Leseprobe:
In dieser allgemeinen Kopflosigkeit blitzte
in Tólea die verrückte Idee auf: ein ausgefallenes Ding zu drehen. Irgend etwas
jenseits aller Erwartungen. Etwas zu seiner eigenen Erheiterung. Denn er langweilte
sich, langweilte sich tödlich, der Professor Voinóv.
Eine Aktion, die niemand versteht, hat immer etwas Beängstigendes; in einer
Welt, in der alles, selbst das Chaos, der Zufall, das Beliebige, nach Programm
abläuft, muss man die Logik provozieren, um Verwirrung zu stiften. In all den
Schwachköpfen den Eindruck erwecken, dass man über geheime, für andere unerreichbare
Verbindungen verfüge. Unter der kahlen Platte des Pförtners Anatol Dominíc Váncea
Voinóv, genannt Tólea, kreisten beharrlich Gedanken, Gedanken, ein Perpetuum
mobile, ein Nonstopwirbel ... Wo doch gerade dieser Frühling ... o ja! ein wahres
Fieber, eine richtige Attacke, dieser Frühling.
Etwas Greifbares, Kräftiges, allen Reflexen dieser schläfrigen Mäuse sich Entziehendes.
"Die Brandstifter und die Bewohner des Wohnblocks!
Furchtbar, und Sie sagen gar nichts dazu?"
Das schien den Pförtner nun doch
aus der Ruhe zu bringen. Hatte ihn das Wort "Brandstifter" getroffen? Hatte es
ihn an seinen Vater erinnert?
Nun, der Sohn würde demonstrieren, dass - wenn
schon alle Spiele verloren waren, alle! - ein neues erfunden werden musste,
mochte es noch so bizarr, noch so vergeblich erscheinen. Sehr gut, sehr gut, wir
werden genau umgekehrt vorgehen, mon père! Umgekehrt! Nicht Selbstmord begehen,
mon père, nicht deinem Szenario folgen. Aber wir werden es studieren,
simulieren, konfrontieren, soviel zunächst - denn ohne ein so recht
lächerliches, unmögliches Vorhaben sind wir diesem Frühling nicht gewachsen,
nicht dieser Langeweile, dieser allseitig aufgegrätschten Langeweile.
Tólea
sprang auf, fand sich jäh im Mittelpunkt der Welt, allein auf der grenzenlosen,
menschenleeren Bühne. Nobody, personne, nikawo!
"Welches Datum haben wir
heute, Kücken?"
Schwer zu sagen, ob er sich an Kollegin Gina wandte oder an
sich selbst.
Egal. Er wusste, was er zu tun hatte. Einen kurzen Urlaub beantragen. Zur allgemeinen
Verblüffung. Ausgerechnet im entscheidenden Augenblick, wenn alle Drahtzieher
und Heckenschützen am Werk sind und jeder sein eigenes Fell zu retten trachtet,
den Kampfplatz räumen! Einen Aufenthalt in
den Bergen, auf einer Alm, um Kreuzworträtsel zu lösen, möglicherweise auch
den Code des Herrn Marcu, des père de la famille, zu knacken. Urlaub nehmen,
wenn keiner sonst es tun würde: Ein solcher Leichtsinn wäre der beste Beweis
für die höchst speziellen Beziehungen des Pförtners Dominíc Váncea Voinóvs,
für seine Immunität gegenüber kleinlichen Funktionärsneurosen, für seine Erhabenheit
über die Situation. Zunächst wird er, und zwar schon ab morgen, damit beginnen,
sämtliche Makel seiner Biographie, und zwar haarklein, allen bekanntzumachen:
der Bruder -ein fetter Bourgeois in
Argentinien; die Schwägerin - eine aristokratische Deutsche; der Vater -
ein kosmopolitischer Ausbeuter. Nicht zuletzt die Schwester, die sich einer
Sekte verschrieben hatte; nichts unerwähnt lassen.
"Ich habe dich was gefragt, Kücken, gefragt, Spätzlein! Mich nach dem
Datum erkundigt. Was haben wir heute, Kücken?"
März also. Wunderbar! Ende
März, im Tierkreis des launischen Widders. Wunderbar!
Tólea zupfte den Kragen
seines schwarzen Hemdes zurecht, glättete die Bügelfalten seiner schwarzen Hose.
"Kannst du nicht, was du willst, so wolle, was du kannst, sagt Terenz,
schon was von Terenz gehört, Donna Gina?"
Kollegin Gina lächelte, sie kannte Tóleas Marotten, fand sie, im Unterschied
zu den anderen, auch keineswegs arrogant, im Gegenteil, eher sympathisch. (...)
Aus "Der schwarze Briefumschlag" von Norman Manea.
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