"Macht Religion Sinn - Eine BAWAG-Anthologie über Gott und die Welt"

"Wer also Gott leugnet, der schnitzt sich ein Gottesbild. Wer sich nicht vor Gott beugt, tut es vor einem der vielen Götzen, die das entchristlichte Abendland als Gottesersatz sich geschaffen hat: Er beugt sich vor der Macht, vor der Rasse, vor dem Geld."

(Fjodor M. Dostojewski)


"Macht Religion Sinn" - ein brisantes Thema.

Eine illustre Runde aus prominenten und auch weniger prominenten österreichischen Intellektuellen (Journalisten, Essayisten, Schriftsteller, Kirchenleute) hat sich zusammengefunden, um unter der Patronanz eines im Kultursponsoring stark engagierten Bankinstituts - die Rede ist von der BAWAG - gemeinsam eine Anthologie zum Thema "Macht Religion Sinn" zu verfassen. Was dabei herausgekommen ist, hat nicht immer unmittelbar mit der gestellten Thematik zur Sinnfrage zu tun, doch sind die Ergebnisse - wenn man nur einmal an all die Kriege und Akte des Terrors mit vorgeblich religiösen Motiven denkt - noch allemal von brisantem Gehalt.

Vom Schwinden des Religiösen und vom Schwinden des Schändlichen.

Es ist schon eigenartig. Zumindest wir Mitteleuropäer leben in einer Epoche rasant schwindenden Einflusses kirchlicher Einrichtungen und doch, das - vielleicht doch nur theoretische - Interesse an Religion will nicht schwinden. Ein bezeichnendes Indiz für das anhaltende Interesse an Religion ist alleine schon die Existenz gegenständlicher Anthologie, womit auch kirchenferne und eher unreligiöse Personen ihr grundsätzliches Interesse an der Thematik bekunden. Der Doyen österreichischer Intellektuellenkultur, Peter Huemer, weist in seinem Beitrag darauf hin, dass während der vergangenen fünfzig Jahre zwei Ereignisse bzw. Entwicklungen im Westen zu einem vehementen Verlust an tradierten Werten und an überbrachter Orientierung - somit auch an Religiosität und Kirchenbindung - geführt haben: Da war zum einen einmal die Bauch- und Kopfrevolution der 1968er-Generation, welche das Denken völlig neu orientierte (wohl aber auch ein wenig Orientierungslosigkeit hinterließ) und sodann, während der letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jh., der Neoliberalismus, welcher allen lebenspraktischen Sinnbezug auf Geldhaben und Geldverdienen reduziert hat. In diesem Zusammenhang könnte man jetzt darauf hinweisen, dass von besonderer Auffälligkeit für diese Entwicklung einer Entbindung vom Religiösen das weitgehende Verschwinden des Begriffs von der Schande aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ist. War es nämlich noch in der ersten Hälfte des 20. Jh. eine Schande der Sonntagsmesse nicht beizuwohnen, in wilder Ehe zu leben, ein uneheliches Kind zu gebären oder gar selbst ein solches zu sein, usw., usf., so ist für unsere Tage zu konstatieren, dass all diese Schandmerkmale sich weitestgehend - analog zum Wirkmachtverlust kirchlicher Lebensempfehlungen - verflüchtigt haben. Mit dem Verfall kirchlichen Einflusses auf die Lebenswirklichkeit der Menschen geht ganz offenbar auch eine Liberalisierung der Sittenordnung einher; - im Guten wie im Schlechten.

Peter Huemer schlussfolgert: "Österreich, einst ein katholisches Land, ist heute ein Land mit katholischer Tradition, aber mit immer weniger katholischem Glauben und katholischen Gläubigen." Genugtuung oder gar hämische Freude kann die Stimme kritischer Aufklärung, die Huemer nun einmal hierzulande ist, darob keine empfinden, denn: "Das wird dann zum Problem, wenn christliche Ethik ihre Wirksamkeit verliert und durch nichts als Börsenkurse ersetzt wird." Freilich hat auch das Vertrauen in die Heilmacht von Börsenkursen zuletzt einen argen Knacks erlitten. Was bleibt ist Orientierungslosigkeit in einer Welt ohne feste Orientierungspunkte. Am Anfang war das Chaos, dann das Wort und nun, da der Logos zerstäubt, fällt das Chaos wieder in die Lebenswelt der Menschen ein. - Wahrlich eine Situation für von Tollheit Besessene!

