Wilhelm Reich: "Massenpsychologie des Faschismus"

Der Weg des Faschismus ist der Weg des Maschinellen, Toten,
Erstarrten, Hoffnungslosen. Der Weg des Lebendigen ist grundsätzlich
anders, schwieriger, gefährlicher, ehrlicher und hoffnungsvoll.
(Wilhelm Reich)


"Der Mensch wird frei geboren, und dennoch liegt er in Ketten. Man wähnt sich Herr der anderen und ist doch oft mehr Sklave als sie. Wie kam es zu diesen Veränderungen? Ich weiß es nicht." Dieses bekannte und einstmals von Rousseau ausformulierte Zitat über die wahrnehmbare Unfreiheit des Menschen, könnte dem leidenschaftlich geführten Forscherleben Wilhelm Reichs bedenkenlos zum Motto gesetzt werden, hätte dieser nicht von sich gemeint, die Antwort auf die Frage Rousseaus nach der Ursache von Unfreiheit sehr wohl zu wissen. Sein Leben lang suchte Reich nach Antworten auf die Frage der Herkunft von Unfreiheit und feilte an Visionen über realistische Freiheitsutopien, wie etwa der theoretischen Konzeption sozialer Selbstregulierung im Modell der Arbeitsdemokratie, womit Reich auch noch zum Theoretiker des Anarchismus avancierte - obwohl er aus pessimistischer Einsicht in die Freiheitsunfähigkeit des gegenwärtigen Menschen ganz gewiss kein Anarchist im landläufigen Sinne war.
Wilhelm Reich wurde am 24. März 1897 in Dobzau (Galizien; damals Österreich-Ungarn) als Sohn assimilierter Juden geboren, die wegen ihrer entschiedenen Hinwendung zum Deutschtum ihrem Sohn den Kontakt mit ukrainischen Bauernkindern der umliegenden Gehöfte wie genauso mit Kindern aus traditionell-jüdischem Milieu streng untersagten. Der Knabe Wilhelm hatte folglich nur seinen jüngeren Bruder Robert zum Spielkameraden und wuchs in relativer Isolation von seinen Alterskameraden auf. Das Fehlen religiöser Erziehung durch die Eltern, die sich zwar vom
Judentum gelöst, deswegen aber nicht zum Christentum konvertiert waren, war bezeichnend für die ersten unbeschwerten Lebensjahre des kleinen Wilhelm. Seinen ersten Koitus vollzog der frühreife Jüngling mit einem neckischen Stubenmädchen, als er gerade einmal 11,5 Jahre alt war, wie er überhaupt unter Verhältnissen unverschämt genossener Sexualität aufwuchs, obgleich diese Zwanglosigkeit im Umgang mit der Leibeslust nicht unbedingt gleich mit einer emotionalen Überwindung sozial vermittelter Sexualmoral gleichzusetzen war, wofür der Selbstmord seiner beim Fremdgehen vom Vater ertappten Mutter (Wilhelm war gerade erst zwölf Jahre alt) ein untrügliches Indiz ist. Der Tod des Vaters, als Wilhelm 17 Jahre alt war, markiert wohl einen weiteren schmerzlichen Einschnitt in sein junges Leben. Möglicherweise gerade wegen seiner von Gleichaltrigen isolierten Sozialisation und damit dem Fehlen des Zwangs zur sozialen Anpassung an für seine Lande generationstypische Verhaltensmuster, entfaltete er sich zu einer starken und außerordentlich lebenstüchtigen Persönlichkeit, mit einem auf naturwissenschaftliches Erkennen ausgerichteten Forschergeist, der schon den jugendlichen Schüler charakterisiert haben soll. Den ersten Weltkrieg erlebte Wilhelm Reich (standesgemäß) als Leutnant an der italienischen Front. Nach Ende des großen Schlachtens von 1914 - 1918 war dem jungen Mann großagrarischer Abstammung eine Rückkehr auf die Familiengüter nach Galizien verunmöglicht, da diese nun Teil der kommunistischen Sowjetunion waren, und so übersiedelte Reich nach Wien, wo er in der Folge unter ärmlichen äußeren Umständen Medizin