Jörg Baberowski (Hrsg.): "Moderne Zeiten?"
Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert
Mörderische Regimes als Konsequenz
der Moderne?
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass
im 20. Jahrhundert
mehr Menschen an den unmittelbaren und mittelbaren Folgen von Kriegen, Revolutionen
und Gewaltexzessen starben als je zuvor. In der neueren Geschichtsforschung
werden diese Ereignisse als Resultate der Moderne angesehen. Die Autoren des
vorliegenden Buchs hingegen suchen nach den Wurzeln der großen Gräuelregimes
Nationalsozialismus und Stalinismus in vormoderner Zeit.
Zunächst zeigt der Autor Dieter Langewiesche anhand von Statistiken
auf, dass Kriege und innerstaatliche Auseinandersetzungen in jüngerer Zeit
keineswegs mit einer Zunahme an Todesopfern einhergehen, wenn man nicht die
absoluten Opferzahlen, sondern sinnvollerweise deren Relation zur
Gesamtbevölkerung betrachtet. Viele Kriege in der Antike, aber auch jene in
vorstaatlichen und Stammesgesellschaften, dezimierten sowohl Soldaten als auch
Zivilisten noch wesentlich drastischer als die Weltkriege und die Folgen der
Revolutionen in Russland und China.
Jörg Baberowski zeigt am Beispiel
Russlands auf, dass die dortigen zarischen Reformen des 19. Jahrhunderts, die
sich am modernen Frankreich orientierten, zum von Gewalteskalationen begleiteten
Scheitern verurteilt waren, weil sie einem darauf nicht vorbereiteten Volk -
oder vielmehr einem Völkergemisch - zwangsweise übergestülpt wurden. Mit anderer
Prämisse, aber vergleichbaren Methoden agierte der Bolschewismus, der sich nur
durch die Anwendung von Terror durchsetzen konnte.
Im Beitrag von Dietrich
Beyrau geht es um die Rolle der Juden im Zarenreich und in Sowjetrussland.
Einmal von der Politik in die Pflicht genommen, dann wieder als Verräter und
Kriegsgewinnler gebrandmarkt und verfolgt, daher radikalen Strömungen zugeneigt,
gerieten sie in der frühen Sowjetunion schließlich zwischen alle Fronten und
wurden aufgerieben.
Igor Narskij untersucht den Bürgerkrieg im Ural, in dem
der Terror der Roten und der Weißen sich nicht wahrnehmbar unterschied, und in
dem auch die politischen Ziele der Parteien verwischten und unentwirrbar
ineinander übergingen.
Im nächsten Kapitel befasst sich Bernd Bonwetsch mit
der Frage, ob das GULAG-System als Völkermord bezeichnet werden kann und sollte.
Zielte es wirklich auf die physische Vernichtung der betreffenden Völker ab wie
der Nationalsozialismus, und wie wäre der Begriff "Volk" dann in diesem Kontext
zu definieren?
Christoph Mick wiederum diskutiert die Frage, inwieweit bei
der Sowjetisierung der Westukraine ethnische Aspekte die ihnen derzeit
zugeschriebene wesentliche Rolle spielten.
In Gerd Koenens abschließendem
Beitrag geht es um den Maoismus zunächst als Fortentwicklung des Stalinismus und
schließlich eigenes, dem Sowjetkommunismus entgegenstehendes Konzept auf der
Basis der chinesischen Geschichte.
Die Autoren verfolgen logisch,
quellenorientiert und somit nachvollziehbar Gedankengänge, die jenen der meisten
modernen Historiker widersprechen. Es erweist sich, dass die gängige
Interpretation der Gräuel des 20. Jahrhunderts als Begleiterscheinung der
Moderne ein bisschen zu einfach und vor allem kurzsichtig geraten ist.
Tatsächlich lässt sich gerade am Beispiel Russland - Sowjetunion zeigen, wie
viele Wurzeln der unheilvollen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in älterer Zeit
liegen, und der erste Beitrag weist auf Parallelen bis in die Antike hin, die
sich nicht leugnen lassen. Wo moderne Ideen auf vormoderne Strukturen und
abgeschlossen gewachsene Gesellschaften treffen und ihnen aufgepfropft werden
sollen, sind Konflikte unausweichlich.
Insgesamt haben die Autoren um
Jörg Baberowski somit sehr interessante und diskussionswürdige Beiträge
verfasst, die unser Bild von der Moderne und den ihr unmittelbar vorausgehenden,
vielfach für sie ursächlichen Ereignissen und Strömungen bereichern können. Als
aufmerksamer Leser mag man nicht mit jedem Detail übereinstimmen, etwa wenn die
Balfour-Deklaration als Beweis für Englands nur geringe Judenfeindlichkeit
dienen soll, aber die Schlüssigkeit der wesentlichen Gedanken in den Beiträgen
überzeugt. Dank einer klaren Ausdrucksweise und dem bei aller sachlichen
Knappheit angenehm flüssigen Stil ist das Buch auch für Laien gut
geeignet.
Das erste, an der Statistik historischer kriegerischer Handlungen
orientierte Kapitel enthält zahlreiche Grafiken und Diagramme, die den Text
hervorragend ergänzen. An jeden Beitrag schließt sich unmittelbar ein
ausführliches Quellenverzeichnis an. Die Aufmachung entspricht den Erwartungen
an ein Sachbuch.
Eine lohnende Investition für alle, die berufliches oder privates Interesse
an den Wurzeln von Krieg und
Gewalt
insbesondere im letzten Jahrhundert haben.
(Regina Károlyi; 05/2006)
Jörg Baberowski (Hrsg.): "Moderne
Zeiten?"
Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. 205 Seiten.
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