Vom Krieg der Kulturen als bedrohlicher Wirklichkeitsbefund.

Ganz anders als diese allgemeine Zeitbetrachtung des Peter Huemer mutet sich der sehr kämpferische, um nicht zu sagen fast schon kulturkriegerische, Beitrag des gesellschaftsliberalen Journalisten Hans Rauscher an, der sich nicht scheut gegenständlicher Anthologie einen doch recht herausfordernden Text beizufügen. Mit folgender Einleitung setzt Rauscher einen Knalleffekt, den man vielleicht in Anlehnung an den Begriff vom "wehrhaften Christentum" als "wehrhaften Liberalismus" deuten könnte. Rauscher schreibt: "Wo Bischof Kurt Krenn aus St. Pölten Recht hat, da hat er Recht. Der Islam ist eine aggressive Religion, die sich notfalls mit Gewalt, über den ganzen Erdball ausbreiten möchte. Immerhin war der Religionsstifter ein Krieger und Feldherr, der sich in blutigen Auseinandersetzungen durchsetzte." - Dazu muss für den weniger gut informierten Leser kurz erläutert werden, dass jener erwähnte Bischof Kurt Krenn vor nicht allzu langer Zeit mit einer Polemik gegen den "aggressiven Islam" für einen passablen Aufruhr in den österreichischen Gazetten gesorgt hat, wobei der Herr Bischof mit Bezugnahme auf großteils aus der Türkei nach Österreich zugewanderten Moslems von einer "Dritten Türkenbelagerung" sprach.

Kurt Krenn gilt landläufig als Ausgeburt illiberaler Gesinnung. Der Paradeliberale, Hans Rauscher, relativiert folglich gleich wieder seine Loyalitätserklärung mit seiner Exzellenz, dem Herrn Bischof von St. Pölten, um sodann jedoch ohne Verschnauf mit weiteren faktenträchtigen Überlegungen, in weitgehender Übereinstimmung mit der bischöflichen Polemik, in die eingeschlagene Stoßrichtung fortzufahren. So sei die Welt des Islam wegen ihrer religiösen Rigidität in kulturell-intellektueller Hinsicht hoffnungslos erstarrt. Jeder auch noch so zarte Keim freien Denkens werde da als gottlose Lästerei unterdrückt und dies deswegen, weil im islamischen Kulturraum die notwendige Korrektur durch Aufklärung, Rationalität, politischen und gesellschaftlichen Pluralismus einfach fehle, somit die Religion des Islam beinahe unumschränkt herrsche und mangels inneren Entwicklungsdrucks sich störrisch einer jeglichen Weiterentwicklung und Weltöffnung widersetze. Und so ist der religionsbedingte Niedergang islamischer Lebensweise mittlerweile so weit gediehen, dass die einst imposante und überlegene Kultur des Islam (maurische Kultur) zu einer Kultur der Stagnation und des Kleingeistes degenerierte, deren weltverschlossenes Selbstverständnis oftmalig jegliche Selbstbesinnung ausschließt und eigene Unzulänglichkeiten vermittels diabolischer Feindbilder zu erklären trachtet. Die Folgen einer solchen Geisteshaltung für die gesellschaftliche Verfasstheit, ja vor allem für die Kultur der Intellektualität in islamischen Ländern seien nachhaltig katastrophal und ließen sich zur Veranschaulichung in nackten Zahlen ausdrücken, die ein desaströses Gesamtbild der Welt des Islam dokumentieren und im Westen zu denken geben sollten. Rauscher führt dazu aus: "Heute hat allein Israel mehr Wissenschafter als die gesamte islamische Welt zusammen. In Griechenland werden mehr Bücher gedruckt als in der islamischen Welt. Der Islam fühlt sich zwar nach wie vor als die bessere, überlegene Gesellschaft, die 'khaira ummatin' - die 'beste aller Gemeinschaften', aber er kann nicht umhin, seine eigene Machtlosigkeit im Vergleich zum Westen festzustellen."

