Edgar Hilsenrath: "Berlin ... Endstation"


Eine Geliebte mit schwierigem Umfeld

Nach Jahrzehnten im amerikanischen Exil hat sich der Jude Joseph Leschinsky, allgemein Lesche genannt, dazu entschlossen, in das Land seiner großen Liebe zurückzukehren, nach Deutschland. Denn seine Geliebte ist die deutsche Sprache, mit der er, der Holocaustüberlebende, einst aufwuchs, und es war ihm unmöglich, sie zu vergessen. Noch dramatischer: er, der sich mit Aushilfsarbeiten durchschlug, fühlte schon lange den Drang zu schreiben, verfasste Romane, jedoch auf Deutsch, und so kam es zu Schwierigkeiten mit der Veröffentlichung. Er blieb ein ziemlich erfolgloser Nebenerwerbsschriftsteller.

Lesches Freunde aus dem Kreis der jüdischen Exilanten, alles gestrandete Existenzen, wie man das so nennt, warnen ihn davor, sich in Deutschland niederzulassen. "Ganz Deutschland ist ein Holocaustmahnmal", sagt einer von ihnen.
Doch Lesche lässt sich nicht beirren. Vielleicht aufgrund einer Fügung verschlägt es ihn nach Berlin, wo er ganz unten anfängt mit bezahlten Schreibarbeiten. Dann lernt er Autoren, Künstler und Verlagsleute kennen; nach und nach werden seine Manuskripte angenommen. Seine Bücher über den Holocaust bringen ihm Berühmtheit ein. Allerdings gerät er zunehmend ins Visier von Neonazis, die ihn anonym bedrohen und seine Lesungen stören.

Lesche weigert sich, dem Druck nachzugeben. Er behält seine Wohnung und sogar den Eintrag im Telefonbuch. Außerdem nimmt er die Recherche für ein großes Projekt auf: Er möchte einen Roman über den totgeschwiegenen Genozid an den Armeniern im Jahr 1915 schreiben. Dazu reist er nach Amerika, um Archivmaterial zu sichten und zu kopieren. Unterwegs lernt er die erste Frau kennen, die er, der bei Frauen bisher immer nur flüchtige Erotik gesucht hat, lieben kann - eine armenische Buchhändlerin aus Berlin.
Seine Ausbeute umfasst mehrere tausend Seiten. Ehe Lesche jedoch dazu kommt, sein großes Werk zu beginnen, erleidet er eine Serie von Schlaganfällen. Er kämpft mit seinem Körper, bis er seine Arbeitsfähigkeit wieder hergestellt hat, und kehrt in seine Wohnung zurück. Und da geschieht das für einen Rückgratbesitzer vielleicht Unvermeidliche.

Wer Edgar Hilsenraths Lebenslauf und Werk kennt, findet in diesem Roman viel Autobiografisches wieder, auch wenn Hilsenrath sich ähnlich wie Imre Kertész dagegen sperrt, mit seinen Romanfiguren identifiziert zu werden. Der Getto-Hintergrund, die Heimkehr des Schriftstellers zu seiner Sprache, das allmähliche Fußfassen, der geplante Armenier-Roman, all das und manches darüber hinaus ist untrennbar mit dem Autor verbunden. Es gibt jedoch auch gravierende Unterschiede. Im Gegensatz zu Lesche war Hilsenrath beispielsweise im Ausland sehr erfolgreich, während er lange keinen deutschen Verlag für seine Holocaust-Romane fand. Nachdem es dann doch zur Veröffentlichung durch einen mutigen Verleger kam, erhielt Hilsenrath, anders als Lesche, etliche Literaturpreise. Hilsenrath hat sein gewaltiges Armenier-Epos vollendet und veröffentlicht. Und glücklicherweise wurde sein Leben nie von Neonazis bedroht, wenngleich die Störungen von Lesungen nicht erfunden sind.

"Berlin ... Endstation" ist also kein rein autobiografischer Roman, sondern er enthält eine Reihe von Möglichkeiten, wie Hilsenraths Leben in Deutschland hätte verlaufen können. Gewürzt durch zuweilen sehr bissigen Humor und in einen bodenständig-klaren, ausdrucksvollen Stil schildert der Autor den Lebensweg seines Protagonisten. Ohne Sentimentalität und Pathos flicht er Erinnerungen an Lesches (und seine) Erlebnisse während des Holocausts ein, an die vielen von ihm unmittelbar bezeugten Tode, an die Todesangst als ständigen Begleiter und die Emotionen, die Lesche ausfüllen, wenn ihm in Berlin alte überzeugte Nazis oder, noch schlimmer, scheinbar Bekehrte begegnen, die sich ihres latenten Antisemitismus gar nicht bewusst sind.

Das Buch hält Deutschland einen Spiegel vor: Die ständige Medienpräsenz des Nationalsozialismus hat eine sonderbare Eigendynamik erhalten und sich vom aktuell vorhandenen Antisemitismus gelöst. Insofern ist ganz Deutschland tatsächlich ein Holocaustmahnmal, das durch seine ständige Anwesenheit aber kaum noch zum Hinsehen auffordert. Hilsenraths nur scheinbar leicht dahinfließender Roman wirkt dem machtvoll entgegen.

(Regina Károlyi; 10/2006)


Edgar Hilsenrath: "Berlin ... Endstation"
Dittrich-Verlag, 2006. 243 Seiten.
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