Katrin Dorn: "Tangogeschichten"


Nach den ersten Geschichten dieses Sammelbandes denkt man: Na ja, Alltagsgeschichten aus dem deutsch-argentinischen Tango-Milieu. Scharf beobachtet zwar, mit schrägen Typen ausgestattet, doch letztlich unbedeutend. Aber dann gewinnen die Texte zunehmend an Tiefe durch die Ausweitung in geschichtliche, politische oder soziale Dimensionen hinein.

Wird die weltweite Tangoverehrung ohnehin schon, angesiedelt zwischen dem Ausdruck echter Gefühle, zweifelhafter Tradition und hemmungslosem Kommerz, in Frage gestellt, so verdichten sich diese Zweifel noch durch die Beschreibung des längst billig und verstaubt wirkenden Tango-Paradieses Buenos Aires. Der Lack ist ab, was die Nostalgie noch zu verstärken scheint.
"Hier ist die Nostalgie nicht nur ein Wort, sondern fast so was wie eine Identität ... Die Vergangenheit ist überall gegenwärtig ... Sie ist sogar stärker als die Gegenwart." (S. 117)

Geschäftstüchtige Einheimische wie sentimentale Touristen klammern sich an die meist verfälschten Formen einer vergangenen Epoche, obwohl sie in einem krassen Missverhältnis zur glanzlosen Gegenwart stehen. "Und weil währenddessen aus einem alten Kasten irgendein Geleier im Viervierteltakt erklingt, kann /die Touristin/ sich einreden, sie tanze Tango. Dank dieses schönen Glaubens lässt sie sich von dem Alten begrabschen und zum Vergnügen des Publikums vorführen wie ein Dreirad fahrendes Äffchen. Die Zuschauer rufen 'Bravo' und 'Eso es!' und klatschen am Ende verräterisch laut, wenn der Alte sich, mit dem Mädchen an der Hand, verbeugt. Die Kleine lacht mit und tut so, als wäre sie glücklich. Sie verwechselt Glück mit Erleichterung ..." (S. 59)

Die Autorin spart auch brisante Themen wie Verschleppungen während der Herrschaft der Militärjunta und das gespaltene Verhältnis der Deutsch-Argentinier zu Militär und Gewalt nicht aus. Ihre Geschichten sind unprätentiös und unaufdringlich, gelegentlich mit satirischen Einsprengseln.
"Der Mann, ein Vieh, dessen kleiner runder Kopf wie von ständiger Verstopfung gepeinigt schien, trug seinen krebsroten Bauch wie einen überdimensionierten Reichsapfel vor sich her. Seine Frau hatte einzig im Gesicht markante Formen, Nase und Mund waren fein gezeichnet, die Augen hübsch geschminkt. Der Rest waberte auf einem niedrigen Strandklappstuhl, weißes Zellulitis-Fleisch, das über die Armlehnen quoll wie ein Pudding für hundert Familien, eingeschweißt in eine Gummihaut von der Farbe eines Badeanzugs. Diesem weiblichen Wesen zu Füßen lag ein kleiner Junge, nackt, rosig und schmuddelig und kaum vom Sand zu unterscheiden." (S.92)

Sie erhebt nirgends den moralischen Zeigefinger, die geistigen und moralischen Positionen der Personen entwickeln sich im Dialog. Immer wieder schimmert die Liebe zu Argentinien, Buenos Aires, seinen ums Überleben kämpfenden Bewohnern, auch die Liebe zum Tango durch, eine Liebe, die um so echter ist, als sie mutig den Finger auf Wunden legt, die oft vor lauter Tangoseligkeit übersehen zu werden drohen.

Der Ton ist meist wehmütig: Ideal und Vollkommenheit sind als höchstes Ziel erkannt, doch die Wege dorthin beschwerlich, aber nicht unmöglich. Voraussetzung dafür sind Maß und Balance, die einzuhalten nur wenigen gegeben ist.
"Sie hatten sich wegen des 'punto cero' gestritten, dem unsichtbaren Punkt zwischen einem Mann und einer Frau, um den sich all ihre Bewegungen drehen, die Schnittstelle ihres Gleichgewichts." "Nur dieser Nullpunkt macht es euch möglich, immer wieder etwas Neues zu tanzen, erst dann wird es wirklich Tango ... " "und wo liegt dieser Punkt genau"? "Das musst du selbst herausfinden." (S. 148)

So wird der Tango zum Sinnbild vollendeter Harmonie zwischen Mann und Frau, die erreicht ist, wenn außer der Verschmelzung im Tanz Worte nicht mehr zwischen ihnen nötig sind. "Nur diese: 'Wie schön du bist.' "Weil du mich ansiehst.'" (S. 76)
Lediglich in der Geschichte "Schlechte Wellen" wird das Wort "Tango" nicht erwähnt. Das dicke Ehepaar am Strand (s.o.) verkörpert die absolute Disharmonie, die folgerichtig den Untergang nach sich zieht. "Inzwischen hatte sich ein fahrender Sänger zu uns gesellt. Wie die musikalischen Vorfahren Carlos Gardels beherrschte er noch die Kunst, das aktuelle Geschehen auf dem Lande aus dem Stegreif zu kommentieren. Melancholisch lauschten wir seinem Gesang über ein Menschenopfer zu Ehren des Meeres, während der rote Bauch des Mannes in den Wellen des Atlantiks verschwand." (S. 94)

So bewegen sich die Geschichten der ungewöhnlichen Anthologie zwischen den Polen Erfüllung und Untergang mit einem breitem Spektrum unterschiedlich gestörter und aus dem Gleichgewicht geratener Beziehungen dazwischen. Der Tango wird zum Maßstab der Beziehung und rechtfertigt überzeugend, ihm eine solche Geschichtensammlung zu widmen.
Dieser Erzählungsband, ein altes Trichter-Grammofon und ein paar Schellack-Tango-Platten mit 78 Umdrehungen, und ein verregneter Sonntag ist gerettet.