All diese Ausführungen Rauschers müssten uns nicht weiter beunruhigen und könnten in Hinblick auf die Selbstverantwortlichkeit der Nationen für ihr jeweiliges kollektives Schicksal einfach achselzuckend hingenommen werden, gäbe es nicht im Westen rasant wachsende Inseln dieser antimodernistischen Kultur des Islam. So betrage, nach dem Ergebnis der letzten Volkszählung bemessen, der Anteil der Moslems an der österreichischen Wohnbevölkerung bereits 4 Prozent und hätte sich somit innerhalb weniger Jahre - seit der vorangegangenen Volkszählung - verdoppelt. In Amsterdam beziffere sich der Anteil moslemischer Bevölkerung bereits mit 20 Prozent und es sei wegen des ungebrochenen Kinderreichtums dieser Bevölkerungsgruppe absehbar, wann in einem Gutteil der holländischen Städte die Moslems die Mehrheit stellen werden und sodann moslemisch dominierte Stadtsenate moslemische Sitten und Gebräuche als allgemein verbindlich verordnen. Das alles wäre noch nicht so schlimm, wäre es nicht Tatsache, dass in diesen moslemischen Milieus archaische Sitten wie beispielsweise das Familienpatriarchat und infolge dessen die Zwangsehe nicht die Ausnahme sondern die Regel sind, und dass sich insbesondere die Moslemkulturen der Diaspora zuletzt absolut aufklärungsresistent erwiesen und zuweilen gar verstärkt zur Bildung fundamentalistischer Subkulturen neigen. Für die multikulturellen Gesellschaften des Westens sei diese demographische Entwicklung ein echtes Problem, wenn man sich dieserart aus Vorliebe und aus Toleranz für die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in der eigenen Mitte Feinde der offenen Gesellschaft heranzüchte.

Der für die fernere oder auch nähere Zukunft ins Auge gefasste Beitritt der Türkei zur Europäischen Union hätte in diesem Sinne eine besondere Brisanz, erläuterte Rauscher bei Gelegenheit der Buchpräsentation zu "Macht Religion Sinn" am 5. Dezember 2002 in Wiener Räumlichkeiten der BAWAG. Wir sollten uns beizeiten überlegen, wie wir mit dieser Situation umzugehen gedenken. Einfach nichts zu tun, sei wohl der grundverkehrte Ansatz.

Wer den liberalen Journalisten Hans Rauscher, seiner Islam-kritischen Bemerkungen wegen, nun einfach der Ausländerfeindlichkeit bezichtigt, liegt wohl auf der selben Ebene wie das vielstimmige Gezeter, das dem Herrn Bischof Kurt Krenn für seine pointierte Wortmeldung von der "Dritten Türkenbelagerung" reflexartig entgegenschallte, ihm verbale Ohrfeigen verabreichte und ihm, dem Grundtenor nach, jede humanistische Gesittung absprach ohne dabei auf den Inhalt seiner Worte Bedacht zu nehmen. Und man könnte fast meinen, dass Hans Rauscher, als allgemein anerkannte Stimme liberaler Gesittung, nun das Wagnis auf sich nimmt, des Bischofs aufreizende Aussagen - nach all dem schrillen Geschrei um dessen Interview - einer sachlichen Debatte zuzuführen. Seinem Anliegen dürfte jedoch mehr zugrunde liegen, als eine bloße Sorge um die Diskussionskultur im Lande. Immerhin geht es um die Zukunft der Liberaldemokratien westlichen Zuschnitts, deren erklärter Freund allerdings auch der Herr Bischof aus St. Pölten bekanntermaßen nicht ist. Dessen sich Hans Rauscher allerdings ausdrücklich bewusst ist, womit sich die weiter oben schon angemerkte Distanzierung von Bischof Krenn als unüberbrückbare weltanschauliche Differenz erklärt und nicht einfach nur Berührungsangst mit einem intellektuellen Außenseiter unserer Tage ist.

Größenwahn, Machtexzesse und Massenmorde: die historische Wirklichkeit christlicher Nächstenliebe.