studieren sollte. Zu jener Zeit begann auch seine intensive Befassung mit Philosophie, namentlich mit dem Werk von Friedrich Nietzsche, dessen "Zarathustra" zeitlebens ein Lieblingsbuch bleiben sollte, Henri Bergson, Henrik Ibsen und Friedrich Albert Lange, dessen "Geschichte des Materialismus" Reich außerordentlich schätzte. Besonders prägend war jedoch die Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dem "Lustlümmel aus der Berggasse" wie ihn übelmeinende Zeitgenossen nannten, dessen Persönlichkeit und wissenschaftlicher wie praktischer Erkenntnisreichtum den Studenten der Medizinwissenschaften faszinierte. Sein, seines jugendlichen Alters und seines Studentenstatus wegen, sensationeller Beitritt zur Wiener Psychoanalytischen Vereinigung im Oktober 1920 war nur die logische Konsequenz seiner Verehrung für Freud, über den er notierte: "... Freud war anders, vor allem einfach im Auftreten. Die anderen spielten im Gehaben irgendeine Rolle, den Professor, den großen Menschenkenner, den distinguierten Wissenschafter. Freud sprach mit mir wie ein ganz gewöhnlicher Mensch ... Ich war ängstlich gekommen und ging froh und glücklich weg." So euphorisch-freundschaftlich sollte es jedoch zwischen den beiden Seelenforschern nicht bleiben und dass Freud der Geruch eines "Kulturbolschewisten" völlig zu Unrecht anhaftete, musste Reich schon bald zu seinem Leidwesen erkennen, denn, während Reich auf die Befreiung von Sexualität abzielte, ging es Freud um die Anpassung von Sexualität an das gesellschaftliche Normengefüge und in letzter Konsequenz um Unterdrückung von Sexualität, was den Charakter verfeinere. Um keine Irrtümer einreißen zu lassen ist in diesem Zusammenhang klarzustellen, dass Freud mit "sexuell" alles Luststreben bezeichnete und man ganz allgemein von einem Lustprinzip sprechen kann, als Kontrapunkt zum, mit ungehemmter Lustorientierung nicht zu vereinbarenden, Realitätsprinzip, dem umgekehrt das Streben nach Lust subversiv ist. Wie auch immer, jedenfalls häuften sich sachliche Auffassungsunterschiede zwischen Reich und Freud, wie auch Intrigen und persönliche Animositäten von Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gegen den ihres Erachtens allzu häretischen Eiferer Reich eine zunehmend vergiftete Atmosphäre zur Folge hatten, was schließlich 1934 zum Ausschluss Reichs aus der Psychoanalytischen Vereinigung führen sollte. Eine Ausschlusserfahrung, die der engagierte Wissenschafter übrigens auch mit den etablierten Linksparteien Österreichs und Deutschlands machte, welche für die als anstößig empfundenen Sozial- bzw. Sexualprojekte des zunehmend zum Sexualogen gewandelten Mediziners nur wenig bis gar kein Verständnis aufbrachten. Dass er sich den Linksparteien überhaupt angenähert hatte, war auf den Einfluss marxistischer Soziologie und auf seine klinischen Beobachtungen am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium für Mittellose zurückzuführen, vermittels dieser Wissensbestände und Erfahrungen von sozialem Elend sich Reich eine politische Sicht der Dinge angewöhnt hatte, die ihn erkennen ließ, dass die Gegenwartsgesellschaften nicht allein der medizinischen Heilung sondern vor allem auch der politischen Heilung bedürften. Reich begriff in etwa, dass es zwecklos sei beispielsweise einer an Neurosen leidenden Arbeiterin mit psychoanalytischen Gesprächen über ihre ferne Kindheit helfen zu wollen, nachdem er gesehen hatte, unter welch