Leseprobe:

(...) "Wo willst du hin?!" rief Do zurück.
    "Ich bleib nicht lang!" Ich rannte hinaus, die Treppe runter. Der Schankraum war leer. Es war auch keiner mehr in der Küche. Das hatte ich mir gedacht. Alles wirkte wie gestern bei unserer Ankunft.
    Es war immer noch heiß. Ich kam ziemlich ins Schwitzen, als ich die Piste zum Dorf hinabrannte. Die letzten Nachzügler erwischte ich noch. Ich reihte mich ein. Es waren nicht nur Männer. Auch Frauen und Kinder, sogar Babys, waren in dem Zug. Auch hier wurde ausgelassen geplappert. Ich erkannte den Jungen von der Bar. Manchmal schloß noch jemand aus den Seitengassen auf. Wir erreichten die Brücke. Meine Neugier war größer als meine Angst. Man ließ mich mit den anderen passieren. Die Wächter waren nicht dieselben wie heute früh. Sie sahen stumpf vor sich hin. Die Bewohner Malaquas hüpften.
    Wir betraten ein Portal. An der Seite rechts war ein Messingschild angebracht: GARRAFFF S.A. MADRID. Es ging durchs Portal in eine Halle, die
                 
       LA FASCINACIÓN DE LO AUTÉNTICO

hieß. So stand es auf einem überbreiten, von Wand zu Wand gespannten Band. Überall Regale voller Organe. Es gelang mir, eine Lunge anzufassen. Sie sah zwar echt aus, aber war aus einem harten Plastik. Weiter vorn war ein Regal mit pruebos olfatorias beschildert. Hunderte Reagenz-, sogar Weckgläser standen darauf. Sie sahen aus, als wären sie leer. Aber jedes trug eine lateinische Bezeichnung. Ein anderes Regal hieß Votos. Enorme Mengen Tonbandkassetten stopften es voll. Und über dem in dickem Eding geschriebenen Mondos fanden sich Hunderte Gehirne in bauchigen Formalinvasen. Es war alles sehr sauber. Nichts roch. Man hätte ein Pausenbrot futtern können in dieser Wachsfigurenpathologie. Ich wurde von den anderen freundlich weitergeschoben. Sie plauderten mit mir. So locker wie möglich versuchte ich, Antwort zu geben.
    Mitten in der Halle stand ein riesiger Reiter auf einem noch viel größeren Hengst. Beide waren gehäutet. Der Reiter beugte sich über den Rist des aufgebäumten Pferdes und hielt uns zwei Gehirne hin. Auf der flachen Linken hatte er seines, auf der flachen Rechten das sehr viel kleinere des Tiers. Die Männer, Frauen und Kinder stiegen über einen dreistufigen Tritt dem Pferd in den Unterbauch. Ein sich erweiternder Darm führte in den nächsten Raum. Dort entkleideten wir uns. Dabei lachten wir und scherzten. Einige faßten sich sogar an. Mir war nicht einmal mulmig. Weggekonnt hätte ich sowieso nicht mehr.
    Im wieder nächsten Raum hoben die Leute ihren linken Arm. Sie suchten etwas in den Achselhöhlen, zogen daran den Reißverschluß auf. Dann schlüpften sie aus ihrer Haut. Manche legten sie sich über die Unterarme, andere falteten sie sorgfältig zusammen. Sie verstauten ihre Häute in Spinden. Mache hingen sie auch über Bügel in einen großen Metallschrank. Dabei paßten sie auf, daß kein Blut hinuntertropfte.
    Weil ich meine Haut anbehielt, fiel ich auf. Alle wandten mir ihre Gesichter zu. Auch der Wirt vom CABALLO. Sie lachten aber weiter und ließen mich stehen, als die Trillerpfeife eines Wächters schrillte. Ich stand hilflos da. Sollte ich warten? Worauf? Die Tür war offen geblieben.
    Ich trat in einen schmalen Flur. Rechts und links gingen Türen ab. Ich öffnete eine. Auf einem gynäkologischen Stuhl saß eine der enthäuteten Frauen. Die Spitzen ihrer Finger und Zehen und die Brustwarzen waren an Elektroden angeschlossen. Um den Kopf saß ein Helm. Auch von dem gingen Kabel ab. Ein Kabel war ihr zwischen die Beine geschoben. Sie hatte überall Sonden, und alle Kabel verschwanden in der Wand. Ich konnte hören, daß sie stöhnte. Aber sie stöhnte nicht vor Schmerz. Manchmal kicherte sie.
    Im nächsten Zimmer saß ein Mann. Er war ähnlich aufgebockt. Nur hatte man seine Eichel wie die Finger und Zehen mit der Wand verbunden. Er verhielt sich nicht anders als die Frau.

    So ging es Tür um Tür. Diese Menschen waren sehr glücklich.
    Der Gang führte rund um einen Mitteltrakt, endete vor einer Wand. Rechts ab eine Glastür. Ich hätte mich wohler gefühlt, wäre ich bekleidet gewesen. So kam ich mir wie auf dem Präsentierteller vor.
    Eines der Zimmer öffnete sich. Eine Frau im weißen Kittel trat heraus. Sie trug unterm Arm eine Pappunterlage mit Clip. Als sie mich sah, blieb sie stehen. Sie fragte etwas auf spanisch. Ich tat, als verstünde ich sie nicht. Also fragte sie auf englisch. Sie war sichtlich erstaunt. Ich stotterte herum. Sie musterte mich von oben bis unten.
    "Warten Sie hier", sagte sie. "Rühren Sie sich nicht von der Stelle."
    Keine Minute später kam sie mit Wachen zurück. Jetzt begriff ich. Ich wandte mich um und rannte los. Ich riß die Glastür auf. Aber da standen auch schon die Wachen. Sie überwältigten mich. Ich schrie nach Do. Das war ein reiner Reflex. Wie sollte sie mich hören? Und was hätte sie tun können?
    Ich wurde nun auch auf einen dieser Stühle geschnallt. Ich brüllte los.
    Die Frau blieb sehr freundlich. "Es tut mir sehr leid
", sagte sie, "aber Sie können sich doch denken, daß wir Sie nicht mehr fortlassen werden."
    Man fixierte mich derart hart, daß ich keinen Muskel rühren konnte. Die Männer verbanden meine Zehen und Finger und meinen Schwanz mit den Kabeln. Die saugten ihre Öffnungen drauf.
    "Es wird nicht weh tun. Glauben Sie mir. Sie werden zufrieden sein wie nie zuvor. Noch wenige Minuten, und Sie können sich erfüllen, was immer Sie wollen.
" Nun lächelte sie besonders freundlich und sagte: "Ich hoffe, Sie haben nicht zu viele schlechte Träume. Die, leider, realisieren sich oft auch. Aber das ist nur am Anfang so. Bis man die Sache im Griff hat."
    "Was ist das hier? Was ist diese Fabrik für eine Anlage?"
    "Wir erschaffen eine neue Welt. Vorm Paradies muß keiner sich fürchten."
    Das
war das letzte, was ich hörte. Dann stülpten sie mir den Helm über Kopf und Augen und preßten mir etwas vor den Mund.


Aus: Buenos Aires. Anderswelt.
von Alban Nikolai Herbst.    
Berlin Verlag, 2001. 208 Seiten.  
ISBN 3-8270-0428-4.    
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