Weniger aufrüttelnd doch dafür umso provozierender ist der Beitrag des Journalisten und Buchautors Alfred Worm. Worm, bekannt, wenn nicht gar berüchtigt, als Verfasser von bissigem Schriftwerk wie auch beliebt ob seiner gemeinsam mit Prof. Johannes Huber verfassten Gesundheitsratgeber, gibt mit seinem Beitrag grosso modo wieder, was er bereits in früheren kirchen- und religionskritisch gesonnenen Schriften im Detail ausgeführt hat. Was Worm den Leser mitzuteilen hat, klingt angriffig und unbequem, doch lässt sich bei aller Gewagtheit seiner Thesen oft nur schwer dagegen argumentieren: "Die römisch katholische Kirche ist die älteste, ohne Unterbrechung bestehende Monarchie der Welt. Eine Diktatur, die sich bis heute auf eine einzige Person ausrichtet; nämlich auf die des Papstes, der als einziger das Recht der Jurisdiktion ausübt." Die zweitausend Jahre alte Geschichte der römisch katholischen Kirche sei eine bluttriefende Kriminalgeschichte voll der Unmoral und bei allem Bemühen um "mea culpa" des aktuell herrschenden Papstes sei die Praxis des Vatikans ungebrochen autokratisch. Übrigens ist es diesbezüglich durchaus lohnend, sich mit früheren Schriften von Alfred Worm zu befassen, da der konkrete Beitrag nichts mehr als ein kleiner Happen Worm'schen Talents zu schonungsloser Religionskritik ist, die sich beispielsweise in seinem 1992 verfassten Buch "Jesus Christus - Die Wahrheit über den wahren Menschen" in epischer Breite findet, wobei dem Autor wohl eine gewisse Lust an der Aufreizung religiöser Befindlichkeiten nicht wirklich abzusprechen ist. Nur ein kurzes Zitatbeispiel aus dem erwähnten Jesusbuch hierfür: "Solange schon den Kindern diese Bibel in kleinen Dosen eingeflößt und dieses Neue Testament untern Christbaum gelegt wird, darf sich niemand über den braunen Bodensatz unserer Gesellschaft wundern. Wäre das Neue Testament ein Produkt der Gegenwart: Die Autoren kämen wegen NS-Wiederbetätigung vor den Strafrichter."

Worm weiß allerdings zwischen Jesus einerseits und seinen "Biografen" und Adepten andererseits zu unterscheiden. Sein kritisch-differenziertes Jesusbild strahlt sogar eine gewisse herzliche Zuneigung für den Nazarener aus: "Jesus war frühreif und altklug. Er schätzte gutes Essen und Trinken, umgab sich gerne mit Frauen, fühlte sich unter den Parias wohl und äußerte sich - widersprüchlich - zu verschiedenen Problemen der Gesellschaft. Die Beziehung zu seinem Elternhaus war von schweren Zerwürfnissen gezeichnet."

Die Angehörigen der vorgeblich von Jesus Christus eingesetzten Kirche erwiesen sich in der Folge als Machtmenschen mit einem Hang zum Machtmissbrauch, doch - und darin liegt für Worm die bleibende Faszination Jesu - gelang es ihnen nicht den Ruf ihres Religionsgründers nachhaltig zu ruinieren oder auch nur erheblich zu schädigen. Dass dem so ist mag vielleicht an Jesus' Worten liegen: "Amen, das sage ich euch: Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr" (Matthäus 21,31 - Rede an die Pharisäer). Eine Botschaft, die sich, im Unterschied zu fast allen anderen Weltreligionen, ebenso gezielt wie engagiert an gesellschaftliche Underdogs richtet und nicht an eine elitäre Schicht von Schönen, Reichen und Noblen oder einfach nur an die große Zahl der Tugendhaften, deren Tugend zumindest in ihrem Unvermögen zur Untugend besteht. Und SINN findet sich für Worm jedenfalls in der Bergpredigt (Matthäus 5,1 ff): "Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich;" - und nicht zuletzt in der tätigen Nächstenliebe der CARITAS. Gäbe es doch wirklich keine vergleichbare Hilfseinrichtung auf Erden, deren Mitglieder so selbstlos und hingebungsvoll im Dienst an ihren Mitmenschen tätig sind. Man fragt sich nur, warum es dafür des christlichen Gebots zur Nächstenliebe bedarf? Ist der Mensch ohne religiös-ethischem Motiv seinem Nächsten ein Untier?

