einem Geschwür
bestraft hatte, zündete sich eine weitere Zigarette an, beglückwünschte sich
zu seiner leistungsfähigen Lunge und ging ins Schlafzimmer.
Er setzte sich aufs Bett, gleich neben das Telefon, und
beobachtete den einsamen Rundtanz von Rufino, seinem Kampffisch. Dann sah er
sich in dem leeren Zimmer um, und es überkam ihn das Gefühl, dass auch er einen
einsamen Tanz aufführte, auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem endlosen,
beklemmenden Teufelskreis.
"Was sind wir doch für arme Schweine, Rufino", sagte er und wählte Manolos Nummer.
(...)
(Aus dem Roman "Ein perfektes Leben" von Leonardo
Padura. Originaltitel "Pasado perfecto"
Aus dem kubanischen Spanisch von
Hans-Joachim Hartstein.)
Teniente Mario Conde hat noch einen furchtbaren
Kater von der Silvesterfeier. Doch als er trotz freien Wochenendes von seinem
Chef den Auftrag erhält, ein verschwundenes hohes Tier aus der kubanischen Nomenklatura
zu suchen, merkt er bald, dass es sich bei dem Verschwundenen um Rafael Morín
handelt, einen Schulkollegen.
Schlagartig kommen die Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit zurück: Der
Mann mit der blütenweißen Weste, der zuverlässige Genosse, war schon damals
ein Musterschüler, der immer das bekam, was er wollte - auch Mario Condes Freundin
Tamara. Aber in Rafael Moríns perfektem Leben gibt es ein paar verdächtige Momente,
die genauer zu untersuchen sich lohnt. Dabei muss sich Mario Conde der verlorenen
Liebe zu Tamara stellen - und gleichzeitig den Träumen und Illusionen seiner
eigenen Generation.
Eine abenteuerliche Odyssee ins Galicien der Träume und Wunder, an einen Ort,
wo Absurdes und Verrücktes blühen.
Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, schloss 1980 ein Lateinamerikanistik-Studium
in Havanna ab und schrieb zunächst für verschiedene kubanische Zeitschriften.
Bald gehörten seine Reportagen zu den meistgelesenen in Kuba. Zu seinen Buchveröffentlichungen
zählen Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen
und Interviews. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus
"Das Havanna-Quartett". Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt er den Premio
Café de Gijón sowie zweimal den spanischen Premio Hammett.
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