Cicero: "De re publica / Der Staat"
"Deshalb: da das Gesetz das Band bürgerlicher Gemeinschaft ist, Recht aber die Gleichheit des Gesetzes, mit welchem Rechte kann die Gemeinschaft der Bürger behauptet werden, wenn die Bedingung der Bürger nicht gleich ist? Wenn man nämlich die Vermögen gleichzumachen nicht gewillt ist, wenn die Begabungen aller nicht gleich sein können, müssen sicherlich wenigstens die Rechte derer unter sich gleich sein, die Bürger in demselben Gemeinwesen sind. Was ist denn der Staat, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft der Bürger?"
(Marcus Tullius Cicero;
"Der Staat", Erstes Buch)
Als Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v. Chr.) während
der Jahre 54 bis 51 seine beiden großen Werke "Über den Staat" ("De re publica")
und "Über die Gesetze" ("De legibus") verfasste, war Rom schon lange nicht mehr
jener ideale Staat der Vorfahren, gleichsam erwachsen aus der Klugheit ebenso
gutwilliger wie tugendhafter Männer, von dem er, im ersteren Buch, in
dramatischer Inszenierung schwärmt und zu dessen Rettung er mit wortgewaltiger
Gebärde aufruft. "De re publica" ist - obgleich ohne offenkundigen Bezug zu
Ciceros Gegenwart - die Diagnose einer in aktuellen Umständen begründeten
innenpolitischen Krisenlage, die, im Zusammenhang mit der Machtergreifung des
als selbstsüchtig charakterisierten
Julius Caesar, von konservativen Anhängern
patriarchalischer Staatsverfassung als Verfall von römischer Tugend und somit
als tödliche Gefahr für den Gesamtstaat umschrieben wird. Anstelle des von
Cicero propagierten "Konsens der Gutwilligen", deren konservative Programmatik
sich auf die griffige Formel "Ruhe mit Würde" ("oitum cum
dignitate")
zurückführen lässt, trat auch historisch das Triumvirat des Jahres 60 mit
Pompeius, Crassus und Caesar, welchen es beliebte den altehrwürdigen Senat nach
Lust und Laune zu demütigen. Den Herrschaftsprivilegien der reaktionären
Aristokratie und des eingesessenen Amtsadels läuteten diese, sich selbst so
benennenden, "Volksfreunde" die Totenglocken, Caesar errichtete seine Tyrannis
und fiel durch den Dolch des Verschwörers Brutus, welcher, mit noch kaum
geronnenem Blut befleckt, im Taumel republikanischer Euphorie den Namen Ciceros
skandierte, wie auch Cicero selbst schlussendlich in den politischen Wirren nach
Caesars Ermordung, am 7. Dezember 43, ein gewalttätiges Ende fand. Ungehört war
sein Appell um Wahrung von Eintracht, concordia, verhallt.
Ciceros "Der
Staat" ist nicht, wie etwa
Platons "Politeia", die Fantasie eines utopischen
Ideals, sondern die Beschreibung der Wirklichkeit des idealen Staates,
verkörpert im römischen Staat der Vorfahren, der neuerdings durch das maßlose
Machtstreben einer Gruppe von Populisten gefährdet scheint. Die Harmonie der
Eintracht wird durch Zwietracht gestört, und so ertönt, gleichsam zwischen den
Zeilen, eine Mahnung an gutwillige Angehörige der Aristokratie dieses in seiner
vernünftigen Geordnetheit bedrohte Rom nach Maßgabe von "De re publica" zu
reformieren und vor dem Zugriff ruchloser Machtmenschen zu bewahren. Die Römer
verstanden zur ihrer Zeit die brisante Botschaft dieses Buches sehr wohl, das
dann auch, gleich nach seiner Veröffentlichung im Frühjahr 51, wie eine Bombe
einschlug.
In einem historischen Abriss - beginnend mit dem Gründervater
Romulus - schildert Cicero die Herausbildung
des besonderen Adels römischen Wesens, welches seiner überlegenen Gesittung
wegen keiner utopischen Entwürfe zur Verbesserung bedürfe, sondern lediglich,
in seiner vergleichsweise unübertrefflichen Verfasstheit, vor dem Streben "maßloser
Männer" sowie revolutionärer Hitzköpfe
beschützt und von deren Verunreinigungen gesäubert werden müsste. Fragen nach
der Gerechtigkeit und ihrer Herkunft aus Natur und/oder Vernunft werden von
Cicero in weiterer Folge ebenso thematisiert wie die verschiedenen Formen der
Herrschaft (Königtum, Aristokratie
und Volksherrschaft) und ihre Entartungen, wobei sich in weiser Voraussicht
eine Mischform empfiehlt, des Weiteren die Idee des gerechten Imperialismus
(Unterwerfung von Völkern unter die Kraft und Vernunft römischer Moral) im Unterschied
zum bloßen Raub- und Eroberungskrieg (Caesars
Gallienfeldzug) und nicht zuletzt die Charakterkunde des optimalen Staatsmannes,
welcher tugendhaft, rechtskundig, mutig, fleißig und gelehrt sein sollte und
die Bürger zu einer Art von Gesetzestreue erzieht, die nicht aus Furcht vor
Strafe, sondern aus Scham über das Unrecht ihren edlen Eifer erlangt. Und ganz
generell ist es die Pflicht eines jeden zum Dienst in einer Staatsfunktion berufenen
Mannes, das Wohl des Gemeinwesens stets im Auge zu haben, nicht vor möglichen
Gefährdungen zurückzuschrecken und immer bereit zu sein, sein eigenes Wohl und
seine persönliche Sicherheit für das Vaterland zum Opfer darzubringen.
