Dieter Schlesak: "Tunneleffekt"


Dialektische Spiralen der poetischen Erkenntnis


Dieter Schlesak, der 1934 in Schäßburg/Siebenbürgen geborene und seit 1969 abwechselnd in Deutschland und Italien lebende deutschsprachige Lyriker, Prosaautor und Essayist, definierte in einem Interview seine Literatur als einen Versuch, Brüche auf einen Nenner zu bringen: "... es geht um Brüche, für die Nenner gesucht werden mussten: Nazizeit, Krieg, Kommunismus, Aussiedlung..." (Stefan Sienerth: Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa).  

Schlesaks Gedichtband "Landsehn", erschienen 1997, zeichnete sich aus durch eine ununterbrochene Bewegung durch Zeit und Raum, durch einen dynamischen Wechsel auf der Ebene der Makrogeografie und der Poetologie, mit der stringenten Konsequenz der Erschaffung der multifunktionalen Metapher   L a n d   als Territorium, Insel, Festland – oder in Abwandlung zur hölderlinschen Metapher als Port und im polaren Gegensatz zum bewegten Wasser – letztendlich als Endstation der Geborgenheit für den Wechsler zwischen Kontinenten, Ländern und Kulturen. Ein Zentrum auf das hin jegliche Bewegung gravitiert und in dem die vom Dichter angesprochenen Brüche vereint werden können.  

Im jüngst erschienenen Band "Tunneleffekt" – gegliedert in sechs Teile/Zyklen: "Die Wand der Augen", "Exile", "Poesia Erotica", "Licht Tunnel", "Licht, die schnelle Grenze", "Parallele Universen" und einem Essay, "Fragmente zu einer posthumen Poetik", - konserviert der Dichter das Perpetuum mobile des Wechsels und das Sehen, das instinktive Erblicken und Näherbringen, das bewusste Analysieren, Auflösen und Wiederherstellen von Bildern, das die lyrische Beobachtung ausmacht, vollzieht jedoch eine neue Spiralenschlaufe der lyrischen Analyse und Erkenntnis, indem er nicht mehr das Land sondern das Ich in seinen unterschiedlichen Hypostasen zum metaphorischen Zentrum und lyrischen Objekt macht.

"Tunneleffekt" ist ein großartiger Dialog des Dichters mit dem Universum in seinen dimensionalen Extremformen, ein "Streit des Weisen" mit der überdimensionalen und unsichtbaren Zelle des Universums und den gleichwohl unsichtbaren Atomen der Materie. Die Poesie ist individuelles ich-bezogenes Logos oder versuchtes Kommunikationsmittel zwischen Ich und Du vor einem landschaftlichen Hintergrund der Horizonte, Vögel, Zikaden, Wasserläufe, Palmen, Meere, Gärten.

Die Poesie ist systematisches Pulsieren des Ich, bei dem die vielfachen organischen Funktionen des menschlichen Körpers transponiert werden auf die Ebene des poetischen Vorgangs; Sehen, Aufnehmen, Heranzoomen oder Wegzoomen, Analysieren, synthetisches Integrieren bewirken das Erschaffen neuer eigener Universen, und das alles geschieht über das wesentlichste Organ des Lyrikers Schlesak: dem Auge als Membrane äußerster Sensibilität und Komplexität.

Zwar eine Poesie der großen Themen, jedoch nicht der großen Dimensionen oder Sprachgesten. Dimensionen, die den menschlichen Körper übertreffen, werden auf wesentliche Bestandteile hin destilliert: der Garten wird zum Grashalm, der Kosmos zum Himmelszelt, die Zeit zum Augenblick, wobei Schlesak noch einen Schritt weitergeht und selbst diese symbolischen Elemente wiederholt auflöst in Sinnkomponenten: "Himmels Zelt", "Gras Halm", "Augen Blick". Zeitlich-räumlich-inhaltliche Konzentration von Universen auf monadenartige Bilder: ”Alles was je sein wird ist immer/schon da.”  

Es ist dies ein aktueller Humanismus, eine Ich- und Menschbezogenheit nicht im Sinn des humanen Vorbildcharakters und Bildungsideals, sondern als letzte mögliche Alternative im sozialen und historischen Trubel unserer Zeit. Das Maß aller Dinge ist nicht mehr der Mensch. Das Maß aller Dinge sind die Dinge selbst und wir, Menschen/Dichter, müssen sie in unsere Innenräume integrieren, nicht um sie in rilkescher Manier zu retten, sondern um eine Chance zu haben, uns selbst zu retten: "...es bleiben ja nur die Wörter stehen die nicht mehr weitermachen wenn ich sie weglege..."

