Herodot: "9 Bücher zur Geschichte"


Für Cicero war er der "Vater der Geschichtsschreibung", für einige Historiker der Gegenwart ist er hingegen der "Vater der Lügen", nicht mehr als ein fantasiereicher Fabulierer im Dienste einer politischen Idee. Er, das ist Herodot, geboren um das Jahr 485 vor Christus in der kleinasiatischen Stadt Halikarnassos (das heutige Bodrum); jener griechischen Kolonie, die späterhin das berühmte Mausoleum, eines der sieben Weltwunder, ihr Wahrzeichen nennen sollte.

Herodot stammte aus wohlhabender Familie und ging früh auf Reisen. Zuerst besuchte er nur die Insel Samos und Griechenlands Stadtstaaten, doch dann brach er in alle Ecken der damals bekannten Welt auf. Von den Gestaden des Schwarzen Meeres über Medien und Persien zog der wissbegierige Mann nach Babylon, durchquerte Ägypten von Nord bis Süd, ehe er sein Zuhause in Thurii aufschlug, einer athenischen Enklave in Süditalien. Dort blieb er bis zu seinem Tode um 425 v. Chr.

Herodots ganze Leidenschaft galt der Schreiberei. Er hatte sich vorgenommen, die Geschichte der Griechen von ihren Anfängen bis zu seiner Gegenwart aufzuzeichnen. Es sollte eine Geschichte aller Griechen sein, sowohl eine der dorischen als auch der ionischen Stämme, eine Spartas wie Athens. Triebfeder für diese herkulische Aufgabe als Schriftsteller war Herodots flammende Verehrung für die Ideale Freiheit und Selbstbestimmung, verbunden mit einer tief religiösen Sicht der Dinge. Als höchstes und edelstes Gut jedes Bürgers und jeder Nation erachtete Herodot ein Dasein ohne Knechtschaft. Die durch Sinne erfassbare Welt war für ihn durch übersinnliche Kräfte geleitet, göttliche Mächte, die Ordnung schaffen. Dieser Ordnung seien Einzelne wie Staaten unterworfen. Vor allem aber trifft die strafende Gerechtigkeit die übermütigen Starken, die auf ihre Kraft bauen; während die demütig Schwachen, die in die Götter vertrauen, am Ende belohnt werden.

Diesen metaphysischen wie irdischen Konflikt sieht Herodot in den militärischen Auseinandersetzungen der zahlenmäßig weit unterlegenen Griechen gegen das persische Weltreich verkörpert. Sein Werk, die "9 Bücher zur Geschichte", handelt
eben diese Perserkriege detailliert ab. Wobei die Einteilung in 9 Bücher und deren Zuordnung zu den 9 Musen nicht von Herodot selbst stammt, sondern von Gelehrten der berühmten Bibliothek von Alexandria mehr als 150 Jahre nach seinem Tod.

Herodot als "Vater der Lüge" zu bezeichnen, ist nicht nur ungerecht, sondern missachtet den historischen Rahmen. Als Kind seiner Epoche, war er es gewohnt, Legenden einzubauen, Heroen zu bemühen und oft einen naiven Zugang zur Geschichte zu wählen. Doch welcher große Geist der Antike tat das nicht? Homer, Hesiod, Vergil, Tacitus - sie alle vermischten Fakten und Fiktion. Die "9 Bücher zur Geschichte" wurden leider nie komplettiert bzw. endredigiert, Herodots Tod kam dazwischen. Das, was von seiner Geschichtsschreibung erhalten geblieben ist, öffnet ein Zeitfenster mit faszinierendem Panorama auf die Kabale, Intrige und Liebe des Altertums. Gestatten wir uns ein paar Blicke darauf.

Buch 1 (für Klio, Muse der Geschichte) setzt bei den frühesten Anfängen griechischer Überlieferung an. Der Konflikt zwischen den "kultivierten" Griechen und den "barbarischen" Asiaten (Sammelbegriff für Phönizier, Hethiter, Perser u.a.) soll seinen Anfang genommen haben, als phönizische Seefahrer die junge Io aus Argos rauben. Die Griechen revanchierten sich ihrerseits mit Entführung der phönizischen Prinzessin Europa. Später überreden griechische Seefahrer die Priesterin Medea zur Flucht von Kolchis am Schwarzen Meer, ehe die Trojaner diese alte Schmach mit dem Raub der Helena sühnen. Für Herodot stellt das alternierende Entführen von Frauen den Urgrund aller Fehden zwischen Griechen und "Barbaren" dar.

