Alban Nikolai Herbst: "Buenos Aires. Anderswelt.
Kybernetischer Roman."

Nichts Unwirkliches existiert - Simulationen im Crash-Test


'Buenos Aires. Anderswelt' ist Teil eines dichten Herbst'schen Prosawerks, innerhalb dessen die Vorgänger "Die Verwirrung des Gemüts" (1983), "Wolpertinger oder Das Blau" (1993) und "Thetis. Anderswelt" (1998) sind. Im WurmVorsatz zu "Buenos Aires. Anderswelt" führt der 1955 geborene Schriftsteller, der Philosophie studiert und einst als Broker gearbeitet hat aus, dass jedes dieser Bücher für sich lesbar sein soll, dennoch mit den anderen wechselwirkend verknüpft und strukturell zusammengehörig ist. Ein derart intensives Vorhaben - (allein "Thetis. Anderwelt" umfasst annähernd 900 Seiten!) - mit einem Begleitheft zu versehen ist einer der zahlreichen brillanten Geistesblitze des Autors. Dieses Beiheft, (der besagte WurmVorsatz eben), listet - einem Städteführer, wie ihn Touristen gelegentlich zur Hand haben, nicht unähnlich - Personen, Schauplätze und Begriffe auf, deren Kenntnis bei der Orientierung innerhalb der Herbst´schen Welten hilfreich sein kann - keineswegs muss.

Was bedeutet "kybernetischer" Roman? Das Wort Kybernetik kommt aus dem Griechischen und bezeichnet die Kunst des Steuermanns, Piloten oder Leiters. Die Kybernetik untersucht automatische Systeme aller Art, die sich durch informationsverarbeitende Rückkopplungsmechanismen selbst regulieren: Die Folgen einer Operation werden vom operierenden System registriert und beeinflussen seine weiteren Operationen.
Sie ist auf beliebige Systeme anwendbar und dient dazu, die Gesetzmäßigkeiten von Steuerungs- und Regelungsvorgängen sowie informationsverarbeitenden Prozessen in Natur und Technik zu erkennen und diese dann bewusst zur Synthese technischer beziehungsweise zur Verbesserung natürlicher Systeme einzusetzen. Dem dtv-Lexikon (von 1972) ist folgende Definition zu entnehmen: Die Begriffe, Theorien und Verfahren der Regelungstechnik werden auf biologische, soziologische und psychologische Regelungsvorgänge übertragen. Aus ähnlichem Verhalten bei Modellen und Lebewesen kann man auf ähnlichen Aufbau und Arbeitsweise schließen. Ein wesentlicher Forschungsgegenstand der Kybernetik ist die Kommunikation, d.h. die Nachrichtenübermittlung bei Geräten und Lebewesen. Die mathematischen Grundlagen liefert die statistische Informationstheorie, die den Nachrichtengehalt einer Folge von Ja-Nein-Signalen bewertet nach ihrem Unterschied gegen eine zufällig verlaufende Folge. Dieser schreibt man ähnlich wie in der Thermodynamik die größtmögliche Entropie zu. (...)

"Buenos Aires" ist die Zentralstadt innerhalb des Versuchssystems "Anderswelt", oder auch Synonym für ganz Europa, wie sich überhaupt die Erdoberfläche nach der Geologischen Revision (einer globalen Naturkatastrophe) gänzlich verändert darstellt und das ausgedehnte Thetismeer weite Landmassen verschlungen hat.
Alban Nikolai Herbst erschuf asynchrone Parallelwelten und -existenzen; aus Bewusstseinslabyrinthen, mythologischen Figuren nebst historischen Orten und bevölkerte sie mit Menschen und Gottartigen sowie Holomorfen, wobei sich keine Figur mit letzter Gewissheit der einen oder anderen Kategorie zugehörig fühlen kann. Wirtschaftsmultis treiben dort ebenso ihr Unwesen wie anarchistische Terrororganisationen und undurchsichtige Polizeibehörden, wobei die Macht in den Händen des unsterblichen Präsidenten, Ungefugger, konzentriert ist. Dieser Präsident, selbst Teil eines virtuellen Weltmodells (oder doch nicht?), verfolgt fanatisch eine drastische Hygienisierungskampagne, verkörpert zwingende politische Korrektheit - (passenderweise als internalisierte Selbstzensur bezeichnet) - und verwirklicht sein Ansinnen, die ganze Welt zu kopieren, sie kybernetisch aufzulösen und das Original zu löschen mit beängstigender Konsequenz und ebensolchen Konsequenzen.

Hans Erich Deters, von Herbst, dem Autor nicht nur erdacht, sondern von der Romanfigur Herbst selbst programmiert, landet bei einem Spaziergang durch Berlin in einer Megametropole mit Schnittstellen (sogenannten Lappenschleusen) mehrdimensionaler virtueller Realitäten, nachdem er unvermittelt, wie ein unfreiwilliger Chatroom-Besucher, ("Schalt ein, lad hoch, fahr ab!" Man stieß ihn Hans Deters betritt den Raum) oder einer computergenerierten Spielfigur gleich, aus einer Straße aufgetaucht ist. Als er im Café Silberstein, (einem Café in Berlin, das in Buenos Aires "Samhain" genannt wird), auf eine Frau wartet, gerät er unversehens in eine Lappenschleuse, als wäre er in die Oberfläche eines Zerrspiegels getaucht.
Bei Herbst bezeichnet "Samhain" die Aufhebung aller zeitlichen und räumlichen Grenzen; Welt und Anderswelt fließen ineinander ("Zeitenbrüche und Weltenwechsel").