Und in einer weiteren Umkehrung rilkescher Prinzipien erfolgt der Wechsel zwischen Ding/Kreatur und Dichter/Mensch nicht allein indem die Dinge verinnerlicht werden ("Siehe: innerer Mann dein inneres Mädchen ..."), sondern durch einen weiteren Schritt, der Neuansiedlung des Dichters/Menschen in das Innerste der Kreatur: "alles was mich lebt ... macht die Osmose möglich".

Bezeichnend dafür auch:

”Und hör die Stimme nur im Wort!  
die jetzt beginnt: du bist bei uns  
komm sei uns näher  
als dir bewußt  

wir sind in jedem Gras Halm  
den du siehst  
er ist nicht mehr  
es ist dein Blick der ihn erschafft  
im Finger der bewegt  
und uns bezeichnet  

Wir sind so nah daß du  
uns gar nicht sehen kannst  
wir sind in dir  
und du in uns geborgen."  

Durch Beobachtung und Erfahrung der Welt, die dem lyrischen Prozess vorausgehen, wird der Dichter auf die wesentlichen Themen gelenkt, die er im Vers umsetzt: Verhältnis zwischen Leben und Leben, Leben und Tod:

"Gebrochenes Auge"

"Mikroskopisch singt vor dir  
ein Lid, das un-  
gesehen sieht.  

Es starrt die Landschaft  
hier gebrochen an und sieht  
was Tote leben."

Oder:

"Nichts ist verloren  
was in uns blieb  
und all die Jahre stehen still.  
Die Zeit dreht sich um und versucht einen Hieb.  
Doch der Tod wird ein Kinderspiel."

Oder:

"Im momenthaft gebauten Kehlkopf  
steigen sie herab wie früher die Engel  
berühren unsere Iris  
nicht nur Synapsen, Neuronen  

Längst ist der erste Schock vorbei  
und wir sind gute Nachbarn der Fernen  
Landschaften wie von anderen Sternen  
Kopie an uns  
Jenseits des Todes  
Leben wir auf!"

 

Die Spirale dieses Gedichtbandes schließt sich wie auch im Fall von "Landsehn" , wo die einzig mögliche Konsequenz eine intensive Hinwendung zum Irdischen war ("Die Erde, ein wie/unsäglich Tatsächliches" und in Abwandlung des Rilkeschen "Hiersein ist herrlich" der Kernsatz: "ein Ende hat es/was nicht ist/hier."), mit dem intensiven Hinweis auf das Ich in seiner gegenwärtigen irdischen Bezogenheit:

"Der Augenblick bricht auf"

Hinweg hinweg stehn  
Still Gedanken  
Sie sieben diese Welt.  

Und bin in dir und werde jetzt  
im Vers so hell  
steh still und atme noch  

Ein Augen Blick war ganz bei ihnen  
kehrt jetzt zurück ich staune wieder  
dass ich noch bin."

In "Ging mein Leben ..." bündelt Schlesak ein Zeit-Raum-Kontinuum seiner lyrischen und biologischen Existenz:  

"Ging meinem Leben  
Ein Vers voraus  
Wie mein Vater  
Als ich ein Kind war  

In der Hauptstraße der Stadt  
Am kleinen Park  

Rast  

Ich weiß, er ist wahrer  
Als mein Leben sein kann  
Das hinter mir hergeht  
Mich hinabzieht wie Blei  

Ich weiß, das Urteil ist schon längst  
Gesprochen  
Und ich warte nun draußen/Auf seine  
Vollstreckung  

Doch immer noch geht  
Ein Vers voraus  
ein Blatt
Auf dem stand  
Daß ich es sei ..."

Dichtung ist Bewegung, Vollendung einer Bahn, Ankunft und Anlauf, mit anderen Worten: "Brüche, für die ein Nenner gesucht werden muss ...". Dichtung ist der Versuch, Brüche auch in der Sprache zu überwinden, was Schlesak mit meisterhafter Bravour gelingt, z. B. durch vage Andeutungen von delikaten Reimansätzen oder durch eine Syntax des ununterbrochenen Wortflusses kombiniert mit dem Verzicht auf eine hemmende Großschreibung, so dass die Dynamik der Texte beschleunigt wird: "hol die bilder aus dem auge,/ nicht aus dem blatt/ ein kopf los elend// der gedanke schießt wie der weg/ in die ferne/ aber in der ferne/ bin ich weg..."