Auf vielen Seiten des ersten Buches sind weitere alte Bekannte der Mythologie anzutreffen, etwa der Phrygerkönig Midas (bekannt dafür, dass alles, was er angreift zu Gold wird) oder Krösus, Herrscher von Lydien, der sich selbst für den glücklichsten Mann hält und so die Götter erzürnt. Er ist es, der das Orakel von Delphi um Rat bemüht, ob er gegen die Perser in die Schlacht ziehen soll. Pythias Antwort: "Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören". Was der siegessichere Krösus nicht ahnt, ist, dass er sein eigenes Reich zerstören wird. Mit dem Sieg des Perserkönigs Cyrus über Krösus endet Buch 1.

Buch 2 (Euterpe, Muse der Musik und Lyrik): Reichhaltiger Bericht über Ägypten, das die Griechen als Verbündeten ansahen. Persische Unterwerfung des Nillandes durch Cyrus' Sohn Kambyses.

Buch 3 (Thalia, Muse der Komödie): Darius beendet das Interregnum nach Kambyses' Tod und ordnet das Perserreich neu. Herodot schildert ihn als grausamen wie klugen Herrscher in einem. So lässt Darius das aufständische Babylon erobern, dessen Mauern schleifen und 3.000 der nobelsten Männer der Stadt pfählen. Allerdings ordnet der persische König an, 50.000 Frauen aus den umliegenden Ländern nach Babylon zu schicken, damit die Bewohner sich wieder fortpflanzen können. Zuvor sollen die Babylonier nämlich ihre Einwohnerinnen während der Belagerung durch die Perser erstickt haben, um so mehr Nahrung für die Krieger übrig zu haben.

Buch 4 (Melpomene, Muse der Tragödie): Beschreibung von Darius' Feldzug gegen das Steppenvolk der Skythen; mit Hinweis auf die "Oiropata", männermordende Amazonen. Auch Polykrates, Tyrann von Samos, führt Herodot an, einen Herrscher, dem Schiller im "Ring des Polykrates" dichterische Unsterblichkeit verleihen sollte.

Die Bücher 1 bis 4 dienen Herodot als notwendige Einleitung, um den nachfolgenden Konflikt der Griechen gegen die Perser dramaturgisch aufzubereiten.

Buch 5 (Terpsichore, Muse des Tanzes): Das persische Imperium greift immer mehr um sich, verschluckt ein Reich nach dem anderen. Thrakien fällt, Makedonien ebenso. Die "Barbaren" stehen in Europa, unmittelbar an den Grenzen der griechischen Kleinstaaten. Gleichzeitig bricht in den ionischen Küstenstädten in Kleinasien ein Aufstand gegen die persischen Besatzer aus.

Buch 6 (Erato, Muse der Liebesdichtung): Der Ionische Aufstand (499-494 v. Chr.) unter Aristagoras von Milet wird niedergeworfen. Die Perser deportieren die Bewohner von Milet nach Ampe am Tigris und schicken eine Flotte gegen Athen, das als treibende Kraft hinter der Rebellion vermutet wird. Herodot macht klar, dass dies für König Darius nur ein willkommener Anlass ist, um Griechenland endgültig zu erobern. Persergeneral Mardonios marschiert mit einem gewaltigen Heer nach Europa, seine Truppen erleiden aber in einem Sturm am Berg Athos hohe Verluste. Er kehrt nach Persien um. Gleichzeitig gelingt es dem genialen athenischen Strategen Miltiades durch ein Zangenmanöver seiner schweren Infanterie, die persischen Angreifer einzukesseln und zu vernichten. Die gefürchtete Reiterei der asiatischen Invasoren hat nicht mal Zeit, die Landeschiffe zu verlassen und dreht unverrichteter Dinge ab. Dies alles geschieht im September 490 v. Chr. Der Ort des Geschehens - Marathon - ist bis heute jedem Schulkind ein Begriff. Herodot sieht in den Niederlagen der zahlenmäßig überlegenen Asiaten am Ende dieses 1. Perserkriegs das Wirken der Götter.

Buch 7 (Polymnia, Muse der religiösen Dichtung): Darius' Nachfolger Xerxes sinnt auf Rache und schickt erneut eine riesige persische Armee nach Hellas. Spione berichten dem Großkönig, dass die griechischen Kämpfer, geführt vom Spartaner Leonidas, keinerlei Angst vor der nahenden Übermacht des Gegners zeigen, stattdessen betreiben sie ostentativ Gymnastik und Haarpflege. Bei einem strategischen Nadelöhr, dem Thermopylen-Pass, kommt es zum Aufeinanderprallen der Heere. Der persische Ansturm kann lange abgewehrt werden. Erst als der Verräter Ephialtes den Persern einen geheimen Weg weist, droht Leonidas der Untergang. Zudem hat Xerxes seine Elitetruppen, die "Unbesiegbaren 10.000" auf ihn angesetzt. Der Spartanergeneral entlässt den Großteil seiner Soldaten und stellt sich mit nur 300 Mann zum Endkampf. Laut Herodot fällt jeder einzelne von ihnen, gleichwohl dafür 20.000 Perser ihr Leben gelassen haben sollen. Ein hoher Blutzoll für Xerxes, der Leonidas' Leichnam enthaupten und den restlichen Körper zur Abschreckung kreuzigen lässt. Bis heute erinnert bei den Thermopylen ein steinernes Epigramm an Spartas Feldherrn und seine Getreuen. Friedrich Schiller gab die Inschrift auf folgende Weise wieder: "Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dort, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl." Nach Leonidas' Heldentod erobern die Perser Athen und brennen die Akropolis nieder.

