Nicholas J. Conard, Stefanie Kölbl, Wolfgang Schürle (Hrsg.):
"Vom Neandertaler zum Homo Sapiens"


Umfassende Betrachtung einer der faszinierendsten Epochen der Menschwerdung aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen

Mit "Vom Neandertaler zum modernen Menschen" hat der Jan Thorbecke Verlag ein facettenreiches und anspruchsvolles populärwissenschaftliches Werk über den für den Prozess der Menschwerdung höchst bedeutsamen Übergang von der mittleren zur neueren Altsteinzeit vorgelegt, das in dieser Komplexität, Ausstattung und Aktualität derzeit wohl einmalig ist.

Dem Vorwort zufolge wurde es als Begleitbuch zu einer Sonderausstellung im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren (Galerie 40tausend Jahre Kunst) konzipiert, doch gibt es keine unmittelbaren Bezüge zur Ausstellung; daher kann der/die Interessierte es unabhängig von der Ausstellung als Sachbuch lesen.

Das Buch besteht aus zwölf Beiträgen verschiedener Autoren, deren Thematik so breit gefächert ist, dass ich sie im Folgenden einzeln abrissartig vorstellen möchte.

Jörg Orschiedt: Die Entstehung des Menschen - Neandertaler und moderne Menschen
Skizzierung der Abstammung des modernen Homo sapiens und des Neandertalers anhand neuester Forschungsergebnisse; die zurzeit favorisierten Theorien werden objektiv dargestellt.

Joachim Wahl: Vom Stirn runzelnden Eskimo zum U-Bahnfahrer in Nadelstreifen - Das Erscheinungsbild des Neandertalers im Wandel der Zeiten
Immer neue Forschungsergebnisse und die zunehmende Akzeptanz des Evolutionsgedankens haben das Bild des Neandertalers in Wissenschaft und Öffentlichkeit umfassend verändert.

Ulrich C. Müller und Angela Schönfelder: Die Umweltbedingungen der Übergangszeit vom Neandertaler zum anatomisch modernen Menschen
Darstellung der klimatischen Verhältnisse und der in den jeweiligen Klimaphasen in Europa verbreiteten Vegetation während der letzten 130.000 Jahre; Einschätzung des Klima- und Umwelteinflusses auf die "Ablösung" des Neandertalers durch den modernen Menschen.

Olaf Jöris: Aus einer anderen Welt - Europa zur Zeit des Neandertalers
Ausführliche Betrachtung der Umwelt des Neandertalers während seines Vorkommens in Europa; Auswirkungen der ökologischen Gegebenheiten auf seine Lebensweise und Kultur

Michael Bolus: Brachten es moderne Menschen mit? Die Anfänge des Jungpaläolithikums in Europa
Der Übergang von der mittleren zur jüngeren Altsteinzeit beinhaltete für die damaligen Menschen umfassende Neuerungen. Davon zeugen veränderte Werkzeuge sowie Musikinstrumente und Kunst. Der Beitrag befasst sich mit der örtlichen und zeitlichen Einordnung dieses Entwicklungsvorgangs sowie der Frage, ob auch der Neandertaler die spätpaläolithische Kultur mit prägte.

Miriam Noël Haidle: Familientreffen, Konkurrenzkampf oder Techtelmechtel? Begegnungen zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen
Wie wahrscheinlich waren Begegnungen zwischen Neandertalern und modernen Menschen in den kurzen Epochen zeitlicher Überschneidung ihres Auftretens an einem Ort? Gibt es Indizien, die für eine genetische Vermischung der beiden (Unter-?) Arten sprechen?

Harald Floss: Das Ende nach dem Höhepunkt. Überlegungen zum Verhältnis Neandertaler - anatomisch moderner Mensch auf Basis neuer Ergebnisse zum Paläolithikum in Burgund
Anhand von Fundstellen aus dem Paläolithikum in Burgund wird untersucht, ob es eine gegenseitige Beeinflussung der Kulturen der Neandertaler und der modernen Menschen in dieser Region gegeben haben kann.

Nicholas J. Conard: Sind sich Neandertaler und moderne Menschen auf der Schwäbischen Alb begegnet?
Eine Interpretation der Funde aus dem Übergang zwischen der mittleren Altsteinzeit und dem Aurignacien (die sich anschließende spätaltsteinzeitliche Kultur/Tradition), die im Bereich der Schwäbischen Alb gemacht wurden

Ralf W. Schmitz: Neue Funde aus dem Neandertal
Nach einer Skizzierung des namensgebenden Neandertaler-Fundes von 1856 folgt eine Beschreibung aktueller Ausgrabungen im Neandertal, die zu aufschlussreichen Funden führten. Deren guter Erhaltungszustand ermöglichte einen DNA-Vergleich zwischen den im Neandertal entdeckten Individuen und anderen Neandertalern sowie modernen Menschen, was zu neuen Indizien bezüglich des Fehlens eines genetischen Austauschs zwischen beiden Menschentypen führte.

Stefanie Kölbl: Im Tode gleich?
Während etliche Skelettfunde des modernen Menschen aus dem Übergang zwischen mittlerer und jüngerer Altsteinzeit eindeutige Belege für Bestattungsriten liefern (und darüber hinaus oft Hinweise auf Bekleidung und Schmuck geben), bestehen trotz einiger Neandertalerfunde, die möglicherweise auf eine regelrechte Totenbestattung hindeuten, auch heute noch nachvollziehbare Zweifel an der Existenz einer Begräbnistradition der Neandertaler.