Schlesak lebt sein lyrisches Leben "in wachsenden Ringen"; der bisher letzte ist am weitesten gespannt und hinterlässt die tiefste Spur. Spuren, die wehtun. "... als wärst du ohne Haut ...", Spuren, die sich einprägen in die Zellwände der Seele:  

"Beim Erwachen  

Hörst du sie  
rauschen um dich  

wenn die Zellwand der Seele  
fällt?  

Übergib dich jenen  
die die Uhren  
schmelzen  
zu denkhellem Licht:  
wie die Unruhe  
die früh  
in dich fiel."


Eine posthume Poetik?

Ein Gedankenspiel mit theoretischen und praktischen Varianten des Prinzips Literatur, bei dem die Kraftlinien und Wirkungsfelder der vorangegangenen Gedichte noch einmal aufgeblendet werden. Ein virtuoser Wechsel der Betrachtungsebenen, ein Ab- und Auftauchen in Räume, die vom geteilten Bewusstsein zeitlich strukturiert werden, schließlich der Versuch anhand dieser das Wesen der Lyrik zu verbalisieren: Lyrik als Sog von historischen und gesellschaftlichen Grenzsituationen, Sog der unzähligen sanften Kinderaugen, der weit aufgerissenen Frauenaugen, die aus den Augenhöhlen herauszuspringen drohen, der verzweifelten Männeraugen, die spätestens seit Hiroshima oder Auschwitz Lyrik aus uns "herausziehen", Silbe für Silbe, Wort für Wort und Vers für Vers.

Schlesaks Überlegungen konzentrieren sich auch im Essay "Fragmente zu einer posthumen Poetik" auf einige der Hauptthemen seiner Gedichte: Leben und Tod, Zeit, das Ich, die in einem systemischen Zusammenhang gesehen werden. Daher klingen einige Kernaussagen nicht wie Rezepte, sondern sie stellen eher Fluchtpunkte der Analyse dar. "Schreiben geschieht an dieser Grenze des Todesbewusstseins in einer merkwürdigen Geborgenheit und Absence, wo etwas Wesentliches, Intimes festgehalten werden kann!".
"Das Gedicht bringt das Unzertrennte, Unzerschnittene wieder; das Gedicht ist nicht Zeitverlauf, sondern die aufblitzende Sequenz.".
"Schreiben ist zwiespältig, es ist versuchte Todesverdrängung; da aber Tod und Leben zusammengehören, ist es zugleich Lebensaufschub und Totengespräch.".

Die Auseinandersetzung mit der Zeit erhält hier philosophische Dimensionen.  
Der lyrikimmanente Zwiespalt: "... dass alles noch da ist und schon längst vergangen – ist ein Aufbrechen unserer Logik, von der auch die Sprache bestimmt ist!?".
Man könnte sicherlich Alternativen dazu entwickeln, so etwa dass es eher so ist, dass Sprache Bewusstsein und folgerichtig auch Logik generiert hat.

Sollte der Mensch/Dichter eine neue Sprache der Lyrik kreieren, bei der alle Verben im Infinitiv stehen; sollten Vorgänge und Gefühle bloß benannt werden ohne zeitliche und personenabhängige Einschränkungen, wo doch G. Eich sagt: "Dass der Augenblick, wo ich dies sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd.".

Und sollte infolge der resignierten Bestandsaufnahme Eichs: "Ich bin nicht fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit hinzunehmen" ein neuer Wirklichkeitsbegriff geschaffen werden, der der Lyrik im Zeitalter der Virtualität entspricht? Angesichts dieser "neuen Wirklichkeit" werden tradierte Begriffe aufgegeben, wie etwa der Begriff des Autors: "Der Autor, das Ich oder die 'Iche' werden aufgelöst ...". Vielmehr: die "Iche" changieren von einer Subjekt- zu einer Objektfunktion, werden zum Austragungsort des lyrischen Geschehens.

Schlesak sagt über das Gedicht: "Die wichtigste Perspektive des Gedichts ist: die Zeit aus dem Blickwinkel von Liebe und Tod zu 'fühlen'...". Damit bleibt er einem Credo treu, das er auch in seinen Gedichten umsetzt, nämlich dass das Gedicht auch im Zeitalter der elektronischen Produktion und Reproduktion - oder gerade in dieser Zeit - noch immer etwas Sinnliches ist.  

(Georg Quante; 2002)


Dieter Schlesak: "Tunneleffekt"
Gedichte, mit einem Essay "Fragmente zu einer posthumen Poetik"
Edition Galrev, 2000. 248 Seiten.  
ISBN 3-933149-22-3; Bandnummer: 57.  
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