Das Gemeinwohl geht vor! Cicero verhielt sich diesem
Wahlspruch selbst gemäß, indem er schon als junger Anwalt, mit außerordentlicher
Sprachgewalt begnadet und ohne Rücksichtnahme auf die eigene Person, für die
Prinzipien von Menschlichkeit und Gerechtigkeit ins Feld zog, durch die sich der
Herrschaftsanspruch des römischen Staates nach seinem Dafürhalten erst
legitimierte. Korruption fand in seinen Augen keine Gnade, solcherart Cicero
schon als junger Bediensteter der römischen Finanzverwaltung den
verbrecherischen Provinzstatthalter von Sizilien vor das zuständige Gericht in
Rom brachte (70 v. Chr.), wobei er als Vertreter der Anklage in einem scheinbar
ungleichen Ringen gegen einen Vertreter römischer Herrschaftsausübung, zum
Nutzen der Ausgebeuteten und des römischen Staates, einen fulminanten Triumph
einfuhr. Eine grandiose Karriere ließ Cicero schon im zarten Alter von
dreiundvierzig Jahren die höchste Funktion im Staat, das Konsulat (63 v. Chr.)
einnehmen, doch korrumpierte ihn der
steile Aufstieg nicht, denn sein Lebtag lang blieb alles politische Sinnen und
Trachten Ciceros auf die Wahrung von Sitte, Recht und Anstand gerichtet, weil
anders, denn als Wirklichkeit der sittlichen Idee, der römische Staat in seiner
spezifisch geschichteten und imperialen Existenz einfach nicht zu rechtfertigen
war. Das Grundgesetz zur römischen Staatsverfassung war Cicero heilig, ein
Verstoß dagegen gleichbedeutend mit einem Anschlag gegen die höchstpersönlichen
Existenzgrundlagen des Einzelmenschen. Eindeutig dann auch sein Wahlspruch zum
Ethos des Staatsbeamtenstands: "Der Staatsdienst muss zum Nutzen derer geführt
werden, die ihm anvertraut sind, nicht zum Nutzen derer, denen er anvertraut
ist."
Sein, vom Geist leidenschaftlichen Engagements durchtränktes Schrifttum ist
der Nachwelt leider nur fragmentarisch überliefert, denn ein Großteil der sechs
Bücher "De re publica" ging zwischenzeitlich verloren und lässt sich gerade
noch über Heranziehung von Sekundärliteratur rekonstruieren, die sich, etwa
bei Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.), kritisch
mit der - weil offenbar nur allzu hinfälligen - Idee des "besten Staates" auseinandersetzt,
doch ergibt sich solcherart immerhin ein kompaktes Bild einer Staatsphilosophie,
die in realen Gegebenheiten ihren Gegenstand sucht und, dieser Diesseitsbezogenheit
wegen, dem Adressaten gebietet, sich in das Hier und Jetzt, mit bester Absicht
und unter Hintanstellung der eigenen Person, einzubringen und sich nicht in
epikureischer Verweigerungshaltung aller politischen Mühsal zu versagen. (Anmerkung:
Die in Rom populäre Philosophie des Griechen
Epikur stand in schroffer Opposition zu Ciceros
Staatsvergötterung. Als schärfste Gegenposition sind die Epikureer in Ciceros
Werk allgegenwärtig, wenn auch, aus philosophischem Hochmut, nie ausdrücklich
angesprochen.) In einem gewissen Sinne handelt es sich somit also auch um eine
Philosophie der Pflichterfüllung, welche dem egozentrischen Gemüt unserer Tage
verdächtig, unzeitgemäß und spaßwidrig erscheinen muss. Und eben deswegen lohnt
sich eine nähere Befassung mit dem konservativen Vorkämpfer für Menschlichkeit
und Gerechtigkeit, welcher Cicero nun einmal bis zur Selbstverleugnung war.
Ciceros "Der Staat" ist nicht nur bloße Staatstheorie, eine unumgängliche Pflichtlektüre für angehende Absolventen der Politikwissenschaft, sondern stellt ganz fundamental die Frage nach dem richtigen Zusammenleben der Menschen innerhalb des Gefüges einer von Prinzipien der Menschlichkeit und der Vernunft durchdrungenen Staatsverfassung. Ein Thema von allgemeinem Interesse, das im Grunde jeden etwas angeht, zumal auch den Auswirkungen öffentlicher Angelegenheiten niemand entrinnen kann. Oder mit den Worten Ciceros gesprochen: "Es ist also der Staat (res publica) die Sache des Volkes (res populi)."
(Tasso; 08/2003)
Cicero: "De re
publica / Der Staat"
Lateinisch-deutsch.
Herausgegeben und übersetzt von K.
Büchner.
Mit Einführung, Verzeichnis der Eigennamen und
Literaturhinweisen.
Artemis & Winkler, 1994. 404 Seiten.
ISBN 3-7608-1653-3.
ca. EUR 36,-.
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