Carsten M. Pusch: Herausforderung Paläogenetik - Wie identifiziert man auf molekularer Ebene Unterschiede zwischen Neandertalern und modernen Menschen?
In diesem Beitrag werden neueste Verfahren zur DNA-Analyse steinzeitlicher Fossilien erklärt, aber auch Probleme dieser Methoden (zum Beispiel durch störende Einflüsse von Metallionen) und Fragestellungen für die künftige Paläogenetik aufgezeigt.

Daniel Richter: Altersbestimmungen in der Archäologie - Naturwissenschaftliche Datierungsmethoden
Erläuterung der für die Altsteinzeit bevorzugt angewandten Datierungsmethoden, ihre zeitlichen und methodischen Gültigkeitsgrenzen und Ungenauigkeiten sowie Interpretation der erhaltenen Daten

"Vom Neandertaler zum modernen Menschen" wendet sich vorrangig an Leser, die sich bereits mit Paläoanthropologie (Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung des Menschen) befasst haben und sich für die dargestellte Phase, den Übergang zwischen Mittel- und Spätpaläolithikum und damit die Verdrängung des Neandertalers durch den modernen Menschen, interessieren. Dennoch dürfte das Buch auch für Leser ohne Vorkenntnisse zu bewältigen und dabei unterhaltsam sein, weil die Sachverhalte mit wenigen Ausnahmen zwar knapp, aber gut verständlich erläutert werden. Insgesamt liegt der Schwerpunkt bei dieser populärwissenschaftlichen Publikation eindeutig beim wissenschaftlichen Aspekt. Entsprechend hoch ist das inhaltliche Niveau.

Da die Beiträge prinzipiell unabhängig voneinander sind - selbstverständlich gibt es bei unvermeidlichen Themenüberlappungen Querverweise -, kann der Leser problemlos auf Kapitel verzichten, die ihn vielleicht weniger interessieren.

Besonders positiv fallen an diesem Buch die Themenvielfalt, die gründliche, aber nicht langatmige Ausarbeitung, die Einbeziehung ganz aktueller Ergebnisse, die Vielzahl der den Text ergänzenden, qualitativ hochwertigen Grafiken, Fotos, Zeichnungen und sonstigen Abbildungen und zumeist auch Objektivität in Bezug auf widersprüchliche Theorien auf.

In der Paläoanthropologie und verwandten Wissenschaftszweigen sind viele Sachverhalte nicht eindeutig geklärt, sodass die Wissenschaftler dazu tendieren, eine Theorie zu favorisieren, die ihre eigenen Ergebnisse unterstützt. Die Verfasser der Beiträge von "Vom Neandertaler zum modernen Menschen" erwähnen und begründen jedoch auch die von ihnen nicht als gültig erachteten Ansätze. Durch die kontroverse Diskussion einzelner Aspekte, etwa die umstrittene genetische Nähe von Neandertalern und modernen Menschen, über verschiedene Beiträge und somit wissenschaftliche Disziplinen hinweg erhält der Leser einen hochinteressanten Einblick in die Dynamik der Paläoanthropologie und in die Forschungsfelder der Zukunft.

Erwähnenswert ist auch das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des Buchs.

Ich hätte mir zusätzlich Kurzbiografien der Verfasser gewünscht, aus denen eindeutig hervorgeht, welche Fachrichtungen die Autoren jeweils repräsentieren.

Kurz: "Vom Neandertaler zum modernen Menschen" bietet die Möglichkeit, auf hohem Niveau und dabei in unterhaltsamer und anschaulicher Weise einen Einblick in den aktuellen Stand der Forschung zu einem Thema zu gewinnen, das seit 1856 (dem Jahr der erstmaligen Entdeckung eines Neandertaler-Skeletts) Wissenschaftler und Öffentlichkeit fasziniert und bewegt.

(Regina Károlyi; 06/2005)


Nicholas J. Conard, Stefanie Kölbl, Wolfgang Schürle (Hrsg.):
"Vom Neandertaler zum Homo Sapiens"

Thorbecke, 2005. 208 Seiten, ca. 300 meist farbige Abbildungen.
ISBN 3-7995-9087-0.
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Ergänzender Buchtipp:

Martin Kuckenburg: "Der Neandertaler. Auf den Spuren des ersten Europäers"
Stand die Wiege der heutigen Menschheit in Afrika? War der Neandertaler ein halbtierisches Wesen von nur schwachem Verstand? Wie sahen die frühesten Religionen aus? Für alle, die mehr über unsere biologischen und kulturellen Wurzeln wissen wollen.
Der Archäologe und renommierte Wissenschaftsjournalist Martin Kuckenburg zeichnet in seinem spannenden Überblick die bisherigen 150 Jahre Neandertalerforschung nach. Zugleich bietet er eine unterhaltsam geschriebene Darstellung ihrer teilweise bizarren Theorien: vom Streit um die "Affenabstammung" des Menschen im vorletzten Jahrhundert bis zur computergestützten Archäologie und DNA-Forschung unserer Tage. Er beschreibt die Sternstunden, aber auch die Irrwege dieses eigenwilligen Wissenschaftszweiges, der bis heute die Gemüter bewegt. (Klett-Cotta)
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