Ismail Kadare: "Der Nachfolger"
Ein
Schuss im Dunkeln
Die
Skalpelle und Zangen, mit denen man
sich am Leichnam zu schaffen machte, taten weniger Wirkung als die
Gerüchte,
die umherflogen. Die Autopsie ist nur vorgenommen worden, will man
einen
Verdacht hat. Am Ende stellt sich wahrscheinlich heraus, dass alles
ganz anders
gewesen ist, als man gedacht hat. Ein als Märtyrer
auferstandener Rivale konnte
seinem Rivalen leicht das Genick brechen. (Seite 114)
Das Geschehen der ersten Zeilen des Romans gibt das einzig sichere
Faktum des
Romans vor: "Am frühen Morgen des 14. Dezember wurde der
Nachfolger tot in
seinem Schlafzimmer aufgefunden." Dann wendet sich Ismail Kadares
Aufmerksamkeit den vagen Mutmaßungen und der unsicheren Welt
der
Hinterbliebenen zu. Da der verstorbene Politiker der engste Vertraute
des "Führer"
genannten ersten Mannes im kommunistischen Albanien war, ist sein Tod
Anlass für
epidemische Spekulationen: war es Selbstmord oder wurde der Nachfolger
ermordet?
Das ganze kleine Land wird in einen Strudel von diffuser Angst,
Unsicherheit und
Wahn gezogen; der einzige Ausweg wäre die Wahrheit, doch die
bleibt in der
Diktatur eine rare Tugend.
Eine unscharf begrenzte Gruppe von Personen kommt unter Verdacht:
Adrian Hasobeu,
Innenminister und Rivale des Nachfolgers, Suzana, die Tochter des
Toten, der
Architekt, der für den prachtvollen Ausbau der Villa
verantwortlich war, der
Arzt, der die Autopsie durchführte, ...
Allgegenwärtig ist nur der Führer.
Befahl er die Ermordung seines Nachfolgers? Einiges deutet darauf hin:
Der
Architekt weiß von einem geheimen Gang zwischen den Villen
des Führers und des
Nachfolgers, dem Innenminister wird von allerhöchster Stelle
in der nämlichen
Nacht ein Spaziergang vor das Schlafzimmerfenster des Nachfolgers
befohlen. Alle
stehen unter einem vagen und beklemmenden Verdacht, jeder schaut
angstvoll auf
zum Führer, der als einziger den Bann der um sich greifenden
Versteinerung lösen
könnte. Er aber berauscht sich an der Angst der Menschen.
Kadares
politischer Krimi wirft nicht nur
Licht auf das Zwanzigste
Jahrhundert, auf Enver Hoxha; Josef Stalin,
Adolf
Hitler, ... Das dargestellte Land ist trotz detailreicher Schilderung
nicht nur
Albanien:
Die hier geschilderten Ereignisse sind nichts anderes als
Bestandteile der
alle Zeiten umschließenden menschlichen Erinnerung, die, wie
es oft geschieht,
in unserer Epoche wieder an die Oberfläche gelangt sind. Daher
ist eine Ähnlichkeit
mit gegenwärtigen Menschen und Umständen
unvermeidlich. Der Autor (Seite 5)
Das Werk über den mysteriösen, bis heute nicht
restlos aufgeklärten Tod
Mehmet Shehus, des Ministerpräsidenten Albaniens und
designierten Nachfolgers
des Diktators Enver Hoxha, im Dezember 1981 reiht sich ein in die rund
zwanzig
Romane Ismail Kadares, in denen oft die Geschichte seines Heimatlandes
zum
Anlass und Schauplatz für fantasievolle Bilder von politischer
und sozialer
Macht wurde. In "Der Nachfolger" fasziniert die Macht, die Tote auf
Lebende ausüben. Kadare liebt das Mystische im Text und - bei
klarer Sprache
und in ruhig beschaulichem Stil - die gleichzeitige
Unmöglichkeit des Textes,
das Mysterium der Macht zu durchdringen.
Das Spiel zwischen geschichtlichen Fakten und allegorischer Deutung
gipfelt auch
darin, dass alle historischen Figuren des Romans als Prototypen eines
Staatsapparates namenlos dargestellt werden: der Führer, der
Nachfolger, der
Sohn. Fiktive Personen aber haben Namen. Auch das Datum des
unaufgeklärten
Todes ist gleichnishaft. Das Lexikon nennt den 17. Dezember 1981 als
Todestag
Mehmet Shehus, im Roman ist es der 13. Dezember 1981, der Tag der
Verhängung
des Kriegsrechts in Polen. Ebenso verweben im Roman namenlose
politische
Analysten und Archivare verschiedenste Ereignisse aus
Geheimdienstberichten
ausschweifend zu abstrusen Zusammenhängen, die sich von
Hellseherei und
pathologischen Verschwörungstheorien nur marginal
unterscheiden.
Wie sein Werk ist das Leben des Autors von Grenzgängen
zwischen Politik und
Engagement in der Fiktion gezeichnet. Ismail Kadare wurde 1936 in
Albanien
geboren und studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau.
Bereits in
den Sechzigerjahren wurde er im Westen, vor allem in Frankreich,
bekannt, wo
einer seiner ersten Romane, "Der General der toten Armee", mit Michel
Piccoli und
Marcello Mastroianni verfilmt wurde. Als Mitglied der Partei der Arbeit
und
Parlamentsabgeordneter (1970-1982) war er zweifellos Teil des
totalitären
Systems. Andererseits äußerte er, geschützt
durch seine internationale
Bekanntheit, mehr Kritik, als sich das sonst jemand in Albanien
erlauben konnte.
Er lebt heute in Tirana und Paris. Der bekannte französische
Literaturkritiker
Alain Bosquet sagte über ihn: "Wenn es um seine Nation geht,
ist Kadare so
blind wie Homer."
"Der Nachfolger" wurde wie fast alle Werke albanischer Autoren von
Joachim Röhm ins Deutsche übersetzt: Röhm
arbeite von 1977 bis 1980 im Verlag
für fremdsprachliche Literatur in Tirana. Wie kein Zweiter im
deutschsprachigen
Raum profitiert er von der intensiven Beschäftigung mit
Albanern, ihrer
Geschichte und Kultur, ihren Gebräuchen, ihrer Sprache und vor
allem ihrer Literatur.
(Wolfgang Moser; 09/2006)
Ismail
Kadare: "Der Nachfolger"
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Ammann Verlag, 2006. 173 Seiten.
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