Religion macht Sinn! Und ohne Religion kann der Mensch nicht sein.

Wer nun meinte, es könnte sich bei gegenständlicher Anthologie überwiegend um bloße Religionskritik handeln, der würde allerdings etwas voreilig schlussfolgern. Tatsächlich haben die Herausgeber auf eine sehr ausgewogene Autorenauswahl Bedacht genommen. So entführt der Dichter ägyptischer Herkunft Tarek Eltayeb den Leser in ein Leben in und zwischen islamischen und christlichen Welten. Hubert Feichtlbauer, Gertraud Knoll und Ingeborg Schödl sind allesamt ebenso bekennende wie engagierte Christen und bekunden diese Gesinnung selbstverständlich auch in ihren Textbeiträgen. Für Ingeborg Schödl steht fest, dass Religion ein Grundbedürfnis des Menschen ist, da jeder Mensch wesenhaft auf das Transzendente, das Heilige, letztlich auf Gott hin ausgerichtet ist. In jedem Menschen sei folglich eine "unbewusste Religiosität" vorhanden. Es ist die latent vorhandene Suche, Antworten auf die Fragen des Lebens, nach dem "Woher" und dem "Wohin" zu bekommen. Das tiefverwurzelte Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz zeige sich auch in der historischen Tatsache, dass es nie eine gänzlich religionslose Kultur auf Erden gegeben habe. Dass der Einfluss von Religion und Kirche zumindest in unseren Breitengraden schwindet, liegt für Schödl wohl auch in einem schlechten Marketing, denn der hilfreichen Botschaften und ehrenhaften Personen gebe es in der römisch katholischen Kirche in der Tat genug. Schließlich und endlich sollte es die gemeinsame große Aufgabe der drei monotheistischen Religionsgemeinschaften Christentum, Judentum und Islam sein zu verhindern, dass der Gegenwartsmensch sich entsprechend seiner Konsum-Mentalität einfach nur aus einem angebotenen Sammelsurium von christlichen, hinduistischen, buddhistischen und esoterischen Zutaten bedient, solcherart sein höchst privates "Gottesbild selber schnitzt" und dabei tatsächlich auf die archaische Stufe eines heidnischen Götzendienstes zurückfällt. Schödl beantwortet die allgemeine Fragestellung "Macht Religion Sinn?" durch eine Umstellung der Wortreihenfolge: RELIGION MACHT SINN.

Es gibt keinen menschlichen Sinn außerhalb des Menschen.

"Religion macht Sinn", das klingt in den Ohren der Psychotherapeutin Rotraud A. Perner völlig unsinnig, denn es gebe für den Menschen keinen in eine außerweltliche Transzendenz ausgelagerten Sinn, jenseits des irdischen Daseins. Sinn sei ein innerer Gehalt menschlicher Befindlichkeit und gewissermaßen identisch mit einer Art von psychischem Gesundheitsbegriff.

Materialismus versus Spiritualismus / Idealismus.

Die solcherart manifest werdenden Widersprüche zwischen den Autoren - Materialismus versus Spiritualismus - machen übrigens den besonderen Reiz dieser Anthologie aus. Bejahung und Verneinung gehen gewissermaßen Hand in Hand und erzeugen ein fruchttragendes Spannungsfeld, das, ob der darin enthaltenen Vielfalt perspektivischer Betrachtungsweisen, zum Selber- und Weiterdenken anregt.

Von der tragischen Freiheit des Christenmenschen.