trostlosen beruflichen und privaten Verhältnissen sie ihr Leben führen musste. Im Unterschied zu Freud sah er die Hauptursache für viele Neurosen nicht in frühkindlichen Traumatisierungen, sondern in den aktuellen krankmachenden Lebensverhältnissen, welche die Menschen verstörten und Aktualneurosen auslösten. Sohin schien ihm jedoch nicht primär der Mediziner, sondern zuallererst der Politiker gefordert. Eine Konsequenz aus dieser Einsicht war die Gründung des Deutschen Reichsverbands für Proletarische Sexualpolitik (Sex-Pol) im Jahre 1931, als Unterorganisation der Kommunistischen Partei Deutschlands, der nach zunehmender sittlicher Entrüstung von Parteimitgliedern schon 1932 durch die KPD-Führung liquidiert wurde. Wen wundert dann noch, dass sich Reich in späteren Jahren anarchistischen Standpunkten annäherte und der üblicherweise fetischisierten Parteipolitik sein anarchisches Konzept der Antipolitik entgegensetzte, welche Politik als natürliche rationale Lebensäußerung des Menschen versteht, die in der Bedürfnisstruktur des liebenden Menschen wurzelt und nicht mit Machtinteressen von Parteien und Lobbys verbunden ist. Wiederholte Erfahrungen mit dem bornierten Biedersinn seiner Zeitgenossen veranlassten Reich im Jahre 1946 schließlich zur Abfassung eines zornigen Traktats, einer Rede an den sprichwörtlichen "kleinen Mann", der eine bitterliche Abrechnung mit der romantischen Illusion über den friedfertigen Charakter des einfachen Menschen darstellt und welcher unter dem appelativen Titel "Hör zu, kleiner Mann!" weltweite Verbreitung fand, wie selbst noch in unseren Tagen in renommierten Theatern, wie dem Wiener Burgtheater, immer wieder zur Lesung gelangt. Nebst dem Traktat revidierte Reich seine erstmals bereits im September 1933 erschienene "Massenpsychologie des Faschismus", welche als fundierte Studie des faschistoiden Charakters noch Weltruhm erlangen sollte. Es mutet sich depressiv an, wenn Reich in seiner Diagnose der Menschenmassen, diesen jede Fähigkeit zur friedlichen Gestaltung ihres Zusammenlebens abspricht, da sie infolge jahrtausendealter sozialer und erzieherischer Verunstaltungen biologisch versteift und folglich freiheitsunfähig geworden seien. Als chronisches Ergebnis des Aufeinanderprallens von Triebansprüchen und versagender Außenwelt sei eine charakterliche Panzerung zu konstatieren, welche sich im zwischenmenschlichen Bereich als Lieblosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft gegenüber der Mitwelt manifestiere. Natürliche schöpferische Impulse, die im biologischen Innersten eines jeden Menschen quellen, könnten in gepanzerten Organismen nicht mehr zur Geltung gelangen und pervertierten stattdessen in Hass gegen das Leben. Der solcherweise verkümmerte menschliche Organismus verkörpere den faschistoiden Charakter, welcher zwar noch im mechanischen Sinne funktioniere (im Einzelfall sogar vorzüglich funktioniere), darin jedoch mehr einer Maschine, denn einem Lebewesen gleiche. Typisch für den faschistoiden Charakter sei seine orgastische Impotenz, was sein Unvermögen zur bioenergetischen Entladung der vegetativen Tiefenperson insbesondere im orgastischen Erleben meint. Insgesamt müsse die beschämende Wahrheit hingenommen werden, dass es sich beim Faschismus eben nicht primär um die Herrschaft reaktionärer Cliquen handle, sondern vielmehr um den politisch organisierten Ausdruck der durchschnittlichen menschlichen Charakterstruktur.