Buch 8 (Urania, Muse der Astronomie): Die Heere der verbündeten Athener und Spartaner liegen der Perserstreitmacht vor dem Inselchen Salamis gegenüber. Themistokles, Oberbefehlshaber der Griechen, gelingt es, die schweren Kriegsgaleeren der persische Flotte in eine seichte Meerenge zu locken, wo sie von den wendigen Schiffen der Hellenen zuhauf gerammt und vernichtet werden. Die Schlacht von Salamis ist in die Lehrbücher der Militärgeschichte eingegangen. Xerxes zieht daraufhin nach Persien ab, lässt aber seine zahlenstarke Infanterie unter Kommando des Generals Mardonios zurück. Dieser unterbreitet Athen ein Angebot. Wenn die Stadt kapituliert, bleiben ihre die Bewohner verschont, ja, Athen würde von Xerxes' Gnaden sogar als führende Macht über alle Griechen eingesetzt werden. Athen lehnt ab - ganz nach Herodots Ideal der Freiheitsliebe.

Buch 9 (Kalliope, Muse der Epik): Nach Zurückweisung des persischen Vorschlags, fällt das rebellische Athen innerhalb von nur zwei Jahren den wütenden Okkupatoren zum zweiten Mal in die Hände und wird verheert. Die Spartaner greifen nicht ein. Stattdessen stellt sich ihr Anführer Pausanias samt den verbliebenen athenischen Truppen bei Platäa zur Schlacht. Die Griechen siegen wider Erwarten. Wenig später gelingt es ihnen, die bei Mykale (Kleinasien) im Hafen liegende Flotte der Perser durch einen Überraschungsangriff zu vernichten - eine Art antikes Pearl Harbor. Damit endet 479 v. Chr. der 2. Perserkrieg. Die Macht des Großkönigs Xerxes in Europa ist gebrochen, der Niedergang des persischen Weltreichs setzt allmählich ein. Herodot sieht in all dem die ordnende Macht der Nemesis, welche den Hochmut und Sittenverfall der Perser bestraft und den demütigen Griechen den Sieg beschert.

Die vom Marixverlag 2004 neu aufgelegten "9 Bücher zur Geschichte" sind trotz des stolzen Volumens von über tausend Seiten (inklusive umfangreichem Anhang von Anmerkungen) leicht zu lesen. Herodots unbekümmerter, im positiven Sinne naiver, mit Legenden gewürzter Stil, bereitet Lesefreude. Obwohl von Informationen und Fakten überbordend, kommt selten Langeweile auf. Und wenn doch, weckt meist schon die nachfolgende Begebenheit wieder die Neugier.

Dem Rezensenten besonders gefallen hat die Geschichte über König Kandaules von Sardes. Des Herrschers größter Stolz ist seine schöne Frau. Gerne präsentiert er sie in der Öffentlichkeit. Diese Prahlerei geht soweit, dass er den getreuen Untertanen Gyges - gegen dessen Willen - dazu veranlasst, des Nachts in das Schlafgemach der Königin zu steigen, sich dort zu verstecken und zu warten, bis diese ihre Kleider ablegt. Kandaules will ihm vor Augen führen, dass er die schönste Frau auf Erden sein eigen nennt. Doch der selbstsüchtige Herrscher macht die Rechnung ohne seine Gemahlin. Sie ertappt Gyges beim Voyeurismus und stellt ihn vor die Wahl: Entweder er räche ihre Schmach und erdolche Kandaules oder er müsse selbst sterben. Als Anreiz verspricht sie ihm ihre Hand und den Thron. Gyges geht auf das Angebot der namenlosen Schönen ein und tötet Kandaules. Seine Rechtmäßigkeit als neuer Herrscher wird vom Orakel zu Delphi bestätigt; ein Zeichen, dass die Götter den Tod des hochmütigen Kandaules begrüßen. Eine wunderbare moralische Parabel wider Geltungssucht und Eitelkeit, die Herodot auch Eingang in den Oscar prämierten Streifen "Der englische Patient" finden ließ.

(lostlobo; 05/2004)


Herodot: "9 Bücher zur Geschichte"
Marixverlag, 2004. 
ISBN 3-937715-09-6.
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