Ist die christliche Religion ein Königsweg zur Freiheit oder ein Irrweg in die Unfreiheit? Ist die Bibel in der Tat ein Buch zur Selbstfindung des in seiner Unmündigkeit gefangenen Menschen? Möglicherweise war es ja der im Christentum angelegte Freiheitsbegriff, der in letzter Konsequenz jene Vielfalt von - jegliche Wahrheitsgewissheit zersetzenden - Meinungen ergab, die die christliche Gesittung nun selbst ihr Grab schaufeln lässt. "Von der Freiheit eines Christenmenschen" handelt in diesem Sinne sodann auch der Beitrag des philosophischen Essayisten Franz Schuh, der vom Atheismus erzählt, welcher der christlichen Praxis inhärent sei und anhand von Fjodor Dostojewskis "Der Großinquisitor" den christlichen Freiheitsbegriff reflektiert, der in seiner ursprünglichen evangelikalen Fassung - nach Meinung der fiktiven Figur des Inquisitors - ein Musterbeispiel für "Überforderung durch Freiheit" darstelle, weshalb man Christus paradoxerweise Unmenschlichkeit vorwerfen müsse. "Überforderung durch Freiheit" deswegen, weil Christus als Nebenprodukt der Freiheit im Religiösen massive Glaubenszweifel in die Welt gesetzt hätte, denen der allein auf sich zurückgeworfene Mensch nicht gewachsen sei. Der christliche Glaube, wie ihn Jesus begründet hätte, sei ein stolzer Glaube, ein Herrenkult für wenige besonders begabte Übermenschen, hingegen sei der gewöhnliche Mensch seinem realen Wesen nach in Glaubensfragen ein Knecht, der nur glaubt, was leicht verständlich ist, sich sinnlich erfassen, gar angreifen lässt, ihm sein Wams füllt oder wozu er gezwungen wird. Letzteres zu bewirken sei die traurige Aufgabe der Inquisition gewesen, da die unmögliche Aufgabe der Missionierung aller Völker unter den vorgegebenen Bedingungen anders nicht zu bewerkstelligen sei. Lässt man dem Menschen seine Freiheit, er wird sich von der christlichen Heilsbotschaft abwenden und heidnischen oder auch ketzerischen Kulten zuwenden. Diesen Abfall vom Heil mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verhindern ist die Aufgabe der Heiligen Inquisition. Also: Ein Verbrechen an der Menschheit aus Liebe zum Nächsten?

Franz Schuh leitet den Gedanken Dostojewskis in die Gegenwart über: "Im Namen der Freiheit haben die Menschen die alte Übermacht der Inquisition abgeschüttelt, die ja - neben ihrer eigenen Macht - nichts Anderes wollte, als die Menschheit vom sie überfordernden Anspruch des Freiseins zu erlösen. Heute müssen die Funktionäre der Kirche glauben (machen), also predigen, dass die Freiheit, mit der man unter anderem die Inquisition losgeworden ist, gar nicht die 'eigentliche' Freiheit ist."

Vom kinetischen Fundamentalismus in der Endzeit spiritueller Heiterkeit.

Zu guter Letzt, obgleich tatsächlich mitten drinnen, findet sich eine gar sympathische - verhalten grantelnde - Klage von Adolf Holl über die im Verschwinden begriffene hoch stabile weltweite Kultur spiritueller Langsamkeit. Es ist der Geist des Kapitalismus - ein Geist radikaler Mobilisierung - der ihr den Garaus macht. An ihre Stelle trete, insbesondere außerhalb kirchlicher Sakralbereiche, zunehmend eine Kultur hektischer Ungeruhsamkeit und sich abhetzender Beschleunigungssucht. Wir alle, die wir heute sind, sind kinetische Fundamentalisten, welche nur dann erfolgreich zu leben meinen, wenn sie sich rastlos bewegen. Adolf Holl, einst sozialisiert im Geiste gemächlicher Spiritualritualität, blickt verständnislos auf die Rasanz unserer Tage. Man merkt, der Habitus klerikaler Langsamkeit ist dem ehemaligen Priester Holl nach wie vor im Blut, so wie ja viele seiner Freunde zu seiner Person zuweilen anmerken, dass er in seinem innersten Wesen wohl nach wie vor Priester der römisch katholischen Kirche sei. Wen wundert es also, wenn Holl bereitwillig eingesteht: "Und so stehe ich bis heute ungern unter Zeitdruck, auch wenn ich schon lange keine Messen mehr lese. Immer noch kann es geschehen, dass ich den Autoverkehr mit stiller Verwunderung betrachte. Wovor flüchten sie denn alle, denke ich dann, und so schnell?" - Hingegen: "Beim Messelesen wird die christliche Nervosität stillgelegt. Die Geschichte des Heils kennt keine Jahreszahlen und keinen Fortschritt, die Geschichte des Heils beginnt mit den Worten: 'In jener Zeit.' "
Holl skizziert den Priestertypus als ein unzeitgemäßes Gattungswesen, das sich dem Mobilisierungswahn seiner Zeit störrisch verschließt und gerade auch deswegen dem Untergang verschrieben ist. Des Ausgestoßenen melancholischer Blick ruht zärtlich auf der verlorenen Welt einstiger Standesgenossen, deren spirituelle Heiterkeit in dieser völlig konträr gearteten postkapitalistischen Wirklichkeit im Grunde genommen ohne jeden substanziellen Sinnbezug bleiben muss. Holl schreibt: "Den Priestern geht es also um Verewigung, nie gehen sie mit der Zeit, und wenn sie es tun, sind sie verloren. Ein Priester mit einer Armbanduhr steht im Widerspruch zu seiner Kulturgeschichte, er hat seine Sicherheit eingebüsst."