Die von Reich diagnostizierte organische Verpanzerung der Gattung Mensch ist geeignet in Hinblick auf die Zukunft der Menschheit Hoffnungslosigkeit zu verbreiten, da sie sich als tiefgehende Verunstaltung menschlicher Lebendigkeit gegenüber einem jeden Versuch vernunftgemäßer Aufklärung widerständig zeigen muss und somit eine jede Höherentwicklung des Gattungscharakters verunmöglichen müsse. Und eben gerade deswegen legte Reich besonderen Wert auf die Umsetzung von Methoden der antiautoritären Erziehung, wie sie in etwa sein persönlicher Freund A. S. Neill mit seinem pädagogischen Experiment der Schule in Summerhill praktizierte. Den Kindern der Zukunft sollte die naturgegebene Fähigkeit zur selbstregulativen Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse nicht durch autoritäre Erziehungsmethoden zerstört werden, sodass sie eines Tages jene Gesellschaftsutopien verwirklichen würden können, von denen ihre biologisch versteiften Elterngenerationen zu Lebzeiten immer nur träumen durften.

Auf den ersten Blick handelt es sich bei der "Massenpsychologie des Faschismus" um eine detailverliebte, wissenschaftlich fundierte Analyse des faschistoiden Charakters vorgeblich hochzivilisierter Gegenwartsgesellschaften. Bei fortschreitender Lektüre trübt sich allerdings die auf den ersten Seiten aufkommende Euphorie, wenn der Autor sich in wüsten Spekulationen über faschistoide Symbolismen (Hakenkreuz) ergeht und seine Orgasmustheorie absolut für die Erklärung von Faschismus als bestimmendes charakterliches Wesensmerkmal des Massenmenschen setzt. Wenig überzeugend ist auch des Autors im Grunde antiklerikale Deutung von Mystik als unbewusste Orgasmussehnsucht (im wesentlichen Sexualabwehr, die dem Lebensglück entgegenstehe), obgleich die
Mythen des Alten und Neuen Testaments als große Leistungen menschlichen Geistes anerkannt werden, wie auch die Verehrung der Jesuslegende grundsätzlich begrüßt wird. Abweichend von den gängigen politikwissenschaftlichen Auffassungen von Faschismus, die Faschismus regelmäßig zu rechtsgerichteter Cliquenherrschaft mit Massenmobilisierung in Bezug setzen, bezieht sich der Faschismusbegriff von Reich insgesamt auf den massenpsychologisch vermittelten autoritären Gesellschaftscharakter, gleich ob politisch links oder rechts gerichtet, zumal auch der Sowjetstalinismus, wie autoritäre Bestrebungen innerhalb der sozialdemokratischen Sammelparteien von ihm als faschistoid gewertet werden, dessen monströser Ausdruck jeweils die Person des autokratischen Führers und sein Gefolge ist. Kritisch könnte man zu dieser inflationären Ausweitung des Faschismusbegriffes anmerken, dass Faschismus somit als historische Notwendigkeit und nicht als politische Verfehlung zu erachten wäre, als quasi Naturzustand einer an sich selbst gescheiterten Gattung Mensch und nicht primär als politisches Versagen mündiger Bürger. Reichs Erkenntnispotenzial fasziniert, seine daraus gezogenen geschichtsphilosophischen Schlüsse hingegen deprimieren vorerst und muten menschenverachtend an. Ihm ist in diesem Zusammenhang jedoch zugute zu halten, dass er selbst nie in Resignation verharrte, sondern sein Lebtag lang ein nimmermüder Kämpfer gegen die Resignation war und immer wieder betonte, dass die in den Menschenmassen erscheinende Angst vor Verantwortung und vor Freiheit nicht - wie der Faschist typisch glaubt - "im Wesen des Menschen" begründet