Bestimmen in antiken Mythen noch launische Götter über die Schicksale der Sterblichen, sind es hier Programmierer, die den Cyberspace, seine Bewohner und somit indirekt auch sich selbst willkürlich nach eigenem Gutdünken formen.

Der Inhalt wurde von Herbst wie folgt gegliedert:
SCHNELLE WECHSEL - Durch Buenos Aires nach ... ... Garafff: Dahinter ... ... die Unendlichkeit. AUSGANG - Vom Silberstein zur Dunckerstraße.
Wobei jeder Abschnitt stets mit Kapitel 1 beginnt und auch darüberhinaus die lineare Chronolgie in den Hintergrund tritt. ('Eine Unendlichkeit miteinander verschränkter Realitäten, verzweigt und verknüpft wie die Neuronenverbände eines Gehirns, ...')

Der Cyborg Deters wechselt zwischen den Modellwelten, die als Versuchsanordnungen des Konzerns CYBERGEN beobachtet werden, dessen Angestellter Herbst (die Romanfigur) vorerst ist, bis er kopiert, neuerlich archiviert und zuletzt durch Herbst selbst ersetzt wird, der in einer dieser Modellwelten Deters' Platz einnimmt. Figuren werden erschaffen und wieder verworfen - ein wundersamer interaktiver Prozess gepaart mit zwangsweiser, systemimmanenter Flexibilität - ("Kybernetik" eben). Mittendrin amorphe Identitäten zuhauf, biologischer oder sonstiger Herkunft, die - bisweilen unkontrolliert - den Verlauf bestimmen, auf antiken sowie Großstadt-Mythen, Ängsten und Sehnsüchten basierend. Sackgassen sind nicht nur zulässig, sondern in diesem Zusammenhang von elementarer Bedeutung.
Herbst bedient sich der technischen Raffinessen rasanter Computerspiele; Situationen, Personen - der Willkür des Benutzers unterworfen! Ob die verschiedenen Welten als begrenzte, mit Eigendynamik ausgestattete
Versuchsanordnungen anzusehen sind? Auch. Ebensosehr werden Teilaspekte der heutigen Menschenwelt kritisch beleuchtet.

Der Autor verwendet Szenerien aus sogenannten "düsteren" Science-Fiction-Filmen. Insofern recycelt er die kollektive westliche Weltkulisse, die er mittels Schnitten, Überblendungen, Zerstückelung und Endlosschleifen zu verstörenden déjà-vu-Eindrücken verdichtet.

Alban Nikolai Herbst schreibt gegen jede Art der Erstarrung an, alles bleibt bevorzugt tendenziell im Ungewissen. Seine Romane beziehen ihre besondere Kraft aus der Verflechtung von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten mit der erlebbaren Realität, (so man von der Existenz derselben ausgehen möchte), aus den Perspektiven- und Tempowechseln sowie der unaufdringlichen Intelligenz der Handlungsstränge. Seine höchstpersönliche Art der Sprachnutzung ist einzigartig; man sieht und spürt bei den ersten Zeilen sofort, dass man in eines seiner typischen Gebilde geraten ist und verfängt sich im schillernden Ereignisnetz.
Der gegenwärtig allerorts vielfach be- und verarbeitete, bisweilen überstrapazierte Begriff "Globalisierung" ist bei Alban Nikolai Herbst ein Element sui generis, wenn optische Eindrücke den Augenblick prägen, bisweilen sogar überlagern.
Wahrnehmungen gehen auf mehrfach ineinander verschränkten Ebenen Verbindungen mit Erinnerungen ein, und inmitten des wohltemperierten Irrgartens agieren die synthetisierten Romanfiguren; zu gleichen Teilen Raubtier und Beute.
Die Bestandteile der Herbst'schen Charaktere sowie Kulissen pulsieren in einer Art "
Ursuppe" zur freien Entnahme. Bei Bedarf langen wechselnde Ich-Erzähler und/oder Beobachter, die ihrerseits aus der Fantasie oder sogar der Person eines anderen hervorgegangen sind, hinein und verwandeln sich und ihr Umfeld oder müssen sich in einem, nicht linear verlaufenden, Evolutionsprozess verwandeln lassen. Die auf diese Weise zustande gekommene Prosa besticht durch verschachtelte Liebesgeschichten, Anklänge an Legenden und Mythen, sowie philosophische Betrachtungen gehobener Qualität innerhalb der Geschichte, sowie durchaus horrorfilmtaugliche Abschnitte.

Der Text selbst als Interface? Auch. Daher sei zum Abschluss folgende Aussage gestattet, die Ihnen bestimmt - wenngleich nicht in dieser Version - bekannt vorkommt: Viele Lichtjahre von anderen zeitgenössischen Autoren entfernt ist Alban Nikolai Herbst in Galaxien vorgedrungen, die nie ein Mensch zuvor beschrieben hat.

Tauchen auch Sie ein, wenn Sie real existieren!

(kre; 10/2001)


Alban Nikolai Herbst: "Buenos Aires. Anderswelt"
Berlin Verlag, 2001. 208 Seiten.
ISBN 3-8270-0428-4. 
ca. EUR 18,-.
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