Der ehemalige römisch katholische Priester Adolf Holl, der es sich selbst dank Büchern wie "Jesus in schlechter Gesellschaft" mit der Kirchenbürokratie ernsthaft verscherzt hat, wird in den Augen der Kirchenfürsten wohl auch hinkünftig ein unliebsamer Ketzer bleiben. Die Inbrunst kirchlicher Orthodoxie kennt einfach keine Gnade mit ihren verirrten Schäfchen, zumal wenn sie gleich störrischen Eseln in Uneinsichtigkeit verharren und mit keiner Gebärde Unterwerfung unter das herrschaftliche Diktat signalisieren. Bloße Sympathie und einfühlsames Zartgefühl sind dort ungenügend, wo es um ewige Wahrheiten geht. Und kritische Gesittung ist dort unerwünscht, wo Gehorsam als herausragende Tugend gilt. Genug der Gründe hätte also Holl, den Anmaßungen klerikaler Unduldsamkeit aus tiefstem Herzen mit Hass zu entgegnen. Doch tatsächlich, seine Sprache scheint voll der heiteren Zärtlichkeit für die Virtuosen des Glaubens, die - wann und wie auch immer - ein Leben führen, das eben nicht von dieser Welt ist, gewissermaßen Welt- und somit in einem bestimmten Sinne auch Lebensverneinung - metaphysischer Protest - ist. Vielleicht, so sinnierte Holl erst kürzlich im Rahmen einer vom Institut für eine offene Gesellschaft am 17.11.2002 in der österreichischen Nationalbibliothek veranstalteten Diskussion zu seinem neuesten Buch "Brief an die gottlosen Frauen", vielleicht, weil es darum geht, den Tod durch eine Praxis der Lebensentsagung zu überwinden. Was dem Vernehmen nach vor allem ein Anliegen der Männer sei. In unseren Tagen manifestiere sich diese Haltung der Lebensverneinung ebenso in der innerweltlichen Askese des Leistungssportlers. (Frauen gebären und imitieren den Mann. - auch seine Askese. Weltverneinung und Todesverlangen zwecks Überwindung von Weltleid und Sterblichkeit sind und bleiben jedoch wesenhaft männlich.) Wer weiß? Was die Askese des Leistungssportlers jedoch immer noch von der Askese des Klerikers unterscheidet ist das Ausmaß an Bewegung bzw. an Mobilisierung kinetischer Energie. Des Einen Leib tobt in völliger Übereinstimmung mit den kinetischen Grundsätzen seiner Zeit, des Anderen Leib verharrt in spiritueller Langsamkeit als Ausdruck völliger Entfremdung zum Geist seiner Zeit.
Adolf Holl benennt seinen Aufsatz mit dem wunderschönen Titel: "Von der Kunst, Zeit zu verlieren. Eine Kurzgeschichte der priesterlichen Heiterkeit." - Das Manifest eines Abgeklärten. Und eine besinnliche Mahnung an jene vielen, die sich tagtäglich zu Tode hetzen ohne dabei zum Leben zu finden.

(Harald Schulz; 12/2002)


"Macht Religion Sinn - Eine BAWAG-Anthologie über Gott und die Welt"
Ueberreuter, 2002. 156 Seiten.
ISBN 3-8000-3925-7.
ca. EUR 14,90.
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