sei, sondern geschichtlich geworden und daher prinzipiell veränderbar ist (siehe dazu das Kapitel über "Biologische Versteifung, Freiheitsunfähigkeit und maschinell autoritäre Lebensauffassung). Beeindruckend ist der teils aufblitzende Realismus in Verbindung mit Erkenntnissen zur sexualökonomisch organisierten Natur des Menschentiers, welches die Tendenz zur Verrohung des Liebeslebens beim heutigen Menschen mit Abscheu vor dem Geschlechtsverkehr erfülle, was Bestrebungen antisexueller Zwangsmoral ("das Sexuelle ist amoralisch") mit scheinbarer Selbstevidenz rechtfertige. Im Stil kulturkämpferischer Phraseologie rechnet Reich mit der autoritären Kleinfamilie als Agent autoritärer Herrschaft ab, zu deren Stütze die Ideologie vom "Segen des Kinderreichtums" gehöre; "dies nicht nur im Interesse des kriegerischen Imperialismus, sondern ganz wesentlich mit der Absicht, die Sexualfunktion der Frau gegenüber ihrer Gebärfunktion in den Schatten zu stellen." Man ersieht schon aus dieser kurzen Textstelle, dass Reich in Wortwahl und gedanklichem Einfall von kulturrevolutionärem Eifer getrieben war, was mutiges wie tabuloses doch zuweilen auch haltloses Denken zur Folge hatte, welches zum Teil absonderliche Blüten trieb, wie folgend: "Kleinkinder glauben nicht an Gott. Der Gottesglaube verankert sich in ihnen regelmäßig erst dann, wenn sie es lernen müssen, ihre sexuellen Erregungen anlässlich der Onanie zu unterdrücken. Dadurch erwerben sie Angst vor der Lust. Jetzt fangen sie an, an Gott wirklich zu glauben, vor ihm Angst zu entwickeln und ihn als allwissend und allsehend nicht nur zu fürchten, sondern gleichzeitig als Schutz gegen die eigene Sexualerregung anzurufen." - zitiert aus dem Kapitel VII. betitelt: "Die Sexualökonomie im Kampf gegen die Mystik". Reichs Neigung zum sexuellen Reduktionismus schadet seinem Denken und versucht alle Phänomene psychosozialen Lebens auf Sexualökonomie einzuschränken. Ganz noch Freud-Schüler, ist und bleibt sein Denken im Sexualismus befangen und er verantwortet kurzschlüssig die Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes für Untertanengeist, Denkhemmungen und Kritikunfähigkeit (Genitaler und intellektueller Primat gehören zusammen), in letzter Konsequenz für Faschismus, ungeachtet der Tatsache, dass diese seine These "antisexueller Hemmung" durch die Wirklichkeit mittels zahlloser Individualbeispiele widerlegt wird, wofür es eigentlich keiner besonders scharfen Beobachtungsgabe bedürfte. Denn zweifellos gibt es zahllose reaktionär gesinnte oder einfach nur neurotisch gestörte Menschen mit durchaus erfülltem Sexualleben, wie es auch eine Unmenge von emanzipierten Menschen ohne erfülltes Sexualleben gibt. Völlig unhaltbar scheint zuletzt seine Beschränkung von Sexualität auf Genitalität zwischen Mann und Frau, hingegen Homosexualität, Pornographie, Bordellwesen, Zügellosigkeit, allesamt Merkmale einer krankhaften patriarchalen Sexualordnung sind. Die Vielfalt von Individualisierungserscheinungen deutet Reich nicht als Zugewinn lebensästhetischer Souveränität für den exzentrischen Einzelnen, sondern als epidemisches Umsichgreifen von Sexualneurosen, und stellt diesem die Gleichförmigkeit des genitalen Idealtypus gegenüber, über den er ausführt: "Der Gesunde hat praktisch keine Moral mehr in sich, aber auch keine Impulse, die eine moralische Hemmung erfordern würden." Man fühlt sich unwillkürlich an Nietzsches