(Diethelm Kaminski; 10/2002)


Katrin Dorn: "Tangogeschichten"
dtv premium, 2002. 174 Seiten.
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Katrin Dorn wurde 1963 in Thüringen geboren und studierte in Leipzig Psychologie. Nach einer kurzen Karriere als Theaterpädagogin und Zeitschriftengründerin zog sie 1996 nach Berlin, um dort als freischaffende Autorin zu leben. Seit 2001 wohnt sie in Hamburg.

Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):

"Der Hunger der Kellnerin. Erzählung"

Marta, Anfang Dreißig, arbeitet in einer psychiatrischen Klinik. Sie glaubt nicht an die Chemie in Form von Beruhigungsspritzen, sie glaubt an die Kraft der Nähe. Das wird einem ihrer Patienten zum Verhängnis: er begeht Selbstmord - und Marta verliert ihre Anstellung.
Plötzlich fehlt ihren Tagen die Struktur, und Martas Einsamkeit wird übermächtig. Gern hätte sie jemanden an ihrer Seite, der länger bliebe als eine Nacht. Dann lernt sie Kai kennen, den Maler, der schon lange nicht mehr gemalt hat. Marta inspiriert ihn, doch obwohl beide einsam sind, finden sie keine Worte füreinander. Martas Suche geht weiter. Am Weihnachtsabend besucht sie ihre Eltern, die sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Nichts hat sich dort verändert: Marta wird nicht vermisst, Marta stört noch immer. Wieder zurück in ihrer Wohnung, weiß Marta, dass etwas geschehen muss: mir ihr, mit ihrem Leben ... (dtv)
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"Milonga"
Klara hat es satt, armen Leuten den Strom abstellen zu lassen, wenn die ihre Rechnung nicht zahlen. Also kündigt sie und fliegt spontan nach Argentinien, um Tango zu tanzen. Buenos Aires mit seinen sozialen Gegensätzen und seiner vibrierenden Atmosphäre überwältigt sie völlig. Auf der Suche nach Klarheit über ihre Gefühle und Wünsche schreibt sie eine Art E-Mail-Tagebuch an sich selbst.
Als sie Gustavo Ehrenstein kennen lernt, dessen Vater aus Deutschland flüchten musste, ist sie sicher, ihre große Liebe gefunden zu haben. Aber die Wirtschaftskrise in Argentinien und ein brutaler Raubüberfall beenden ihr kurzes Glück. Was sie nicht weiß: In Berlin gibt es jemanden, der sie kennt. Der Einzelgänger Bruno, der nach dem Tod seines Vaters von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und von einer ungeliebten Freundin zur anderen driftet, hat heimlich ihre E-Mails gelesen und wartet auf sie ...
Wie beim Tango geht es auch in diesem Roman um die richtige Balance zwischen Abstand und Nähe. (dtv)
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Ein weiteres Buch zum Thema:

Karin Betz (Hrsg.): "Tango fatal. Geschichten vom Tanz der Leidenschaft"
Geschichten vom Tango des Lebens
"Ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann"
, so versuchte der Komponist Enrique Santos Discépolo einst den Tango in Worte zu fassen. Schmerzlich und schön, geheimnisvoll und leidenschaftlich - Tango ist mehr als Musik, mehr als Bewegung. Er ist Metapher für alles Unergründliche: Liebe, Sehnsucht, Lebensgier, Erinnerung.
Die Frau, die uns verschmäht, die Seele der Argentinier, die Biografie eines Sängers oder ein seltsamer Ritualmord werden in diesen Erzählungen zu einem Spiegel des Tanzes.
Wir begegnen dem Tango als absurder Daseinsform, todbringender Obsession, Begleitmusik der argentinischen Einwanderer, Berliner Selbstfindung oder später Rache an der argentinischen Militärdiktatur. Und immer wieder erleben wir ihn in Gestalt seiner Sänger, Tänzer und Lokale.
Mit Texten von Henning Mankell, Julio Cortázar, M. A. Numminen, Jorge Luis Borges, Elsa Osorio u.v.A.
Karin Betz ist Sinologin und Übersetzerin. Bei einem Forschungsaufenthalt in Japan hat sie über die Musik von Astor Piazzolla den Tango entdeckt. 2001 folgte die erste Reise nach Buenos Aires. Seither ist sie als Tänzerin und DJ regelmäßig in der Welt der Milongas und der Literatur zu Gast. Sie lebt in Frankfurt am Main, wo sie die regelmäßige Milonga "Pan y Tango" betreibt und nebenbei Tangogedichte übersetzt. (Unionsverlag)
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