Figur des Übermenschen erinnert, welcher ebenso Jenseits von Gut und Böse aus sich selbst heraus existiert. Die Verbindung von Lebensversagung mit politischem Lebenshass, wie sie Wilhelm Reich ausführt, ist sicherlich eine faszinierende Perspektive aus welcher der Leser nicht nur für sein politisches Verständnis hinzugewinnen mag, sondern die ihm auch Alltagskonflikte zwischenmenschlicher Art erhellen hilft. Reflexionen über den unpolitischen Menschen oder über die individuelle Entwurzelung des religiösen Gefühls sind auch uns Heutigen nur allzu gegenwärtig, wie auch das Verhältnis von Masse und Staat noch nicht an Aktualität eingebüßt hat. Seine - dem modernen Ökologiegedanken verbundenen - Ausführungen über die maschinell autoritäre Lebensauffassung, welches das Menschentier - "DER MENSCH IST IM GRUNDE EIN TIER" betont Reich in großen Lettern - dazu bringt, maschinell zu entarten, hinterlässt beim Leser Betroffenheit, da dieser ja immerhin selbst Insasse einer sich rasant entwickelnden Maschinenzivilisation ist und solcherart in ein Leben nach biologischen Gesetzen und in ein Leben nach maschinellen Ideen gespalten ist. Und nicht zuletzt sollte die kulturhistorische Bedeutung Wilhelm Reichs Beachtung finden, dessen tragischer Tod (Reich stirbt 1957 in einem US-Gefängnis) und revolutionäre Denkweisen, ihn in der Wahrnehmung von Revoluzzern der 68´er-Generation als Heldenfigur prädestinierte. Zehn Jahre nach seinem Tod und der behördlich angeordneten Vernichtung eines Teils seiner Schriften wurde Reich somit zur Kultfigur einer aufmüpfigen und nach sexueller Befreiung verlangenden akademischen Jugend, deren unkritischer Geist sich allerdings nicht eingehend genug mit Reichs Denken befasste und deswegen viel zu seiner modischen Bagatellisierung beitrug. Weniger banal scheinen postmoderne Reminiszenzen auf Reichs Theorie vom gepanzerten Charakter wie man sie etwa in den "The Wall" von Pink Floyd (übrigens ein großartiger Film zu großartiger Musik) bewundern darf. Reich mag ein extremer Denker gewesen sein und manche seiner Ideen und Gedanken mögen beim Leser unverständiges Kopfschütteln auslösen, doch ist es die Fülle unkonventioneller Gedanken, die den Horizont menschlichen Erkenntnisvermögens ausweiten helfen und solcherart die Lektüre des Buches für den Leser zum spannenden Leseerlebnis werden lässt. Und mögen auch manche seiner Gedanken überheblich, verletzend und formelhaft klingen, so ist auch nicht in Abrede zu stellen, dass vieles, was er meint, einfach seine Richtigkeit hat und dem Leser einen wertvollen Erkenntnisgewinn bringt. Der Schreibstil von Wilhelm Reich ist sehr einfach gehalten, hingegen seine Terminologie berüchtigt eigenwillig und selbstschöpferisch ist, doch gewöhnt man sich rasch daran und vergnügt sich damit. Psychologische Literatur kann an sich schon recht interessant sein. "Die Massenpsychologie des Faschismus" ist darüber hinaus ein sehr engagiertes Schriftstück mit der Vision einer sozialistischen Utopia, die ohne Repression auskommt, weil sie den Menschen in seiner natürlichen Bedürftigkeit erachtet und nicht ändern, nur befreien will, was naturgegeben ist.

(Harald S.; April/2002)


Wilhelm Reich: "Die Massenpsychologie des Faschismus"
Taschenbuch, 352 Seiten.
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1986.
ISBN 3-462-01794-2.
ca. EUR 8,60.
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